Photo: Steffen Zahn from Flickr (CC BY 2.0)

Von Justus Lenz, Leiter Haushaltspolitik bei Die Familienunternehmer/Die Jungen Unternehmer

50,1 Prozent – das ist nicht etwa die Staatsquote in Deutschland (die liegt aktuell laut Bundesfinanzministerium bei 44 Prozent). Nein, es handelt sich um die Wahlbeteiligung bei der jüngsten Landtagswahl in Bremen. In den vergangenen Jahren gab es natürlich auch höhere Beteiligungsraten – die Tendenz ist jedoch deutlich rückläufig. Dies gilt gerade auch für Kommunalwahlen. Je höher die Quote der Nichtwähler, desto lauter das Lamentieren über die niedrige Wahlbeteiligung. Die einen schütteln resigniert den Kopf über die Menschen, die einfach nicht begreifen wollen, wie wichtig das Wählen ist. Die anderen wollen gleich eine Wahlpflicht durchsetzen.

Trotz aller Empörung: Vielleicht verhalten sich die Menschen einfach nur rational, wenn sie nicht zur Wahl gehen? Ein möglicher Grund hierfür könnte unser komplexes und verworrenes föderales System sein. Zurzeit gibt es keine klare Zuordnung von Entscheidungskompetenzen auf die verschiedenen Ebenen, wodurch die politische Verantwortung verschwimmt. Politiker können sich leicht hinter anderen Ebenen verstecken, während die Bürger die Folgen politischer Handlungen kaum mehr nachvollziehen können. Vor allem können sie in solch einem System die Folgen politischer Handlungen mit ihrer Wählerstimme kaum noch belohnen oder bestrafen. Die Wählerstimme verliert massiv an Wert.

Geprägt wird diese ineffiziente Anreizstruktur vor allem auch durch die verflochtenen Finanzbeziehungen. Das regionale Steueraufkommen wird über mehrere Stufen – eine davon ist der eigentliche Länderfinanzausgleich – so lange umverteilt, bis die Unterschiede nivelliert, ja teilweise umgekehrt werden. Gleichzeitig fehlt den Ländern die Autonomie, über ihre Ausgaben und Einnahmen selbst zu bestimmen. Stattdessen entscheidet der Bund beispielsweise über die Höhe der Steuersätze bei der Erbschaftsteuer, die dann an die Länder fließt. Die Situation der Kommunen ist vergleichbar. Auch sie haben nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten, über die Höhe ihrer Einnahmen zu entscheiden. Auf der Ausgabenseite kann der Bund sowohl Ländern als auch Kommunen Zusatzlasten aufbürden, ohne für deren Finanzierung zu sorgen.

Die Vereinfachung der komplexen föderalen Finanzbeziehungen würde sicher nicht von heute auf morgen zu rasant steigenden Wahlbeteiligungen führen. Aber die Transparenz von politischen Entscheidungen würde so gestärkt und damit auch die demokratische Kontrolle. Dies könnte die Attraktivität von Kommunal- und Landtagswahlen deutlich steigern.

Praktischerweise müssen die föderalen Finanzbeziehungen ohnehin bis 2020 neu geordnet werden. Der Länderfinanzausgleich läuft Ende 2019 aus, ebenso der Solidarpakt II. Zugleich tritt die Schuldenbremse ab 2020 für die Bundesländer in Kraft. Diese historisch einmalige Situation sollten wir nutzen, um unsere Demokratie zu stärken. Die große Koalition könnte hier zeigen, dass sich das Adjektiv „groß“ nicht nur auf die Zahl der Sitze im Bundestag bezieht, sondern auch auf den politischen Gestaltungswillen.

Photo: Tommy Hemmert Olesen from Flickr (CC BY-ND 2.0)

Sind Tsipras und Varoufakis verrückt oder steckt hinter ihrem Vorgehen doch eine Strategie? Ersteres überwiegt derzeit in der Berichterstattung. Sie seien unberechenbar, unfähig und undankbar, wird überall gerufen. Die beiden Griechen hätten gar keine Strategie, sondern würden nur pokern und die Wirklichkeit würde sie jeden Tag aufs Neue einholen. Doch vielleicht steckt dahinter doch eine Strategie, die in zwei Phasen abläuft.

Die erste Phase vollzog sich direkt nach dem Wahlsieg Anfang des Jahres. Varoufakis und Tsipras bereisten die Hauptstädte Europas, um zu sondieren, ob eine Mehrheit im Euro-Club für eine große Schuldenkonferenz möglich sei. Beide wollten die unter der Last ihrer Schulden ächzenden Länder Italien, Spanien und Portugal für ihr Anliegen gewinnen. Der Versuch, den Euro-Club auseinander zu dividieren, misslang sehr schnell. Sowohl in Rom und Madrid als auch in Lissabon holte sich Tsipras eine Abfuhr.

Seitdem verfolgen sie die zweite Phase ihrer Strategie, die zum Austritt Griechenlands aus der Eurozone führen soll. Schon seit die Regierung Anfang des Jahres ins Amt kam, wurde eigentlich nichts getan, um die Einnahmen des griechischen Staates zu erhöhen und die Ausgaben zu senken. Teilweise ist sogar das Gegenteil erfolgt, indem bereits entlassenes Personal wieder eingestellt wurde. Anders als die Vorgängerregierungen hat die aktuelle nicht einmal den Schein gewahrt, sondern hat einfach nichts gemacht. In dieser Phase ging es nur darum, Zeit zu gewinnen. Dabei wurden Zugeständnisse gemacht und wieder zurückgezogen, Vereinbarungen getroffen und wieder gebrochen, um anschließend in unzähligen Sondersitzungen weiter zu beraten. Bis dahin hat sich die griechische Regierung mit kurzlaufenden Anleihen über Wasser gehalten, so genannten T-Bills, die von den nationalen Banken gekauft wurden, die wiederum dieses Geld über Ela-Kredite von ihrer Notenbank erhalten haben.

Letzte Woche wurde nun bekannt, dass Angela Merkel in letzter Minute Tsipras ein 3. Hilfspaket, eine faktische Umschuldung und ein Investitionsprogramm in Höhe von 35 Milliarden Euro angeboten habe. Und dennoch verfolgte Tsipras das Ziel, den IWF-Kredit am 30.6. nicht zurückzuzahlen und seine Volksabstimmung durchzuführen.

Warum, muss man sich fragen. Wenn es eine Umschuldung durch eine Zinsreduktion und vielleicht sogar eine Verlängerung der Kredite gegeben hätte, wäre dies einem Schuldenschnitt gleichgekommen. Ein Investitionsprogramm von 35 Milliarden wäre ein erneuter Marshall-Plan für Griechenland gewesen. Und ein drittes Hilfspaket wurde ohne die Erfüllung des zweiten plötzlich doch möglich. Faktisch hat Merkel all das angeboten, was die griechische Regierung in anderen Worten über Monate verlangt hat. Eigentlich hat Tsipras das Chicken Game auf ganzer Linie gewonnen. Wieso schlägt er dennoch nicht ein?

Eine logische Erklärung ist, dass er etwas ganz anderes will. Er will eine Situation schaffen, in der Griechenland aus dem Euro austreten kann, ohne dass dies ihm und seiner Partei angelastet wird. Tsipras und Varoufakis wissen, dass ein solcher Plan in der griechischen Bevölkerung nicht beliebt wäre, und der restliche Euro-Club ebenfalls kein Interesse daran hat. Gilt doch das Merkelsche Dogma: „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa“.

Wie häufig in der Geschichte kommt es auf die Frage an, wem am Ende die Schuld gegeben wird. Dreht die EZB die Ela-Kredite zu, schließen die Banken und kommen Kapitalverkehrskontrollen – wer ist dann daran schuld? Ist es die linke Regierung oder sind es Merkel und Schäuble? Es geht also um die Frage, welche Geschichte später erzählt wird. Ein Austritt aus dem Euro, bei dem die Syriza-Regierung der Troika, Merkel und Schäuble die Schuld geben kann, ist vielleicht die einzige Chance für das politische Überleben von Tsipras und Varoufakis. Und genau darum geht es. In ihren Augen ist der Euro ein Korsett, der nach deutschem Vorbild geschaffen wurde und das für Griechenland ungeeignet ist. Tsipras ist Sozialist, Varoufakis ist ebenfalls ein sozialistischer Ökonom, der sicherlich näher bei Keynes als bei Milton Friedman ist. Wenn das so ist, wollen Sie den Zugriff auf die Geldpolitik der eigenen Notenbank gewinnen, um hierüber eine eigene Konjunkturpolitik zu betreiben. Sie wollen nicht von Draghi und Weidmann abhängig sein, sondern darauf selbst direkt Einfluss nehmen. Das setzt aber natürlich voraus, dass Griechenland ausscheidet.

Deshalb wird der Vorschlag einer Parallelwährung des deutschen Ökonomen Thomas Mayer aktuell. Mayer hat sein Konzept vor einigen Wochen bereits Tsipras und Varoufakis in Athen vorgestellt. Es sieht vor, dass die griechische Regierung ihre Beamten und Angestellten mit Schuldscheinen bezahlt, die dann handelbar werden und aus denen sich eine Parallelwährung entwickelt.

Das Konzept ist nicht deshalb aktuell, weil dadurch ein gleitender Übergang vom Euro zu einer neuen Währung möglich wird. Denn die Abwertung dieses Geuros würde ebenso schnell verlaufen, wie ein direkter Übergang zu einer neuen Währung. Hier gilt das alte Gesetz: Das schlechte Geld verdrängt das gute. Die Euros werden gehortet und die Geuros werden so schnell wie möglich ausgegeben. Aber das Parallelwährungskonzept von Thomas Mayer hat für Tsipras und Varoufakis den Vorteil, dass sie nicht selbst den Bruch mit dem Euro-Club erklären müssen, sondern die EZB und die Staatengemeinschaft immer mehr Maßnahmen ergreifen müssen, die dazu führen, dass Griechenland aus dem Euro hinausgedrängt wird. Damit können Tsipras und Varoufakis der EZB, Schäuble und Merkel von Tag zu Tag mehr die Schuld in die Schuhe schieben.

Der Nachteil an diesem Plan ist, dass ich persönlich immer angenommen habe, dass Tsipras den aufgeweichten Vorschlägen von Merkel am Ende zustimmen wird. Deshalb habe ich schon vor einigen Wochen angekündigt, dass ich „einen Besen fressen werde“, wenn die Insolvenz und der Austritt Griechenlands aus dem Euro stattfindet. Dass Tsipras ein ganz anderes Chicken Game spielt, konnte ich mir nicht vorstellen. Das ist für mich persönlich nur schwer zu verdauen!

Erstmals erschienen auf Tichys Einblick.

Photo: Antoine Gady from Flickr (CC BY-ND 2.0)

Wohlstand, das Gefühl der Sicherheit, das „richtige“ Leben führen – das sind alles Dinge, die uns glücklich machen können. Doch wer kann uns dazu verhelfen? Die Politiker, auf die immer so gerne geschimpft wird? Oder vielleicht doch eher wir selbst?

Im Zweifel für den bequemen Weg

Sie sorgen dafür, dass die Ungleichheit beseitigt wird. Sie schützen uns vor Terroristen. Sie retten die benachteiligten Arbeiter vor gierigen Arbeitgebern. Sie helfen uns, vor dem Einkaufsregal die richtigen Entscheidungen zu treffen. Dies sind jedenfalls die Eindrücke, die Politiker gerne erwecken. Obwohl man sich vom Stammtisch bis in die Hörsäle über Politiker mokiert, legen doch die Wahlergebnisse den Schluss nahe, dass es sich dabei eher um ein Ritual handelt. Im Zweifel ist das Gefühl des Versorgtseins doch sehr bequem.

Man leistet sich den herablassenden Blick auf Politiker, aber lässt sie weiter gewähren, nicht zuletzt weil sich in deren buntem Angebots-Portfolio immer irgendwo ein paar Punkte finden, von denen man selber profitieren könnte. Der eine schimpft darauf, dass die Politik von der Unternehmenslobby ferngesteuert wird, freut sich aber über staatliche Preiskontrollen wie den Mindestlohn oder die Mietpreisbremse. Der andere beschwert sich über die hohe Steuerlast, ist aber froh, dass mit dem Tarifeinheitsgesetz Herrn Weselsky endlich mal gezeigt wird, wo der Hammer hängt. Und ein dritter empört sich über die „Genderideologie“ in staatlichen Lehrplänen, applaudiert aber kräftig, wenn das Schengen-Abkommen zur Disposition gestellt werden soll.

Die Versorgungsmentalität offenbart mangelndes Selbstvertrauen

Die Mischung aus Sicherheitsbedürfnis, Bequemlichkeit und dem Verfolgen eigener Interessen macht uns anfällig dafür, trotz allen Nörgelns wieder und wieder Politikern freie Hand zu gewähren. Sie mögen uns nicht unbedingt sympathisch sein, aber sie nützen uns. Der genauere Blick auf diese – sich durchaus nicht nur monetär manifestierende – Versorgungsmentalität offenbart eine grundlegende Schwäche, nämlich mangelndes Selbstvertrauen. Das Gegenteil der Haltung, von Politikern Unterstützung für die eigenen Interessen, Präferenzen und Überzeugungen zu erwarten und einzufordern, besteht darin, selber die Dinge in die Hand zu nehmen.

Politik kommt nicht umhin, sich des Mittels des Zwangs zu bedienen. Sicher kommt der in freiheitlichen Demokratien weniger hart daher als in Despotien und Diktaturen. Aber auch in Rechtsstaaten gilt: Wer sich etwas von der Politik erhofft, sollte sich zumindest dessen bewusst sein, dass sein Ziel nicht gänzlich ohne Zwang erreicht werden kann. Dem gegenüber steht die unternehmerische Haltung. (Und dieser Ansatz erfordert durchaus nicht ein Startkapital und einen Gewerbeschein – jeder kann sich unternehmerisch verhalten!)

Glücklich machen wir uns selbst, indem wir uns etwas aufbauen

Die unternehmerische Haltung bedeutet, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Klar, nicht jedes Problem, das die Politik zu lösen verspricht, kann ein einzelner bewältigen. Aber er kann versuchen, das Problem mit Hilfe von Kreativität und Kooperation selber zu lösen. Er sollte zunächst auf sich selbst und seine Mitmenschen vertrauen, ehe er die Waffen streckt und den Staat zuhilfe holt. Wer an Politikern herumnörgelt, um dann schließlich doch wieder nach ihnen zu rufen, offenbart letztlich eine negative und destruktive Attitüde, die in Bequemlichkeit mündet. Eine positive, selbstbewusste und konstruktive Attitüde beweist der, der nicht nörgelt, sondern selber anpackt.

Es ist die Attitüde, die Haltung, die letztlich darüber entscheidet, ob wir glücklich werden. Nicht die Privilegien, die ein Politiker uns gewährt, machen uns glücklich, auch wenn sie kurzfristig ein Bedürfnis befriedigen mögen. Glücklich machen wir uns selbst, indem wir uns etwas aufbauen. Wenn wir am Ende des Tages feststellen können, dass wir unsere Ziele nicht durch die Gunst anderer erreicht haben, sondern weil wir kreativ waren und mit anderen zusammengearbeitet haben.

„Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muss“

Vor etwa 90 Jahren brachte der Ökonom Ludwig von Mises diesen Unternehmergeist auf den Punkt:

„Kaum einer unter Millionen erreicht im Leben das, was er angestrebt hat. Der Erfolg bleibt selbst für den vom Glück Begünstigten weit hinter dem zurück, was ehrgeizige Tagträume in der Jugend hoffen ließen. An tausend Widerständen zerschellen Pläne und Wünsche, und die eigene Kraft erweist sich zu schwach, um das zu vollbringen, was ihr der Geist zum Ziel gesetzt hat. Das Versagen der Hoffnungen, das Misslingen der Entwürfe, die eigene Unzulänglichkeit den gestellten und selbstgesetzten Aufgaben gegenüber sind jedermanns größtes und schmerzlichstes Erlebnis, sind das typische Menschenschicksal.

Auf zweifache Art kann der Mensch auf dieses Schicksal reagieren. Den einen Weg weist die Lebensweisheit Goethes. ‚Wähntest du etwa, ich sollte das Leben hassen, in Wüsten fliehen, weil nicht alle Blütenträume reiften?‘ ruft sein Prometheus. Und Faust erkennt im ‚höchsten Augenblick‘, dass ‚der Weisheit letzter Schluss‘ sei: ‚Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muss‘. Solchem Willen und Geist kann kein irdisches Missgeschick etwas anhaben; wer das Leben nimmt, wie es ist, und sich nie von ihm niederwerfen lässt, bedarf nicht des Trostes durch eine Lebenslüge, zu der sein gebrochenes Selbstbewusstsein flüchtet. Wenn der ersehnte Erfolg sich nicht einstellt, wenn Schicksalsschläge das mühsam in langer Arbeit Erreichte im Handumdrehen vernichten, dann vervielfacht er seine Anstrengungen.“

Photo: Initiative D21 from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Angela Merkel hat es heute beim 70. Geburtstag der CDU gerade nochmals gesagt: „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa.“ Sie hat in den letzten Tagen und Wochen lange zugewartet. Keiner sollte ihr vorwerfen, das Euro-Projekt würde an ihr oder Deutschland scheitern. Deshalb haben sie und Schäuble die Rollen intern verteilt. Schäuble, der harte Hund, sollte öffentlich Druck machen und sie wollte generös die Scherben, die Schäuble zurückgelassen hat, wieder einsammeln.

Das schien auch fast zu klappen. Erst letzte Woche hatte sie den Gipfel der Staats- und Regierungschefs am zurückliegenden Samstag als entscheidendes Datum genannt. Zwischenzeitlich wurde der griechischen Regierung nochmals eine halbjährige Verlängerung des Programms angeboten. Das war perfekt inszeniert. Die Königin im Schachspiel um den Euro wollte erst ganz am Schluss den entscheidenden Zug machen.

Doch er misslang. Tsipras reagierte mit einer Rochade und wechselte einfach den Platz, indem er eine Volksabstimmung für kommenden Sonntag ankündigte. Jetzt ziehen die EZB und die Staatengemeinschaft die Daumenschrauben weiter an. Bankferien, Kapitalverkehrskontrollen und das Einfrieren der Ela-Kredite sollen Tsipras und Co. weidwund schießen.

Die taktische Überlegung dahinter ist: wenn erstmal einige Tage lang die Bargeldversorgung zusammenbricht, werden die Griechen schon aufstehen und ihre Regierung in die Wüste schicken. Nach dem Motto: das Hemd ist uns näher als der Rock.

Dass Merkel ihren berühmten Satz heute nochmals wiederholt hat, zeigt, dass sie doch nicht so visionsfrei ist, wie man ihr gemeinhin unterstellt. Der Vorwurf lautet: Kohl und Schäuble seien überzeugte Europäer, die die politische Einigung Europas immer als ihre Vision verstanden hätten. Dagegen ginge es Merkel nur um die Macht im Jetzt.

Diese Analyse über Merkel ist zu kurz gesprungen. Auch für sie ist der Euro nicht nur ein Zahlungsmittel, eine Währung oder eine ökonomische Größe. Auch für sie ist der Euro ein politisches Projekt, die Krönung der europäischen Idee und der Garant für den Frieden in Europa. Darin unterscheidet sie sich weder von Schäuble noch von Kohl. Im Gegenteil, sie vollzieht diesen Kurs der Unumkehrbarkeit noch entschiedener und noch konsequenter.

Doch dieser Kurs hat seine Tücken und verursacht unweigerlich Kollateralschäden, die der Bundeskanzlerin noch schwer zu schaffen machen werden. Auf der einen Seite will sie das Heft über den von ihr und Francois Hollande dominierten Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs in der Hand behalten, auf der anderen Seite führt ihr Kurs aber zu einer immer größeren Verlagerung von Kompetenzen hin zur Europäischen Kommission und zum Parlament. Auf die Politik von Kommission und EU-Parlament hat sie jedoch nur mittelbar Einfluss.

Deshalb führt ihre Politik des „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa“ unweigerlich zu einer schleichenden Kompetenzverlagerung hin zu Juncker und Schulz und deren Institutionen. Doch beiden institutionellen Ebenen fehlt die Kongruenz von Entscheidung und Verantwortung. Deren Entscheidungen und ihre finanziellen Auswirkungen tragen nicht die EU-Kommission und das EU-Parlament, sondern die nationalen Regierungen und Parlamente.

Die Konsequenz der Merkelschen Politik ist ein immer größeres Auseinanderfallen dieser Entscheidungsebenen. Wenn jedoch Entscheidungen zentralistisch getroffen werden, aber dezentral verantwortet werden müssen, führt dies unweigerlich zu Widersprüchen.

Das Beispiel Griechenland ist das jüngste. Es mag einige Zeit noch funktionieren. Doch der Preis ist die mangelnde Akzeptanz in der Bevölkerung der übrigen Euro-Staaten. Sie werden radikalisiert und die politischen Ränder werden gestärkt. Der europäischen Idee, die Merkel eigentlich voranbringen will, wird dadurch ein Bärendienst erwiesen. Deshalb wäre der Weg des Austritts Griechenlands aus dem Euro-Club der ehrlichere und aufrichtigere – auch um der europäischen Idee noch eine Chance zu geben.

Erstmals erschienen bei der Huffington Post.

Photo: Tony Webster from Flickr (CC BY 2.0)

Asyl für Edward Snowden forderte vor zwei Jahren eine Petition von Campact. Ehrenwert. Aber wer daraus schließt, dass Snowden ähnliche Überzeugungen vertritt wie Campact, liegt definitiv daneben. Er will einen beschränkten Staat – sie wollen einen Staat, der ihre Ziele verfolgt.

Gentechnik und höhere Steuern

Art und Ausmaß staatlicher Überwachung jenseits und auch diesseits des Atlantiks sind erschreckend. Das erkennen auch viele Aktivisten auf der linken Seite des politischen Spektrums. Die punktuelle, aber wiederholte Verletzung von Persönlichkeitsrechten haben sie ebenso als Problem erkannt wie die pauschale Dauerverdächtigung der Bürger. Ganz zu Recht schätzen sie den Mut Edward Snowdens, mit seinen Enthüllungen die Abgründe der Geheimdienste ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen. Und dennoch liegen Welten zwischen dem, was Campact sonst vertritt und fordert, und der Vorstellung, die Snowden von Staatstätigkeit hat.

Schaut man auf die Rubrik „Über Campact“ auf deren Website, dann kann man dort Forderungen finden wie: „Die Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen lehnen wir ab“ oder „Höhere Einkommen und Vermögen müssen stärker an der Finanzierung unseres Gemeinwesens und des Sozialstaates beteiligt werden“. Dies sind Ziele, die ein gerütteltes Maß an staatlicher Präsenz bedingen. Ein Verbot von Gentechnik kann nur mit massiver Behörden- und in der Konsequenz Polizeipräsenz durchgesetzt werden. Man muss dafür zwar keine Telefone abhören, aber doch Felder und Gewächshäuser überwachen. Auch die stärkere Beteiligung höherer Vermögen und Einkommen an der Finanzierung des Sozialstaats wird nicht ohne zum Teil massive Überwachung vonstattengehen können. Denn mit steigenden Steuern würde natürlich auch die Steuerflucht zunehmen.

Der Zweck heiligt die Mittel

Campact ist gegen die staatliche Überwachung, wenn sie pauschal und flächendeckend geschieht, wie etwa bei der Vorratsdatenspeicherung. So weit so gut. Aber viele ihrer Ziele können nur erreicht werden mit dem Einsatz von gezielter Überwachung, die freilich nicht weniger tief in Persönlichkeitsrechte eingreift als pauschale Überwachung. Gerechtfertigt wird dann dieser Eingriff in die Grundrechte der Bürger implizit mit der Überlegenheit des Ziels. Mit anderen Worten: der Zweck heiligt die Mittel. Gentechnik ist so bedrohlich, mehr Umverteilung so wünschenswert, dass staatlicher Zwang zum legitimen Mittel wird.

In einem freiheitlichen Rechtsstaat dürfen aber gerade nicht unsere persönlichen Präferenzen die Leitlinien der Gesetze sein, sondern einzig und allein der Schutz der Freiheit jedes einzelnen. Ein Gesetz, das aus einem anderen Grund erlassen wird, erodiert diesen Rechtsstaat und öffnet der Willkür Tor und Tür. Diese Gesetze, die durch Privilegien oder Verbote politische Ziele durchsetzen sollen, widersprechen zutiefst der Tradition, die wir in unseren freiheitlichen Demokratien über Jahrhunderte entwickelt haben: Dass das Recht immer den Primat über die Politik haben muss.

Wenn Regierungen mehr darüber nachdenken, was sie tun können als was sie tun sollten

Diesen Primat geben diejenigen auf, die wie Campact konkrete politische Ziele über Vorschriften, Verbote und Steuern durchsetzen wollen. Snowdens Ansatz ist da ein fundamental anderer. Er hat seinen sehr mutigen Schritt nicht getan, weil er sich irgendwie unwohl fühlte angesichts des Überwachungssystems oder weil es seiner persönlichen Präferenz entsprochen hätte, nicht überwacht zu werden. Er hat das Treiben der NSA enthüllt, weil er den Primat des Rechts bedroht sah. Lassen wir ihn selbst zu Wort kommen:

„Unsere Rechte werden uns nicht von Regierungen gewährt. Sie sind Teil unserer Natur. Für Regierungen liegt der Fall genau andersrum: deren Rechte sind einzig auf das beschränkt, was wir ihnen zugestehen. Wir haben uns mit diesen Fragen in den letzten Jahrzehnten nicht so ausführlich beschäftigt, weil sich unser Lebensstandard in fast jeder Hinsicht signifikant verbessert hat. Das hat zu Bequemlichkeit und Selbstzufriedenheit geführt. Doch wir werden im Laufe der Geschichte immer mal wieder in Zeiten geraten, in denen Regierungen mehr darüber nachdenken, was sie tun können als was sie tun sollten. Und was gesetzeskonform ist, wird dann immer stärker von dem abweichen, was moralisch ist. In solchen Zeiten tun wir gut daran, uns zu erinnern, dass nicht das Gesetz uns verteidigt, sondern wir das Gesetz. Und wenn es sich gegen unsere moralischen Maßstäbe wendet, haben wir sowohl das Recht als auch die Pflicht, es wieder auf den Pfad der Gerechtigkeit zu führen.“

Wer fordert, Gentechnik zu verbieten und Steuern zu erhöhen, der fordert in letzter Konsequenz eine Regierung, die – um Snowden zu zitieren – darüber nachdenkt, was sie tun kann. Campact und ihre Unterstützer täten gut daran, sich mit Snowdens Motivation etwas genauer auseinanderzusetzen. Der Staat, den er sich wünscht, ist nämlich ein möglichst schlanker Staat, der sich so weit wie möglich aus dem Leben der Bürger heraushält. Das wäre das Gegenteil von dem Staat, den wir hätten, wenn Campact sich mit seinen Vorstellungen durchsetzen würde.