Die Debatten um Bildung werden oft sehr einseitig geführt: es geht in aller Regel um mehr höhere Bildung. Man könnte bisweilen den Eindruck gewinnen, dass das Wohl der Kinder und Jugendlichen weniger im Fokus steht als die Durchsetzung der eigenen gesellschaftlichen Vorstellungen.
Bildungschancen – nicht Bildungszwang
Seit Jahrzehnten jagt eine Bildungsreform die andere. Nachdem zunächst seit den 60er Jahren an Schulen herum experimentiert worden war, rückten die Universitäten und Hochschulen im Laufe der 90er Jahre immer mehr in das Licht der Öffentlichkeit. Erklärtes Ziel der Reformen war es, mehr Akademiker hervorzubringen. Und hier liegt schon der fundamentale Denkfehler. Leute wie Ralf Dahrendorf forderten in der Diskussion vor fünfzig Jahren mehr Bildungschancen. Also die Möglichkeit, dass Menschen Zugang zu höherer Bildung bekommen, die es bis dahin sehr schwer hatten: Frauen, Arbeiterkinder, junge Menschen vom Land. Im Handumdrehen wurde aber aus der Möglichkeit eine Notwendigkeit.
Bereits der Vordenker vieler Bildungsreformen, Georg Picht, sah im Abitur die Norm und das (Mindest-)Maß aller Dinge. Dem haben sich weitere Gruppen angeschlossen: Die OECD, die in diesem Bereich seit langem mit ihren hochpolitisierten Standards und Vorgaben Deutschland im Nacken sitzt. Übereifrige Konzernchefs, die die Bachelor-Konkurrenz aus den USA und Großbritannien fürchten. Und natürlich wohlmeinende Politiker und Aktivisten aus dem linken Spektrum. Sie alle wollen mehr Abiturienten produzieren, mehr Studenten, mehr Hochschulabsolventen.
Gerechtigkeit ist nur individuell zu haben
Zugrunde liegt der Sehnsucht der Linken nach mehr Abiturienten eine pauschale Gerechtigkeitsvorstellung. Diese Vorstellung geht davon aus, dass Gerechtigkeit darin besteht, jeden gleich zu behandeln. Doch so funktioniert Gerechtigkeit nicht in einer Welt voller Individuen. Jeder Mensch hat unterschiedliche Fähigkeiten, Bedürfnisse, Qualitäten. Wenn man unter diesen Bedingungen alle gleich behandelt, verhindert man vor allem eines: dass Menschen richtig behandelt werden. Vollständige Gerechtigkeit wird nie zu erreichen sein. Aber auf jeden Fall wird man Menschen besser gerecht, wenn man sich den Einzelfall anschaut, als wenn man ein Einheitsrezept für alle herausgibt.
Was heißt das für die bildungspolitischen Debatten? Natürlich ist es eine große Errungenschaft, dass heute Frauen, Arbeiterkinder oder junge Menschen vom Land sehr viel leichter Zugang zu höherer Bildung haben als vor fünfzig Jahren. Aber die höhere Bildung ist nicht immer die richtige und passende Bildung. Inzwischen haben etwa 50 % eines Jahrgangs das Abitur. Das ist eine Verzehnfachung gegenüber 1950. Es ist vielleicht nicht völlig abwegig, zu hinterfragen, ob nicht unter diesen Abiturienten viele sind, die auch mit einer soliden Ausbildung erfolgreich und glücklich hätten werden können. Dass diese Frage schon beinahe als Beleidigung wahrgenommen wird, liegt vor allem an intellektueller Überheblichkeit.
Intellektuelle Überheblichkeit
Wir Menschen neigen dazu, uns selbst als Maßstab zu nehmen. Wer ein Weltbild hat, das vom Individuum als bestimmender Größe ausgeht, neigt vielleicht ein klein bisschen weniger dazu, weil er zumindest im Grundsatz anerkennt, dass der andere eben anders ist. Ob er besser oder schlechter ist, Besseres oder Schlechteres tut, kann tatsächlich nur rein subjektiv beurteilt werden – die objektive Sicht gibt es wohl nur in eng begrenzten ethischen Fragen. Darüber hinaus sicher nicht. Anders sehen das diejenigen, die sich schwer tun mit dem Blick auf das Individuum und die eher in Kollektiven denken. Für sie gibt es „mich“ oder „uns“ und „die“. Und das „ich“ oder „wir“ ist der Maßstab, nach dem sich „die“ zu richten haben.
Weil viele von ihnen wohlmeinende Menschen sind, wollen Linke oft das Beste für alle. Da sie aber dazu neigen, sich selbst zum Maßstab zu nehmen, glauben sie auch, dass dieses Beste ist, wenn man so wird wie sie. Und da sie ein Abitur haben, meist auch ein Studium absolviert haben, halten sie diesen Lebensentwurf für den objektiv besten. Oft ohne es zu wollen, legen sie dabei eine erschreckende Überheblichkeit an den Tag. Denn wer fordert, dass mehr Leute ein Abitur machen müssen, sagt damit implizit der Bürokauffrau, dem Schreinergesellen und dem Straßenbauarbeiter, dass sie und ihre Tätigkeit weniger wert sind. Sie wären nämlich besser dran, wenn sie studiert hätten.
„Die Bauernverbände der Neu-Akademiker“
Der Wert einer Arbeit hängt aber nicht notwendigerweise von der Qualifikation des Ausführenden ab. Und der Wert des Menschen selbst erst recht nicht. Das Abitur macht Menschen nicht glücklicher oder besser. Und, ja, auch ein volleres Portemonnaie ist noch kein Garant für Zufriedenheit. Wer glaubt, dass ein Abitur automatisch auch mehr Chancen bedeutet, vertritt letztlich ein materialistisches Weltbild. Glücklich macht nicht der dicke Gehaltsscheck oder der Doktortitel. Glücklich macht eine erfüllende Arbeit, die zu einem passt. Und glücklich machen darüber hinaus ganz besonders menschliche Beziehungen.
Ralf Dahrendorf beschrieb die Advokaten einer pauschalen Bildungsexpansion in einem Interview im Jahr 2008 als „die Bauernverbände der Neu-Akademiker“. Sie verteidigen ihre eigene Welt, die sie zum Maßstab für alle machen, mit derselben Vehemenz wie die Agrarlobby. Und in ihrer Verbissenheit übergehen sie diejenigen, deren Begabungen nicht darauf ausgerichtet sind, das Gymnasium zu besuchen. Wahrscheinlich werden jedes Jahr Zehntausende von jungen Menschen durch diesen Abitur-Automatismus in die Universitäten gespült, die ihre Fähigkeiten anderswo viel besser einsetzen könnten. Das ist aber genau das Gegenteil der klassenlosen Gesellschaft, die ja angeblich das Ziel sein soll. Klassenlos ist eine Gesellschaft erst dann, wenn jedes Individuum zählt. Wenn der Wert eines Menschen nicht durch seine Zugehörigkeit zur Klasse der „höher Gebildeten“ definiert wird. Der Abitur-Automatismus führt so nicht zu mehr Gerechtigkeit, sondern oft genug zu weniger.
Photo: Wonderlane from Flickr