Die Debatten um Bildung werden oft sehr einseitig geführt: es geht in aller Regel um mehr höhere Bildung. Man könnte bisweilen den Eindruck gewinnen, dass das Wohl der Kinder und Jugendlichen weniger im Fokus steht als die Durchsetzung der eigenen gesellschaftlichen Vorstellungen.

Bildungschancen – nicht Bildungszwang

Seit Jahrzehnten jagt eine Bildungsreform die andere. Nachdem zunächst seit den 60er Jahren an Schulen herum experimentiert worden war, rückten die Universitäten und Hochschulen im Laufe der 90er Jahre immer mehr in das Licht der Öffentlichkeit. Erklärtes Ziel der Reformen war es, mehr Akademiker hervorzubringen. Und hier liegt schon der fundamentale Denkfehler. Leute wie Ralf Dahrendorf forderten in der Diskussion vor fünfzig Jahren mehr Bildungschancen. Also die Möglichkeit, dass Menschen Zugang zu höherer Bildung bekommen, die es bis dahin sehr schwer hatten: Frauen, Arbeiterkinder, junge Menschen vom Land. Im Handumdrehen wurde aber aus der Möglichkeit eine Notwendigkeit.

Bereits der Vordenker vieler Bildungsreformen, Georg Picht, sah im Abitur die Norm und das (Mindest-)Maß aller Dinge. Dem haben sich weitere Gruppen angeschlossen: Die OECD, die in diesem Bereich seit langem mit ihren hochpolitisierten Standards und Vorgaben Deutschland im Nacken sitzt. Übereifrige Konzernchefs, die die Bachelor-Konkurrenz aus den USA und Großbritannien fürchten. Und natürlich wohlmeinende Politiker und Aktivisten aus dem linken Spektrum. Sie alle wollen mehr Abiturienten produzieren, mehr Studenten, mehr Hochschulabsolventen.

Gerechtigkeit ist nur individuell zu haben

Zugrunde liegt der Sehnsucht der Linken nach mehr Abiturienten eine pauschale Gerechtigkeitsvorstellung. Diese Vorstellung geht davon aus, dass Gerechtigkeit darin besteht, jeden gleich zu behandeln. Doch so funktioniert Gerechtigkeit nicht in einer Welt voller Individuen. Jeder Mensch hat unterschiedliche Fähigkeiten, Bedürfnisse, Qualitäten. Wenn man unter diesen Bedingungen alle gleich behandelt, verhindert man vor allem eines: dass Menschen richtig behandelt werden. Vollständige Gerechtigkeit wird nie zu erreichen sein. Aber auf jeden Fall wird man Menschen besser gerecht, wenn man sich den Einzelfall anschaut, als wenn man ein Einheitsrezept für alle herausgibt.

Was heißt das für die bildungspolitischen Debatten? Natürlich ist es eine große Errungenschaft, dass heute Frauen, Arbeiterkinder oder junge Menschen vom Land sehr viel leichter Zugang zu höherer Bildung haben als vor fünfzig Jahren. Aber die höhere Bildung ist nicht immer die richtige und passende Bildung. Inzwischen haben etwa 50 % eines Jahrgangs das Abitur. Das ist eine Verzehnfachung gegenüber 1950. Es ist vielleicht nicht völlig abwegig, zu hinterfragen, ob nicht unter diesen Abiturienten viele sind, die auch mit einer soliden Ausbildung erfolgreich und glücklich hätten werden können. Dass diese Frage schon beinahe als Beleidigung wahrgenommen wird, liegt vor allem an intellektueller Überheblichkeit.

Intellektuelle Überheblichkeit

Wir Menschen neigen dazu, uns selbst als Maßstab zu nehmen. Wer ein Weltbild hat, das vom Individuum als bestimmender Größe ausgeht, neigt vielleicht ein klein bisschen weniger dazu, weil er zumindest im Grundsatz anerkennt, dass der andere eben anders ist. Ob er besser oder schlechter ist, Besseres oder Schlechteres tut, kann tatsächlich nur rein subjektiv beurteilt werden – die objektive Sicht gibt es wohl nur in eng begrenzten ethischen Fragen. Darüber hinaus sicher nicht. Anders sehen das diejenigen, die sich schwer tun mit dem Blick auf das Individuum und die eher in Kollektiven denken. Für sie gibt es „mich“ oder „uns“ und „die“. Und das „ich“ oder „wir“ ist der Maßstab, nach dem sich „die“ zu richten haben.

Weil viele von ihnen wohlmeinende Menschen sind, wollen Linke oft das Beste für alle. Da sie aber dazu neigen, sich selbst zum Maßstab zu nehmen, glauben sie auch, dass dieses Beste ist, wenn man so wird wie sie. Und da sie ein Abitur haben, meist auch ein Studium absolviert haben, halten sie diesen Lebensentwurf für den objektiv besten. Oft ohne es zu wollen, legen sie dabei eine erschreckende Überheblichkeit an den Tag. Denn wer fordert, dass mehr Leute ein Abitur machen müssen, sagt damit implizit der Bürokauffrau, dem Schreinergesellen und dem Straßenbauarbeiter, dass sie und ihre Tätigkeit weniger wert sind. Sie wären nämlich besser dran, wenn sie studiert hätten.

„Die Bauernverbände der Neu-Akademiker“

Der Wert einer Arbeit hängt aber nicht notwendigerweise von der Qualifikation des Ausführenden ab. Und der Wert des Menschen selbst erst recht nicht. Das Abitur macht Menschen nicht glücklicher oder besser. Und, ja, auch ein volleres Portemonnaie ist noch kein Garant für Zufriedenheit. Wer glaubt, dass ein Abitur automatisch auch mehr Chancen bedeutet, vertritt letztlich ein materialistisches Weltbild. Glücklich macht nicht der dicke Gehaltsscheck oder der Doktortitel. Glücklich macht eine erfüllende Arbeit, die zu einem passt. Und glücklich machen darüber hinaus ganz besonders menschliche Beziehungen.

Ralf Dahrendorf beschrieb die Advokaten einer pauschalen Bildungsexpansion in einem Interview im Jahr 2008 als „die Bauernverbände der Neu-Akademiker“. Sie verteidigen ihre eigene Welt, die sie zum Maßstab für alle machen, mit derselben Vehemenz wie die Agrarlobby. Und in ihrer Verbissenheit übergehen sie diejenigen, deren Begabungen nicht darauf ausgerichtet sind, das Gymnasium zu besuchen. Wahrscheinlich werden jedes Jahr Zehntausende von jungen Menschen durch diesen Abitur-Automatismus in die Universitäten gespült, die ihre Fähigkeiten anderswo viel besser einsetzen könnten. Das ist aber genau das Gegenteil der klassenlosen Gesellschaft, die ja angeblich das Ziel sein soll. Klassenlos ist eine Gesellschaft erst dann, wenn jedes Individuum zählt. Wenn der Wert eines Menschen nicht durch seine Zugehörigkeit zur Klasse der „höher Gebildeten“ definiert wird. Der Abitur-Automatismus führt so nicht zu mehr Gerechtigkeit, sondern oft genug zu weniger.

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Die Erbschaft- und Schenkungsteuer sind uralte Instrumente der Staatsfinanzierung. Dabei sind sie gleichzeitig ein ziemlich absurdes Mittel, um Fürsorge und Solidarität zu erschweren. Wenn es Menschen stets mehr interessiert, inwiefern es dem Mitbürger besser geht als einem selbst, ist klar, dass die Perspektive nicht hinausgeht über die Feststellung: „Ererbtes Vermögen ist nicht verdient“. Es lohnt sich allerdings, einmal die Perspektive des Erblassers oder Schenkenden einzunehmen.

Ist Schenken ungerecht?

Wenn im Kindergarten Sandra einen Schokoriegel geschenkt bekommt und Christian nicht, dann kann das Geheul schon mal groß sein. In der Regel lernen wir mit der Zeit, mit solchen Situationen umzugehen. Wir verstehen, dass es im Leben nicht immer gerecht zugeht. Und manchmal begreifen wir sogar noch, dass Gerechtigkeit ohnehin unerreichbar ist. Allein schon, weil einfach jeder Mensch eine andere Vorstellung von Gerechtigkeit hat. „Das Leben ist kein Ponyhof“, sagte einmal der unvergessliche Bernd Stromberg. Manche der Ponyhof-Instinkte aus dem Kindergarten kommen aber doch immer wieder in uns hoch.

Wenn jemand ein Vermögen, ein Haus, eine Bildersammlung erbt, dann ist das im Verständnis von vielen Menschen ungerecht. Schließlich hat er nichts dafür geleistet. Das widerspreche der Leistungsgerechtigkeit. Oder in den Worten der Kanzlerin: „Wer arbeitet, muss mehr in der Tasche haben, als wenn er nicht arbeitet”. Doch selbst wenn das Finanzamt das komplette Vermögen eines Verstorbenen einziehen und Schenken ganz und gar verbieten würde, gäbe es immer noch viele Ungerechtigkeiten: die eine erbt das gute Aussehen ihres Vaters, der andere die Intelligenz seiner Mutter und jemand anderes hat das Glück, in einem Elternhaus aufzuwachsen, in dem viel gelesen und diskutiert wird. Müsste man dann konsequenterweise nicht auch diese Bastionen der Ungerechtigkeit schleifen?

Die Bauers werden daran gehindert, den Müllers zu helfen

Versuchen wir, uns einmal in den Erblasser oder den Schenkenden hineinzuversetzen. In einer Zeit, da zum Glück der letzte Krieg siebzig Jahre zurückliegt, gibt es nicht wenig Menschen, die ein recht umfangreiches Vermögen haben. Nehmen wir das kinderlose Ehepaar Bauer, die als Lehrer gearbeitet haben. Sie haben stattliche 110.000 Euro angespart im Laufe ihres Lebens. Ihre Nachbarn sind das freundliche junge Ehepaar Müller mit ihren drei Kindern. Diese junge Familie hilft ihren alternden Nachbarn wo es nur geht. Darum beschließen Bauers, die Müllers zu ihren Erben einzusetzen: „Die sind für uns doch wie unsere eigenen Kinder!“

Nachdem beide Bauers gestorben sind, bekommen die Müllers aber nur noch 83.000 Euro. 27.000 Euro gehen an das Finanzamt. Ob das wohl im Sinne der Bauers war? Sie haben sich das Geld schließlich redlich verdient und auch schon einmal versteuert. Sie wollten es komplett den Müllers geben – nicht nahezu ein Viertel an den Staat abdrücken. Bauers wussten, dass die Familie Müller die gesamten 110.000 Euro gut und sinnvoll hätten gebrauchen können: nicht nur, um die Hypothek abzubezahlen, sondern auch, um ihren drei Kindern ein Auslandsjahr zu finanzieren. Die Auslandsjahre liegen aber jetzt im Finanzamt.

Unterm Strich kommt kaum etwas raus

Viele Menschen denken wie die Bauers. Sie verzichten darauf, drei Kreuzfahrten im Jahr zu machen oder ihr Vermögen anderweitig aus dem Fenster zu werfen. Sie verzichten darauf, weil sie anderen Menschen damit etwas Gutes tun wollen. Sie möchten es ihren Kindern und Enkeln geben. Oder eben ihren netten Nachbarn. Das ist einer der Gründe dafür, dass sie hart gearbeitet haben und nicht andauernd in Saus und Braus gelebt haben. Menschen sind nicht prinzipiell Egoisten – zum Glück denken die meisten auch an andere. Erblasser sind nicht immer feiste, alte, schwerreiche Unsympathen. Sie sind Menschen wie unsere Großeltern oder Nachbarn. Und Erben sind nicht nur faule Schnösel im Golfclub. Oft genug sind es junge Menschen, die das Geld gut gebrauchen können.

Das Steueraufkommen aus der Erbschaft- und Schenkungsteuer betrug im Jahr 2013 4,2 Milliarden Euro. Angesichts eines Gesamt-Steueraufkommens von fast 620 Milliarden ist das ein Wert, der kaum ins Gewicht fällt (genau genommen 0,68 %). Selbst für einen knausrigen Finanzminister sind das eher Peanuts. Keine Peanuts dagegen sind die Steuern für diejenigen jungen Familien, die gerade ihre Existenz gründen oder für Familienunternehmer, die Verantwortung für ihre Firma tragen. Denen wird substantiell etwas weggenommen, das ihnen jemand schenken wollte, der sie gern mochte, sie geliebt hat, für sie sorgen wollte. Am Ende laufen die Erbschaft- und Schenkungsteuer darauf hinaus, Fürsorge zu besteuern. Davon haben übrigens auch diejenigen kaum etwas, die nichts erben. Außer vielleicht dem Gefühl, dass der andere jetzt doch nicht so viel bekommen hat. Aber eigentlich ist Neid auch kein schönes Gefühl. Unterm Strich kommt also von diesen Steuern nur bei denen wirklich etwas an, die gerne missgünstig sind. Eine traurige Bilanz. Es ist höchste Zeit, diese aberwitzige Steuer abzuschaffen!

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Montag ist es soweit. Dann sorgt EZB-Präsident Mario Draghi für eine Blutzufuhr der EZB von vorerst 1.140 Milliarden Euro in den Geldkreislauf. Er hat dieses Geld vorher nicht selbst gespart, sondern als oberster Zentralbanker kann er es aus dem Nichts schaffen. „Fiat Money“ nennen das die Kritiker. Er will so lange und so viel Geld aus dem Nichts schaffen bis er sein mittelfristiges Inflationsziel von 2 Prozent im Euro-Raum erreicht hat. Erreicht er dieses große Ziel – und davon kann man ausgehen –, verlieren Sparvermögen in 20 Jahren rund ein Drittel ihres Wertes und in 30 Jahren fast die Hälfte. Inflation ist die Vermögensteuer für den kleinen Mann, denn der legt sein Geld konservativ in Zinspapiere an. Und wenn die Schuldner durch die Zinsdrückerei Draghis immer weniger Zinsen bezahlen müssen, können diejenigen, die in diese Anlagen für ihre Altersvorsorge investieren, auch keine Zinsen mehr erwirtschaften.

Die Geldinflation ist Diebstahl an den Fleißigen. An denjenigen, die etwas sparen und zur Seite legen, in der Hoffnung, sie hätten im Alter mehr als diejenigen, die nur in den Tag hinein leben. Inflation ist schwerer Raub. Und der Täter ist zwangsläufig der Räuber. Ein Räuber ist jemand, der anderen ihr Eigentum stiehlt, um es sich und anderen gut gehen zu lassen. Genau das macht Mario Draghi. Er würde natürlich nie zugegeben, dass er die Fleißigen bestiehlt. Er begründet dies mit dem schleppenden Wachstum in Europa, mit dem Auftrag der EZB für Preisstabilität zu sorgen und mit der Notwendigkeit, den Regierungen in Südeuropa die Zeit zu geben, die notwendigen Reformen einzuleiten und umzusetzen. Doch das ist entweder falsch oder nur vorgeschoben. Eigentlich will er Macht. Er will die Geschicke Europas bestimmen. Er will mächtiger, einflussreicher und bestimmender sein als Jean-Claude Juncker oder Angela Merkel. Und er will der Bundesbank mit ihrer geldpolitischen Hegemonie in Europa endlich das Genick brechen.

Mario Draghi ist ein Räuber. Der Räuber der Sparbücher und Lebensversicherungen. All die konservativen Anleger, die nicht große Schwankungen der Aktienmärkte suchen, sondern vielleicht seit Jahrzehnten so sparen und bislang zufrieden waren, werden von ihm bestohlen. Für diese Bürger ziehen bereits dunkelste Wolken am Horizont auf. Sie werden um ihre Lebensleistung betrogen. Das steht heute schon fest.

Eigentlich müsste die Bundesregierung und die Bundesbank dagegen Widerstand leisten. Vielleicht sollte man Artikel 20 des Grundgesetzes bemühen. In Absatz 4: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung (gemeint ist die parlamentarische Demokratie und der Rechtsstaat) zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“ An diesem Widerstand führt bald kein Weg mehr vorbei.

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Das Grundgesetz regelt es in Artikel 38 Absatz 1, Satz 2 sehr klar: Sie (die Abgeordneten) sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.

Doch da fängt das Problem an. Abgeordnete des Deutschen Bundestages sind keine freischaffenden Künstler, sondern meist tief eingebunden in ihre jeweilige Partei- und/oder Fraktionsstruktur. Viele davon haben ihren Beruf aufgegeben oder hatten nie einen. Das führt bei Abstimmungen im Parlament zwangsläufig zu intensiven Abwägungsfragen mit dem eigenen Gewissen. Denn allen Abgeordneten ist eines bewusst: Die Legislaturperiode dauert maximal vier Jahre. Danach werden die Karten neu gemischt. Man will sich erneut von der eigenen Partei aufstellen lassen, muss sich gegen innerparteilichen Wettbewerber durchsetzen und der Wähler hat dann auch noch ein Wörtchen mitzureden.

Deshalb erzeugt unser Parteiensystem häufig den gleichen Typus Abgeordneter. Oft sind es Menschen, die schon sehr früh in die Jugendorganisation der jeweiligen Partei eingetreten sind, kommunalpolitische Erfahrungen gesammelt haben – und irgendwann ergab sich die Möglichkeit, für den Landtag oder den Bundestag zu kandidieren. Wenn man in der Zwischenzeit noch berufliche Erfahrung gesammelt hat, schadet das nicht, es ist aber auch nicht notwendig. Am liebsten sind den Partei- und Fraktionsspitzen Abgeordnete, die gut ausgebildet und einigermaßen intelligent sind, die Partei aus dem Effeff kennen und gerade ein kleines Häuschen für die junge Familie gebaut haben, das sie möglichst noch viele Jahre abbezahlen müssen – das diszipliniert im Zweifel.

Quereinsteiger in der deutschen Politik haben es sehr schwer. Sie schaffen es meist nicht, sich im innerparteilichen Vorauswahlverfahren gegen die Strippenzieher durchzusetzen. Und gelingt es dennoch einmal jemandem, dann scheitert er spätestens an den noch intensiveren Strippenziehern in der Fraktion. Auch wenn ich selbst ein Kind dieser Entwicklung bin, macht dies mir zunehmend Sorge. Denn wenn in unserer parlamentarischen Demokratie der Zweck alle Mittel heiligt, das Parlament nicht mehr der Ort der Kontroverse, sondern nur noch das Plenum der Verkündung von Partei- und Fraktionsmeinungen ist, dann gibt es in entscheidenden Momenten keine Widerstandskraft gegenüber einer Regierung, die das Recht mit Füßen tritt. Der Kompass geht verloren, weil man an die nächste Listenaufstellung oder an die nächste Wahlkreisversammlung denkt. Und das lässt eine Partei- und Fraktionsspitze die „Abweichler“ spüren. Dies geschieht erst subtil, indem der Querulant nicht mehr als Redner von der Fraktion nominiert wird oder bei der Pöstchenvergabe unberücksichtigt bleibt. Wenn es doller wird, dann wird man in der Fraktionssitzung zur Sau gemacht, es wird getuschelt und intrigiert, was das Zeug hält. Wer dies durchstehen will, braucht ein dickes Fell und Unterstützung an anderer Stelle.

Trotz dieser Rahmenbedingungen gibt es eine ganze Reihe von „Selbstdenkern“ im Parlament. Peter Danckert von der SPD war so einer. Selbst Hans-Christian Ströbele von den Grünen kann man das unterstellen. Aber auch Klaus-Peter Willsch, Wolfgang Bosbach und Peter Gauweiler sind von diesem Schlag. Letzterer hat durch seine Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht mehr für die parlamentarische Demokratie erreicht als Hundertschaften von Abgeordneten, die blindlings ihrer Parteispitze gefolgt sind. Deshalb ist es ein Weckruf an alle, wenn Bosbach im Zuge der Abstimmung über die Verlängerung der Griechenland-Hilfe über einen Rückzug aus der Politik laut nachdenkt. Er wolle nicht immer die Kuh sein, die quer im Stall steht, so der CDU-Mann. So sehr man das Gefühl teilen mag, so sehr verkennt der Rheinländer seine Wirkung in der Öffentlichkeit. Er gibt vielen Bürgern eine Stimme, die sich enttäuscht abwenden, resignieren oder politisch heimatlos sind. Das werden leider immer mehr Menschen in diesem Land. Und er verändert die Politik mehr als er glaubt. Die Regierung spürt seinen Atem im Nacken.

Finanzminister Wolfgang Schäuble fürchtet jede Abstimmung zur „Euro-Rettung“ im Parlament. Jedes Mal eine öffentliche Nabelschau, jedes Mal eine kritische Berichterstattung. Und jedes Mal haben Abgeordnete wie Bosbach, Gauweiler und Willsch die Möglichkeit, den Willen und die Entschlossenheit gegen die fortwährende Verschwendung von Steuergeldern und die Beugung des Rechts anzugehen. Sie bilden damit eine wichtige Gegenmacht zur Willkür der Regierenden. Der große britische Liberale des 19. Jahrhunderts, Lord Acton, warnte Zeit seines Lebens vor zu viel Machtkonzentration. Er brachte seine Skepsis mit dem Satz auf den Punkt: Macht hat die Tendenz zu korrumpieren, absolute Macht korrumpiert absolut.

Dieser Beitrag erschien zuerst am 28. Februar 2015 in der Fuldaer Zeitung.

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Welche Rolle auch immer Wladimir Putin im Fall des ermordeten Oppositionellen Boris Nemzow gespielt hat, eines steht zweifellos fest: Seine Politik in den vergangenen 15 Jahren hat wesentlich dazu beigetragen, dass in Russland ein Klima der Gewalt und Brutalität entstehen konnte. Dahinter steckt ein eiskalter Machtwille des Präsidenten. Die Interessen Russlands oder des russischen Volkes verfolgen er und seine Gefährten jedenfalls nicht.

Die Saat des Hasses …

Putins Auftreten auf der großen Bühne der Politik begann mit einer gewaltigen Strafaktion gegen Tschetschenien, die fast zehn Jahre dauern sollte. Kurz nach seiner Ernennung zum Ministerpräsidenten im August 1999 gab er den Befehl zum Zweiten Tschetschenienkrieg. Das kleine nordkaukasische Land, das – wie angeblich die Krim oder die Ost-Ukraine – die Unabhängigkeit anstrebte, wurde von regulären russischen Truppen und marodierenden Freischärlern über Jahre hinweg mit Krieg überzogen. Entführungen, Folter, Vergewaltigungen und Massenmorde, die dort über Jahre hinweg den Alltag beherrschten, haben den Terrorismus, der bekämpft werden sollte, sicherlich nicht eingedämmt, sondern wohl eher noch verschärft. Nachweislich unterstützte die russische Regierung in Putins Zeit als Präsident und Ministerpräsident außerdem bewaffnete Konflikte und Kriege in den georgischen Teilrepubliken Süd-Ossetien und Abchasien sowie in dem zu Moldawien gehörenden Transnistrien.

Innenpolitisch war und ist die Regierungszeit Putins seit 1999 geprägt von vielerlei Repressalien. Kritische, unabhängige Medien und Journalisten sind immer wieder Schikanen ausgesetzt, die ihre ohnehin schon marginale Stellung gegenüber staatsfinanzierten Medien zusätzlich gefährden. Ein besonders drastisches Beispiel für die Bedrohung der Pressefreiheit sind die zahlreichen Morde an Journalisten, unter denen der Mord an Anna Politkowskaja besonders hervorsticht. Auch wenn keine direkte Verbindung zu staatlichen Stellen gezogen werden kann, ist doch offensichtlich, dass der Staat darin versagt, für die Sicherheit von Journalisten zu sorgen. Viele zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich um die Förderung der Menschenrechte sorgen, sind seit 2012 verpflichtet, sich als „ausländische Agenten“ registrieren zu lassen, wenn sie Gelder aus dem Ausland annehmen. Beängstigend sind auch die zum Teil aberwitzigen Prozesse und Urteile gegen Michail Chodorkowski, Pussy Riot, Alexei Navalny und seinen Bruder Oleg sowie die vielen anderen gegen Oppositionelle im ganzen Land, von denen kaum berichtet wird.

… auf dem Nährboden der Angst

Putin und seine Helfer arbeiten zunehmend mit Feindbildern. Das ist eine bewährte Methode von Herrschern, um die eigene Bevölkerung hinter sich zu bringen. Waren es zu Beginn seiner Herrschaft noch die realen islamistischen Terroristen im Nordkaukasus, so wurden die Feinde im Laufe der Zeit immer virtueller. So konnte man im Laufe der letzten Jahre ein massives Anwachsen der Ausländerfeindlichkeit gegenüber den Gastarbeitern aus dem Kaukasus und den zentralasiatischen Staaten beobachten. Seit Juni 2013 gibt es ein Gesetz zum Verbot „homosexueller Propaganda“, das sich nahtlos einfügt in Putins Selbstdarstellung als Bewahrer traditioneller Werte. „Der Westen“ wird nicht nur als militärische oder ökonomische Bedrohung dargestellt. Es werden auch Ängste geschürt, dass Russland infizieren werden könnte durch die moralische Korruption der sogenannten „Liberasten“ (eine Wortneuschöpfung aus Liberalen und Päderasten).

Die wenig zielführenden Sanktionen der EU und der USA gegenüber Russland seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine sind für Putin ein höchst willkommenes Mittel, um Angst zu verbreiten. Die real zu fühlende rapide Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage in den vergangenen Monaten kann als Teil der wachsenden Bedrohung durch den Westen dargestellt werden, obwohl die Ursachen für die ökonomische Misere wesentlich vielfältiger sind. Von innen und von außen erscheint Russland immer mehr Bedrohungen ausgesetzt, gegen die nur ein starker Mann wie Putin Land und Leute wirkungsvoll verteidigen kann. Die gelungene Inszenierung trägt maßgeblich dazu bei, dass selbst im Ausland viele Putins Politik als legitime Reaktion auf eine reale Bedrohung ansehen.

Die Saat geht blutig auf

In Nemzows letzten Interview, das er wenige Stunden vor seiner Ermordung gab, stellte dieser die Situation ganz anders dar. Der Krieg in der Ukraine ist für ihn ein Bürgerkrieg. Die Konfrontation mit dem Westen sinnlos. Die Wirtschaftspolitik selbstmörderisch. Und überhaupt: die gesamte russische Politik verrückt. Putin hat, so Nemzow, „die Russen mit dem Virus eines Minderwertigkeitskomplexes gegen den Westen infiziert; mit dem Glauben, dass wir einzig durch Gewalt, Terror und Aggression die Welt beeindrucken können. Er hat meine Mitbürger darauf konditioniert, Fremde zu hassen. Er hat ihnen eingeredet, dass wir die alte sowjetische Ordnung wiederherstellen müssen, und dass Russlands Stellung in der Welt komplett davon abhängt, wie sehr die Welt uns fürchtet.“

Es ist dieses Klima der Bedrohung und Angst, das dazu geführt hat, dass gewaltlose Oppositionelle wie Nemzow auf offener Straße erschossen werden – von wem auch immer. Die Saat, die Putin und seine Ideologen über Jahre gesät haben, ist am Abend des 27. Februar 2015 auf der Großen Moskwa-Brücke einmal wieder aufgegangen. Nemzow hat dort sein Eintreten für Recht und Freiheit mit dem Leben bezahlt. Selbst wenn Putin nichts von den Absichten des Mörders gewusst haben sollte, trägt er die Hauptverantwortung dafür, dass es zu solchen Taten kommen kann, weil er den Nährboden gelegt hat, auf dem diese blutige Saat aufgehen konnte.

Ein anderer Weg ist möglich

Der Weg, den Putin und seinen Verbündeten seit über 15 Jahren in Russland gehen, ist nicht der einzig mögliche. Auch der Weg demokratischer, rechtsstaatlicher und marktwirtschaftlicher Reformen wäre immer eine Option gewesen. Das zeigen deutlich die Beispiele von Politikern wie Boris Nemzow, der diesen Weg in den 90er Jahren einschlagen wollte. Bis in die Regierungszeit Putins hinein gab es in der russischen Politik Menschen, die für diesen Weg plädiert haben. Dafür stehen Namen wie Jegor Gaidar, Anatolij Tschubais oder Michail Kasjanow. Diese Menschen haben den Westen nicht als Bedrohung empfunden, sondern als Partner beim Aufbau einer friedlichen und wohlhabenden Welt. Putin hat sich gegen diesen Weg entschieden, weil ihm nur ein autoritäres Russland seine Macht zu sichern scheint.

Die Wirkung breiter Wirtschaftssanktionen ist zweifelhaft. Eine finanzielle oder auch nur logistische Unterstützung der russischen Opposition bringt diese im Zweifel in mehr Schwierigkeiten als sie nutzt. Was also kann getan werden, um das andere Russland zu unterstützen in seinem Kampf gegen Angst und Unterdrückung?

Drei praktische Vorschläge

1. Nicht von Russland sprechen, wenn man Putin meint: Die russische Bevölkerung mag im Augenblick stark hinter ihrem Präsidenten stehen. Viele von ihnen sind aber seit 15 Jahren einer massiven Propaganda-Maschine ausgesetzt und können sich in dieser Informationsasymetrie nur schwer eine fundierte Meinung bilden. Wer pauschal „Russland“ verantwortlich macht für den Krieg in der Ukraine oder die Verfolgung von Oppositionellen, Ausländern und Homosexuellen, der bereitet nur weiteren Ressentiments auf Seite der russischen Bevölkerung den Boden. Nennen wir die Schuldigen beim Namen: Putin und seine Helfershelfer.

2. Dem anderen Russland eine Stimme geben: Menschen wie die „Soldatenmutter“ Ella Poljakowa oder der junge Oppositionsführer Ilja Jaschin sind hierzulande kaum bekannt. Sie verdienen aber unsere Aufmerksamkeit. Sie haben uns etwas zu erzählen über das andere Russland. Im eigenen Land fällt es ihnen enorm schwer, sich eine Stimme zu verschaffen. Das kann leicht zu großer Frustration führen, weil man sich vollkommen einsam vorkommt. Wenn es gelingt, ihrer Stimme in den demokratischen und freien Ländern dieser Welt Gehör zu verschaffen, können sie erkennen, dass sie nicht allein sind, sondern dass überall Menschen ihre Werte teilen und mit ihnen fühlen. Zeigen wir ihnen, dass sie nicht alleine sind.

3. Alternativen entwerfen: Solange wir uns nur mit dem Status Quo beschäftigen, können Putins Sprachrohre ohne Probleme ihre Geschichte weiterstricken, dass der Westen eine Bedrohung für Russland darstelle. Wenn von Russland stets nur gesprochen wird im Zusammenhang mit der Unterstützung der Separatisten in der Ukraine oder mit Überlegungen zu weiteren Sanktionen, ist nicht unbedingt plausibel, dass allein Putin ein Interesse an dem Konflikt hat und nicht auch westliche Regierungen. Deutschland, Europa, „der Westen“ sollten konkrete Alternativen aufzeigen: Wir würde eine Welt aussehen, in der Russland und der „Westen“ Partner sind? Mit ganz konkreten Ideen müssen wir aufzeigen, wie ein friedliches und gedeihliches Miteinander möglich sein kann: mit Freihandelsabkommen, Visa-Freiheit für russische Bürger, dem Angebot der Kooperation in Fragen der globalen Sicherheit, des Umweltschutzes und der weltweiten Bekämpfung von Krankheiten. Es muss sich herumsprechen, dass wir Frieden wollen – mit einem Russland, in dem die Bürger in Freiheit und unter dem Schutz des Rechts leben können.

Am Ende seines letzten Interviews wurde genau diese Vision von Boris Nemzow gezeichnet: „Wir brauchen eine alternative Vision, eine andere Idee von Russland. Unsere Idee ist die eines demokratischen und offenen Russland. Eines Landes, das sich gegenüber seinen eigenen Bürgern und seinen Nachbarn nicht wie ein Bandit verhält.“

Photo: Игорь Титаренко from Flickr