Angela Merkel hat sie nicht, Francois Hollande wohl auch nicht und Jean-Claude Juncker erst recht nicht: Eine Vision für Europa. Alle reagieren mit den alten Rezepten auf neue Herausforderungen. Junckers Investitionsprogramm ist so ein alter Hut, dass es schon gedanklich Schmerzen bereitet. Draghis Schuldenankaufprogramm ist wie eine Schrotflinte. Ihr wird die Treffsicherheit schon vor dem Abschuss abgesprochen. Und die Eurorettung in Griechenland per Befehl aus Brüssel und Europas Hauptstädten hinterlässt auch kein heimeliges Gefühl in den Köpfen der Menschen. Um es mit Shakespeare zu sagen: „Etwas ist faul im Staate Dänemark.“ Die Europäische Union, ihre Institutionen und ihre Regierungen scheitern an ihrer Größe, am Zentralismus und ihrer Komplexität. Es ist jedoch noch nicht zu spät, um aus den Fehlern der Vergangenheit die richtigen Schlüsse zu ziehen.

Denn es ist unbestritten, dass das vereinte Europa von seinen Gründungsvätern Konrad Adenauer, Robert Schuman, Jean Monnet, Alcide De Gasperi und anderen als ein Hort der Freiheit gegen alle Formen von Diktatur, Unfreiheit und Planwirtschaft erträumt wurde. Das heutige Europa ist jedoch auf dem Weg in die monetäre Planwirtschaft und den politischen Zentralismus. Deshalb ist es notwendig, wieder den Blick auf die Gründerväter zu richten. Sie wollten ein Europa des Rechts und der Rechtsstaatlichkeit. Die heutigen Regierungen des Euroraums, die EU-Kommission und die EZB verabreden sich hingegen zu einem fortgesetzten kollektiven Rechtsbruch, obwohl die EU-Kommission als Hüterin der Verträge und die nationalen Regierungen zum Schutz des Rechts verpflichtet sind.

Neben den ökonomischen Aspekten kommen zunehmen außen- und sicherheitspolitische Interessen mit ins Spiel. So liest man allenthalben, Griechenland dürfe auch deshalb nicht aus dem Euro ausscheiden, weil damit die „Südostflanke“ der NATO gefährdet sei. Und Lettland wurde sicherlich nicht Anfang 2014 das 18. Euro-Mitglied, weil die Gemeinschaftswährung so wenig krisenanfällig ist, sondern weil es die Balten aus sicherheitspolitischen Überlegungen noch stärker gen Westen drängte.

Die Europäische Union braucht eine neue Vision, die eine Machtbeschränkung der Politik durch Verfahrensregeln und eine institutionellen Ordnungsrahmen in einem non-zentralen Raum sichert. Diese Union darf nicht als Bedrohung in den Ländern empfunden werden, die sich nicht anschließen können oder wollen. In ihr darf nicht das Primat der Politik vorherrschen, sondern ein Primat von Recht und Freiheit. Es geht um die Begrenzung der Macht durch das Zurückdrängen der Politik und ihres Einflusses.

Gerade dies ist heute nicht gewährleistet. Die Kommission und das Parlament der Europäischen Union mischen sich in alle Einzelfragen ein und fühlen sich dafür zuständig. Unveräußerliche Bürgerrechte werden bei der anlasslosen Vorratsdatenspeicherung beschränkt, die Dezentralität der Marktwirtschaft wird durch eine zentrale Investitionslenkung ersetzt und die Altersvorsorge der Bürger wird durch den Geldsozialismus der EZB vernichtet. Selbst die Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Union dienen im Zweifel immer dem Machtzuwachs der Institutionen der Europäischen Union gegenüber den Mitgliedsstaaten. Diese Entwicklung in die Unfreiheit und Knechtschaft dient einem höheren Ziel: der Vollendung des europäischen Superstaates. Es sind diese kollektivistischen Ideen, die den Gründungsmythos der europäischen Einigung gefährden und letztlich zerstören.

Deshalb ist eine Diskussion über „Welches Europa wollen wir?“ dringender denn je. Wollen wir ein Europa des Zentralismus und der Unfreiheit oder ein Europa der Vielfalt und der Freiheit. Um diese grundsätzliche Weichenstellung geht es – um nicht mehr und nicht weniger.

Will man das Europa der Vielfalt und der Freiheit, dann braucht es einen institutionellen Ordnungsrahmen, der Recht und Freiheit gegenüber politischer Willkür schützt und sichert. Und es braucht Regeln, die allgemein, abstrakt und für alle gleich sind, damit sie nicht umgangen oder interpretiert werden können. Bereits 1993 hat die „European Institutional Group“, ein Zusammenschluss liberaler Wissenschaftler in Europa, Vorschläge dazu gemacht. Angepasst auf die heutige Zeit könnte eine neue Agenda folgende Punkte umfassen:

  1. Ein Sezessionsrecht für Mitglieder der Währungsgemeinschaft und der Europäischen Union (letzteres existiert bereits).
  2. Eine Ausschlussmöglichkeit aus EU und Euro-Raum gegenüber Mitgliedern, die sich dauerhaft nicht an die gemeinsam geschaffenen Regeln halten.
  3. Der Einrichtung einer zweiten Kammer, die von den nationalen Parlamenten entsandt wird. und die die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips überwacht. Dies ist zu verbinden mit einer Reduzierung des Parlaments der Europäischen Union auf 500 Mitglieder, die in allgemeinen, gleichen und unmittelbaren Wahl gewählt werden.
  4. Eine klare Aufgabentrennung zwischen EU und Nationalstaaten.
  5. Keine Steuerhoheit und keine eigene Verschuldungsmöglichkeit der EU.
  6. Ein klares Bekenntnis zur Kapitalverkehrs-, Niederlassungs-, Waren- und Dienstleistungs- und Reisefreiheit in der Europäischen Union
  7. Eine Reduktion der Kommission der EU auf 12 Kommissare.
  8. Die Schaffung eines Überprüfungsgerichts, dessen Richter von den höchsten nationalen Gerichtshöfen entsandt werden, und die über alle Fälle verhandeln, die die Zuständigkeiten zwischen Union und Mitgliedsstaaten betreffen können.
  9. Eine Verlagerung des Initiativrechts für die EU-Gesetzgebung von der Kommission auf den Europäischen Rat. Eine Kammer des Parlaments kann den Rat auffordern, in einem bestimmten Punkt gesetzgeberisch aktiv zu werden. Der Rat hat ein Vetorecht gegen Gesetzgebungsvorhaben.
  10. Ein Konvent mit einer anschließenden Volksabstimmung in allen Mitgliedsstaaten soll die notwendige Legitimation bei den Bürgern einholen.

Die Europäische Union ist am Scheideweg. Deshalb muss die öffentliche Debatte um „Welches Europa wollen wir?“ die verkürzte Diskussion um Ölkännchen, Glühbirnen und Chlorhühner verlassen. Das sind lediglich Ergebnisse des institutionellen Versagens der Union. Eine Diskussion wird nur dann Erfolg haben, wenn sie sich nicht nur auf das beschränkt, was jetzt politisch möglich ist, sondern konsequent die Idee der Gründerväter im Blick hat – eine Vision Europas, die Recht und Freiheit durch Non-Zentralismus schützt.

Photo: Nico Kaiser from Flickr

Schon im Frühjahr 2010 sprach jeder über das fehlende Grundbuch in Griechenland. Jeder, der etwas Sachverstand ausstrahlen wollte, sagte damals: „Griechenland hat noch nicht einmal ein Grundbuch, das kann nichts werden!“ Dabei kennen die wenigsten Staaten auf dieser Welt ein Grundbuch, das auf den Grundsatz des öffentlichen Glaubens setzt. Nicht einmal in den USA, wo im Zweifel das unbefugte Betreten des Grundstücks mit Waffengewalt unterbunden wird, gibt es ein Grundbuch. Doch Griechenland sollte es endlich bekommen.

Kürzlich schrieb die griechische Wirtschaftszeitung „Imerisia“, dass der Fertigstellungstermin im Jahr 2020 (!) nun doch nicht zu halten sei. Das Hauptproblem: wieder einmal mangelndes Geld. Die Finanzierungslücke wird auf 220 Millionen Euro beziffert. Ein Teil aus dem „Nationalen Strategischen Finanzierungsplan“ (NSRP) in Höhe von 130 Millionen Euro sei durch die EU-Kommission gestoppt worden, weil es keine zuverlässige Planung und Programmierung gebe. 22 der 28 Ausschreibungen für das Projekt mussten wegen Beschwerden und Skandalen annulliert werden. Allein dafür war ein Etat von 527 Millionen Euro veranschlagt worden. Beklagt wird der „beunruhigende“ Mangel der Mitwirkung von seiten der Bürger. So beteiligten sich lediglich 20 Prozent an den laufenden Projekten. Das hat seinen Grund: Wer nicht nachweisen kann, dass sein Grundstück tatsächlich ihm gehört, hat ein Problem. Dann fällt das Grundstück dem Fiskus zu. In 340 Regionen Griechenlands, die zwischen 1997 und 1999 erfasst wurden, droht dieser Fall inzwischen 200.000 Immobilieneigentümern. Wenn es nicht so traurig wäre, müsste man laut auflachen.

Diese Politik der mangelnden inneren Einsicht und der oktroyierten Fremdbestimmung scheitert in Griechenland jeden Tag aufs Neue. Als am 7. Mai 2010 das erste Griechenland-Paket im Deutschen Bundestag zur Abstimmung stand, hieß es noch, Griechenland müsse seine Reformen bis 2014 umsetzen, anschließend könnte es wieder an den Kapitalmarkt zurückkehren. An der mangelnden Erkenntnis hat es sicher nicht gelegen. Aber wie sagte schon EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker: „Wenn es ernst wird, muss man lügen.“

Dieser Beitrag erschien zuerst in der aktuelle Ausgabe des Magazins „eigentümlich frei“, Ausgabe 151.

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Auf der Fernseh-Couch sind viele die besseren Trainer. Allerdings verändern sie nichts am Spielverlauf. Wenn es um die Sache der Freiheit geht, brauchen wir definitiv mehr Leute auf dem Spielfeld, die ihr Bestes geben. Viel zu lange haben wir uns auf die Rolle des Couch-Coaches beschränkt. Doch wie und wo können wir damit anfangen?

Der Einsatz auf dem Rasen macht glücklicher als auf der Couch

Es kann sehr gemütlich sein auf der Couch, wenn man sich eigentlich nicht mehr bewegen muss. Nicht wenige Freunde der Freiheit haben es sich dort wohlig eingerichtet. Ihr Weltbild besteht aus ihrem Blickfeld. Die Argumente, die ihnen zur Verfügung stehen, liegen allesamt auf dem Couchtisch parat. Steuern? Raub! Frauenquote? Einschränkung der Vertragsfreiheit! Schulpflicht? Freiheitsberaubung! Die Freunde von unserem Couch-Coach mögen da noch jubeln. Schon seine Freundin im anderen Zimmer verdreht die Augen. Und jeder Beobachter von außen würde ihn wahrscheinlich höchstens mit einem kurzen Stirnrunzeln beachten. Keiner bewundert den Couch-Coach. Aber sehr viele bewundern die Spieler auf dem Rasen. Denn die leisten etwas. Und durch ihre Leistung verändern sie unter Umständen entscheidend den Spielverlauf.

Die Situation für den Spieler ist erheblich ungemütlicher. Er muss sich anstrengen; sein Bestes geben; weiterkämpfen, auch wenn man gerade mit drei Toren zurückliegt. Er muss nach dem Torjubel sofort seine Anspannung zurückerlangen. Und er muss damit klar kommen, wenn die Fans ihn ausbuhen. Aber unabhängig davon, ob seine Mannschaft gerade gewinnt oder zurück liegt: er leistet etwas. Das ist auf die Dauer erheblich befriedigender als wenn man nur mit Besserwisserei vor dem Fernseher geglänzt hat. Und es macht auch glücklicher.

Müde geworden?

Seien wir ehrlich: Man könnte manchmal den Eindruck haben, dass die Sache der Freiheit sich müde gesiegt hat. Bei allem, über das man sich noch aufregen kann, ist doch der Freiheitsraum heute so groß wie noch nie in der Geschichte. Im Gegensatz zu unseren Vorfahren bei der 1848er Revolution haben wir nicht mehr mit einem repressiven System zu kämpfen. Im Gegensatz zu der Zeit vor 50 Jahren sehen sich Frauen, Ausländer oder Homosexuelle nicht mehr mit staatlichen Repressalien konfrontiert. Im Gegensatz zu vor gut 25 Jahren lebt nicht mehr ein gutes Fünftel der Bevölkerung Deutschlands in einer Diktatur. Bei allen berechtigten Klagen gegen Bürokratie und Steuern ist doch der Unterschied zu Weißrussland und Venezuela oder selbst Rumänien und Griechenland signifikant. Haben wir uns müde gesiegt?

In gewisser Weise ja. Der unmittelbare Druck, der auf uns und unsere Freiheit ausgeübt wird, ist nicht mehr so offensichtlich wie zu anderen Zeiten oder in anderen Gegenden der Welt. Dass die Kanzlerin inzwischen eine Nudging-Abteilung einrichten muss, spricht auch dafür, dass sich die Menschen in Deutschland unmittelbaren Druck nicht mehr gefallen lassen würden. Dabei sind die raffinierten neuen Methoden staatlichen Drucks wie Nudging natürlich eine nicht zu unterschätzende Gefahr. Zumal da nicht mit offenem Visier gekämpft wird. Hier gibt es also durchaus noch etwas zu tun. Wer sich mit dem Status Quo zufrieden gibt, verliert aber auch noch etwas anderes aus dem Auge: die Entfaltungsmöglichkeiten der Zukunft.

Die Vorstellungskraft wieder in Gang setzen

Eine Frau, die im antiken Rom als Sklavin freigelassen wurde, hatte höchstwahrscheinlich den Eindruck, schon alles erreicht zu haben. Die wenigsten von ihnen dürften die Vorstellungskraft gehabt haben, sich eine Welt auszumalen, in der nicht nur alle Menschen frei sind, sondern Frauen auch noch in demokratischen Wahlen über die Staatsführung entscheiden dürfen oder gar heiraten dürfen, wen sie wollen. Genauso fehlt es uns oft an Vorstellungskraft, welche Freiheitsräume noch möglich sind. Es ist Zeit, dass die Freunde der Freiheit aus ihrer Müdigkeit erwachen und ihre Phantasie wieder in Gang bringen, um diese Freiheitsräume zu entdecken oder zu ersinnen.

Dafür braucht es Bessermacher statt Besserwisser. Die Couch-Coaches dieser Welt haben noch nie den Spielverlauf verändert – das waren immer die Spieler. Darum müssen wir wieder mehr Freunde der Freiheit haben, die sich ins Getümmel des Spielfelds stürzen. Wir brauchen mutige, tapfere und geduldige Champions.

Drei Tipps für die Spielstrategie

Den Gegner ernst nehmen
Der Couch-Coach kann natürlich problemlos den Gegner kleinreden – er muss ihn ja auch nicht besiegen. Die anderen pauschal als Ökofaschisten, Kriegstreiber oder Sozialisten zu bezeichnen, spielt ihnen eher in die Hände als dass es sie schwächt. Wer einen Gegner besiegen will, muss ihn ernst nehmen und muss sich davor hüten, ihn zu unterschätzen. In dem Zusammenhang ist es auch hilfreich, sich einmal darüber Gedanken zu machen, was man vom Gegner lernen kann. Wer es vorzieht, immer Recht zu behalten, endet nämlich ganz schnell bei massiver Selbstüberschätzung. Nur wer lernt, kann Fortschritte machen und sich verbessern.

Aktiven Spielaufbau betreiben
Wer Erfolg haben will, muss etwas leisten. Da reicht es nicht, einfach nur zu verhindern, dass Tore reinkommen. Offensiv zu spielen heißt in unserem Fall, nicht nur zu reden, sondern auch zu handeln. Durch eigene Initiativen zeigen, dass man nicht nur wohlfeile Reden schwingt. Und vielleicht auch einmal über neue Spieltaktiken nachdenken. Dem überbordenden Wohlfahrtstaat zum Beispiel tritt man am besten entgegen, indem man selbst Hilfe organisiert. Es reicht nicht, immer nur zu behaupten, dass menschliche Solidarität an seine Stelle treten würde. Wir müssen es beweisen. Durch die Forderung nach weniger oder gar keinem Staat hat sich noch nichts bewegt. Der Staat muss Stück für Stück überflüssig gemacht werden. Das geschieht, indem wir private Hilfsinitiativen ins Leben rufen, Nachbarschaftshilfe organisieren oder Spenden sammeln für ein Flüchtlingslager im Libanon. Zeigen wir durch unser Handeln, dass Solidarität ohne Zwang besser und effizienter funktioniert.

Gewinnen wollen
Es kann in manchem Spielverlauf Augenblicke geben, in denen die Versuchung sehr groß ist, einfach aufzugeben. Wenn in der zweiten Halbzeit das dritte Tor gefallen ist und man selbst immer noch keins geschossen hat. Dann kann schon mal der Kampfesmut ganz verschwinden. Doch anders als auf dem Spielfeld müssen die Freunde der Freiheit nicht den Abpfiff fürchten. Denn die Spielzeit ist für uns nicht beschränkt. Darum darf man sich nicht irre machen lassen, wenn die Situation scheinbar aussichtlos ist. Wenn man den Eindruck hat, dass sich die Schlinge von Politik und Bürokratie immer enger zieht. Wir haben keinen Grund, die Schultern hängen zu lassen, denn wir können immer und immer wieder in die Verlängerung gehen. Wenn wir Geduld und Mut aufbringen, dann werden wir nicht nur manches Tor der Gegner verhindern können, sondern auch selber immer mehr Bälle in deren Tor versenken. Entscheidend ist einfach nur, dass wir uns von unserer Couch erheben und aufs Spielfeld stürmen!

Photo: Danilo Borges from Wikimedia

Jean-Claude Juncker ist ein gewiefter Fuchs. Er weiß, welchen Knopf er drücken muss, um eine breite Debatte zu entfachen. Am vergangenen Wochenende gelang ihm das mit dem Vorschlag zur Gründung einer europäischen Armee: „Eine gemeinsame Armee der Europäer würde Russland den Eindruck vermitteln, dass wir es ernst meinen“, diktierte er Journalisten ins Mikrofon. Die Forderung sprach die Europaromantiker genauso an wie die Falken, die ein entschlossenes Vorgehen gegen Russland einfordern. Selbst die Bundeskanzlerin, die Juncker nicht gerade zu ihrem Freundeskreis zählt, ließ erklären, dass sie sich dies langfristig vorstellen könne. Langfristig ist in diesem Zusammenhang eine Umschreibung, wenn man es eigentlich nicht will, aber es nicht so sagen kann.

Insofern ist der Schachzug Junckers gelungen, denn es lenkt die öffentliche Diskussion weg von den internen Problemen der EU rund um den Euro und die Schuldenkrise in Europa, hin zu einem visionären Projekt – dem europäischen Bundesstaat mit einer eigenen Armee. In diesem Bundesstaat wäre der Kommissionspräsident auch nicht mehr Kommissionspräsident, sondern Regierungs-Chef der Vereinigten Staaten von Europa. Und das Europaparlament wäre ein Parlament, das eine eigene Gesetzgebungskompetenz hätte, selbst Steuern erheben könnte und sogar eine eigene Verschuldungsmöglichkeit besäße – kurzum: eine Supermacht, die es mit den Großen dieser Welt aufnehmen kann. Diese Vorstellung ist durchaus populär. Herrscht doch zuweilen der Eindruck, dass Europa seinen Wohlstand nur erhalten kann, wenn es sich mit China, USA und Russland auf Augenhöhe bewegt – auch militärisch. Doch anders als in China, USA und Russland gibt es in Europa keine Tradition eines Superstaates. Alle Hegemonialmächte in der Geschichte Europas waren nicht von Dauer und umfassten nie ganz Europa.

Die Tradition Europas ist daher eine andere. Es ist, wie Wilhelm Röpke es formulierte, die Vielheit in der Einheit, die das Wesen Europas ausmacht. Die kulturelle Vielfalt, die wirtschaftliche Prosperität und der Non-Zentralismus sind die Stärken Europas. Es ist der Wettbewerb im Kleinen, der nicht nur die Freiheit des Einzelnen sichert, sondern auch Wohlstand schafft.

Denn wenn die Größe eines Landes die Voraussetzung für Wohlstand und Freiheit wäre, dann wäre Norwegen das Armenhaus Europas und der Schweizer Freisinn mit Wilhelm Tell untergegangen. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Nicht der Zentralismus schafft mehr Freiheit und mehr Wohlstand, sondern er zerstört beides. Deshalb ist der Europäische Bundesstaat mit einer eigenen Armee ein Irrweg. Wer soll die Befehlsgewalt darüber haben? Jean-Claude Juncker? Das Parlament der Europäischen Union? Die sicherheitspolitischen Traditionen Frankreichs und Großbritanniens auf der einen Seite und Deutschlands auf der anderen Seite sind so fundamental unterschiedlich, dass man nicht einmal das „neutrale“ Finnland oder Österreich heranziehen muss, um klar zu machen, dass dies nicht unter eine Hut passt. Es ist ein großes Verdienst in Deutschland, dass die Bundeswehr eine Parlamentsarmee ist. Jeder Einsatz muss durch das Plenum des Bundestages gebilligt werden. Für die Regierung ist dies immer wieder eine Gratwanderung, die eine öffentliche Debatte über den Sinn und Unsinn des jeweiligen Militäreinsatzes auslöst. Je abstrakter und zentralistischer die Ebene der Entscheidung über den Einsatz deutscher Soldaten ist, desto leichter fällt diese Entscheidung. Deutsche Soldaten sollen nicht zur Weltpolizei werden, auch nicht unter dem Dach einer europäischen Armee.

Die Westbindung durch die Nato hat den Frieden in Europa über Jahrzehnte gesichert. Die Einbindung in das transatlantische Verteidigungsbündnis ist deshalb der richtige Platz für Deutschland. Das gegenseitige Beistandsversprechen hat bei den kleineren und größeren Nato-Partnern Stabilität und Vertrauen erzeugt. Daran zu rütteln hieße, den Frieden in Europa aufs Spiel zu setzen.

Dieser Beitrag erschien zuerst am 14. März 2015 in der Fuldaer Zeitung.

Photo: Aaron Cannon from Flickr

Es wird Sie vielleicht überraschen: Ich bin dafür, dass wir mehr Verständnis für Griechenland und seine Bürger aufbringen. Es ist entwürdigend für das griechische Volk, was ihnen von außen aufgezwungen wird. Kein Land auf dieser Welt würde das hinnehmen. Nicht einmal vorübergehend würde akzeptiert, was in Griechenland seit fünf Jahren stattfindet. Doch die Euro-Retter glauben fortwährend, dass dies der richtige und auch gangbare Weg sei.

Man stelle sich einmal diese Situation in Deutschland vor. Frankreich oder Italien würden unsere Regierung und unser Parlament zwingen, über 12 Jahre (das griechische Programm läuft mindestens von 2010-2022) einen festen Katalog von Maßnahmen, darunter die Entlassung von Beamten, die Kürzung von Renten und sozialen Leistungen, ohne Abstriche umzusetzen. Die Umsetzung würde eine Gruppe von Experten aus Paris und Rom überwachen und kontrollieren. Und nach fünf Jahren wäre die wirtschaftliche Situation sogar noch schlimmer als zu Beginn der Krise.

Was würde in Deutschland geschehen? Wahrscheinlich das Gleiche wie in Griechenland. Die Extreme würden Zulauf bekommen, Streiks und Chaos wären an der Tagesordnung. Und jeder würde sein Geld in Sicherheit bringen. Kurzum: Ein Klima wie in der Endphase der Weimarer Republik würde aufkommen. Damals verlor Deutschland zwischen 1928 und 1932 40 Prozent seiner Wirtschaftsleistung, die Industrieproduktion sank um über 22 Prozent und die Arbeitslosigkeit lag am Höhepunkt bei 5,6 Millionen.

Die Zahlen Griechenlands sind ähnlich dramatisch. Seit 2008 ging die Wirtschaftsleistung um 27 Prozent zurück, die Arbeitslosigkeit stieg auf 27 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit sogar auf 50 Prozent und die Industrieproduktion (saisonbereinigter breit gefasster Industrieproduktionsindex ohne Baugewerbe) ist auf dem Niveau von 1979(!). Gleichzeitig gibt es keine Spur der Erholung. Die Exporte von Waren und Gütern sind im Januar um weitere 12,8 Prozent auf gerade mal 1,86 Milliarden Euro gesunken und dies bei immer noch hohen Importen von 3,13 Milliarden Euro. Wie soll daraus jemals eine sich selbst tragende Volkswirtschaft werden?

In diesem Umfeld drängt der Euro-Club auf weitere Maßnahmen in Griechenland. Das ist unverantwortlich und wird Griechenland noch weiter ins Chaos stürzen. Das alles nur, damit der Euro-Raum als Ganzes erhalten bleibt. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat es dieser Tage nochmals unterstrichen: „Es wird niemals einen Grexit geben.“ Dieser neue europäische Absolutismus ist das Problem und muss beendet werden. Er ist anmaßend, rechthaberisch und verantwortungslos. Nach fünf Jahren Retterei müsste dies auch dem letzten Euro-Romantiker klar sein.

Die griechische Regierung, das griechische Parlament und das griechische Volk müssen selbst über ihr Schicksal in eigener Verantwortung entscheiden. Sie müssen die notwendigen Veränderungen wollen und durchführen. Sie müssen eine aktive Bürgergesellschaft entwickeln, die gegen Korruption, Vetternwirtschaft und Machtmissbrauch ankämpft. Das kann nicht durch eine Troika, egal welchen Namen sie aktuell trägt, von außen erzwungen werden, sondern muss aus innerer Einsicht erfolgen. Entscheidend für die Rückgewinnung der eigenen Freiheit Griechenlands ist aber eines: Die Übernahme von Verantwortung für das eigene Handeln.

Wer glaubt, die Europäische Union, der Euro-Club oder Deutschland seien so eine Art Allmende, bei der sich jeder auf Kosten des anderen bedienen kann, wird am Ende nur noch eine abgegraste Wüste in Europa vorfinden.

Photo: SpaceShoe from Flickr