Photo: Rae Allen from Flickr (CC BY 2.0)

Schiedsgerichte wären eine spannende und innovative Möglichkeit, eine größere Vielfalt und mehr Auswahlmöglichkeiten in unserem Rechtssystem zur Verfügung zu stellen. Dass das Europäische Parlament sie ablehnt, ist ein Fehler.

Keine Herrschaft der Hinterzimmer

Die Entscheidung der Europaparlamentarier, der Kommission das Mandat für die TTIP-Verhandlungen mit den USA zu geben, ist in dem ganzen Wirbel um Griechenland ein wenig untergegangen. Die üblichen Bedenkenträger waren so sehr mit der Causa Grexit beschäftigt, dass der große Aufschrei ausblieb. Sie hatten sich aber auch in einem nicht unwichtigen Punkt durchgesetzt: Das Investitionsschiedsabkommen ISDS soll aus den Verhandlungen ausgeschlossen werden. Dieses Abkommen sollte Investoren dies- und jenseits des Atlantiks die Möglichkeit geben, Streitfälle mit staatlichen Stellen zu lösen.

Diese Art der Problemlösung ist mitnichten neu. Wie die Befürworter des Abkommens in den letzten Monaten nicht müde wurden, herauszustellen, haben europäische Staaten in den letzten 60 Jahren über 1400 solcher Investitionsschutzabkommen abgeschlossen. Weltweit gibt es über 2000 von ihnen. Die meisten Schiedsverfahren werden von der Weltbank durchgeführt, also nicht in irgendwelchen Hinterzimmern von Großkonzernen. Überhaupt Großkonzerne: Die Kritik am ISDS bezieht sich gebetsmühlenartig auf die Klage von Vattenfall gegen Deutschland im Zusammenhang mit dem Atomausstieg. Unabhängig davon, wie man zu diesem konkreten Fall steht, muss man anerkennen: er ist nicht repräsentativ.

Schiedsgerichte schaffen in den meisten Fällen Rechtssicherheit

Wirft man einen Blick in die Berichte des „Internationalen Zentrums zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten“ der Weltbank (ICSID), das einen großen Teil der Streitfälle verhandelt, kann man Einblicke gewinnen, die in deutlichem Gegensatz stehen zu dem Standard-Bild, das hierzulande in der Öffentlichkeit gezeichnet wird. 150 Länder sind Mitglieder des Abkommens, darunter fast alle EU-Staaten, die USA, China und Japan. Von allen Fällen, die je dort verhandelt wurden, sind nur 4 % der Fälle gegen Staaten Westeuropas und weitere 4 % der Fälle gegen Staaten Nordamerikas verhandelt worden. Ein großer Teil der angeklagten Staaten liegt in Regionen, in denen das staatliche Rechtssystem zumindest instabil ist: 26 % in Südamerika, 26 % in Afrika und dem Mittleren Osten, 25 % in Osteuropa und Zentralasien.

Offensichtlich ist das Instrument internationaler Schiedsgerichte also eine Möglichkeit, zusätzliche Rechtssicherheit für Investoren herzustellen. Davon sind übrigens auch sehr viele Mittelständler betroffen, die in Gegenden mit ungenügendem Rechtsschutz operieren. Von Vorteil sind diese Optionen zusätzlicher Rechtssicherheit zudem nicht nur für die Investoren, sondern auch für deren Partner vor Ort, für deren Angestellten und Kunden. Wenn es gelingt, die Produktionsstätte eines deutschen Unternehmers etwa in Kenia, Uruguay oder Pakistan vor der Willkür von Politik und Bürokratie zu schützen, ist das ja auch für diejenigen von Vorteil, die dort ihren Lebensunterhalt verdienen oder als Händler, Transporteure und Konsumenten von den Produkten profitieren.

Die Illusion der Unabhängigkeit

Nun ist der Einwand nicht ganz unberechtigt, dass die EU und die USA ja doch weitgehend funktionsfähige Rechtssysteme haben. (Wobei gerade die scharfen TTIP-Kritiker das im Blick auf die USA wahrscheinlich verneinen würden, weshalb sie durchaus für das ISDS sein könnten …) Ob freilich die nun gefundene Regelung, staatlich benannte Richter für solche Streitfälle einzusetzen, die bessere Lösung ist, kann mit Fug und Recht angezweifelt werden. „Aus Schiedsstellen, die zum Missbrauch einladen, haben wir unabhängige Gerichte gemacht“, jubelte der Europaabgeordnete Bernhard Lange nach der Entscheidung. Diese Sicht der Dinge geht von einer Illusion aus: Nämlich von der Illusion, dass ein Richter, sobald er nicht durch eine Institution des Staates ernannt wurde, zum Rechtsmissbrauch neige, während umgekehrt staatlich eingesetzte Richter automatisch unabhängig seien.

Richter sind Menschen, unabhängig davon, ob sie eine staatliche Robe tragen oder nicht. Richter machen Fehler und können korrupt sein. Korruption ist dabei definitiv nicht nur mithilfe von Geld durchführbar. Auch die Aussicht auf Ämter oder Beförderungen kann Menschen, und eben auch Richter, dazu bringen, Recht, Gesetz und Gerechtigkeit zu ignorieren. Dennoch sind Richter, ob staatlich legitimiert oder nicht, wohl tendenziell eher immun gegen Korruption. Das liegt an ihrem Berufsethos. Das liegt aber auch daran, dass natürlich alle Parteien, die für die Einsetzung eines Richters zuständig sind, ein Interesse an dessen Integrität haben. Würden sich etwa die Richter des ICSID durch besondere Nähe zu Staat oder Unternehmen auszeichnen, wäre es wohl bald vorbei mit dessen gutem Ruf.

Was wollen die Gegner der Schiedsgerichte eigentlich wirklich?

Private Schiedsgerichte laden weder signifikant mehr noch weniger als staatliche Einrichtungen zum Missbrauch oder auch nur zum Irrtum ein. Sie können aber ein wichtiges Korrektiv und eine wichtige Ergänzung zu bereits bestehenden staatlichen Gerichten sein. Nicht nur auf dem Gütermarkt ist Wettbewerb ein Instrument, um bessere Lösungen zu finden. Wenn man nicht davon ausgeht, dass es Menschen gibt, die, weil gütiger, weiser und integrer als andere, bestimmt sind, als Philosophenkönige zu herrschen, dann kann auch für staatliche Institutionen und Organisationen der Wettbewerb ein guter Weg sein, um innovativ zu sein und sich zu disziplinieren.

Man könnte ins Grübeln kommen angesichts von Bernhard Langes Freude darüber, dass sich Investoren aus den USA und der EU fortan nur noch an staatlich ernannte Richter sollen wenden können. Speist sich sein Wohlgefallen gar daraus, dass die Politik auch in Zukunft nicht darauf wird verzichten müssen, die Rechtsprechung zu kontrollieren? Wird hier gar unter dem Vorwand, dem Missbrauch der Justiz durch zahlungskräftige Unternehmen vorbeugen zu wollen, der Boden bereitet für den Missbrauch der Justiz durch die Politik? Wenn man die Stimmungsmache im Europäischen Parlament gegen große Konzerne wie Google beobachtet, könnte man fast zu diesem Schluss kommen. Es bleibt abzuwarten, ob die Ablehnung privater Schiedsgerichte wirklich der Herrschaft des Rechts dienen wird.

Photo: blu-news.org from flickr (CC BY-SA 2.0)

Eigentlich gibt es nur noch zwei Wege aus dem Dilemma Griechenlands. Entweder die EZB springt kurzfristig ein, erhöht die Ela-Kredite entsprechend und verschafft der griechischen Regierung indirekt wieder Liquidität oder es kommt zum Graccident, also der mehr oder weniger ungeplante Austritt Griechenlands aus dem Euro-Club. Ein Kredit des ESM, wie ihn Tsipras jetzt formal beantragt hat, geht sehr wahrscheinlich schon aus zeitlichen Gründen nicht mehr. Die Ausweitung der Ela-Kredite ist jedoch durchaus möglich. Immerhin betrugen sie 2012 auch schon einmal 120 Milliarden Euro. Derzeit liegen sie bei „nur“ 90 Milliarden Euro. Hier wäre unter Beugung des Rechts ohne weiteres mehr möglich. Damit käme man vielleicht sogar über den August und hätte Zeit, die Verhandlungen fortzusetzen.

Es ist aber das unwahrscheinlichere Szenario von beiden. Wahrscheinlicher erscheint nun doch ein Graccident. Gar nicht so sehr, weil die restlichen Euro-Club-Mitglieder vom hin und her der griechischen Regierung langsam aber sicher buchstäblich die Schnauze voll haben. Hier ist die Leidensfähigkeit noch nicht endgültig ausgereizt. Eigentlich würden Merkel, Schäuble, Juncker und Draghi alles dafür tun, den Euro-Raum als Ganzes zu erhalten. Zu sehr fürchten sie das Signal des Scheiterns ihres Krönungsprojektes der europäischen Einigung und den Ausfall der Griechenland-Kredite.

Nein, das Graccident wird letztlich von der griechischen Regierung durch deren Verweigerung eingeleitet. Seit deren Regierungsübernahme bluffen Tsipras und sein ehemaliger Finanzminister Varoufakis. Sie kündigten an, relativierten, widersprachen und verhandelten neu. So ging es nunmehr schon fast ein halbes Jahr. In der Zwischenzeit haben sie weder die Reichen besteuert, noch den Militäretat reduziert, geschweige denn die Günstlingswirtschaft beendet. Warum soll man Einschnitte vornehmen, wenn die Schuldenlast immer weiter steigt.

Aus Sicht des Ministerpräsidenten Alexis Tsipras ergibt dieses Vorgehen Sinn. Die griechische Regierung unter Tsipras kann nicht aktiv aus dem Euro ausscheiden, dazu ist die Gemeinschaftswährung in Griechenland selbst zu beliebt. Das zeigen alle Umfragen. Einem 3. Hilfspaket kann Tsipras ebenfalls nicht zustimmen, denn das würde ihn die Akzeptanz in seiner eigenen Partei, in der Bevölkerung und bei den Linken rund um den Globus kosten.

Bei Letzteren sind wir bei des Pudels Kern: Alexis Tsipras will der neue Che Guevara der Linken auf dieser Welt werden. Dazu sind die Voraussetzungen gut. Nach dem Tod von Hugo Chávez in Venezuela und dem krankheitsbedingten Abgang von Fidel Castro in Kuba fehlt es der internationalen Linken an einer Identifikationsfigur. Wenn selbst Kuba wieder diplomatische Beziehungen zu den USA aufbaut, Vietnam in China die größere Bedrohung sieht und den alten Klassenfeind Amerika um Hilfe bittet, und wenn China weite Teile der Welt kapitalistisch überholt, dann braucht es ein Momentum, um die linke Jugend überall auf der Welt wieder zu elektrisieren. Dieses Momentum wäre das Graccident. Der ungeplante Austritt Griechenlands aus dem Euro-Raum wäre in den Augen der Linken weltweit das Produkt des Kapitalismus und dessen Schuldknechtschaft. Dafür steht buchstäblich der IWF als Teil der Troika und besondere Reizfigur der Linken.

Diese Agenda passt zu Tsipras wie die Faust aufs Auge. Tsipras wurde schon als Schüler in der Kommunistischen Jugend Griechenlands und später in der Kommunistischen Partei politisch sozialisiert. In den 1980er und 1990er Jahren waren es Fidel Castro und Che Guevara, die die Linke weltweit fasziniert haben. Das wird wohl auch bei Tsipras so gewesen sein. Es war der Kampf gegen den „amerikanischen Imperialismus“, der sich in der Politik des IWF und der Weltbank ausdrückte. Tsipras ist ein brillanter Redner, ist charismatisch und jung – so wie einst sein Vorbild Che Guevara. Es wird Tsipras daher besonders gefreut haben, dass Che Guevaras Mitkämpfer Fidel Castro ihm vom Krankenbett aus die herzlichsten Glückwünsche zum gewonnenen Referendum geschickt hat.

Wir werden in Südosteuropa daher in den nächsten Monaten und Jahren ein neues sozialistisches Experiment erleben. Griechenland wird unter Tsipras aus dem Euro-Club gedrängt, wird parallel eine eigene Währung einführen, die die linke Regierung dann selbst inflationieren kann. So wie Che Guevara das auch gemacht hat. Er war in seiner kubanischen Zeit sogar Chef der dortigen Zentralbank und hinterließ der Nachwelt den Satz: „Unsere Freiheit und unser tägliches Brot tragen die Farben des Blutes und stecken voller Opfer.“ Alles für ein höheres Ziel – eine sozialistische Welt von morgen.

Photo: Navin75 from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin Dr. Merkel,

vor wenigen Tagen wurde bekannt, dass Sie am 11. Oktober 2011 in einem von der NSA abgehörten Telefongespräch Ihre Sorge geäußert haben, dass selbst ein zusätzlicher Schuldenschnitt die Probleme in Griechenland nicht lösen könnte. Einen Tag zuvor hatte ich die notwendigen 3500 Unterschriften für einen Mitgliederentscheid in der FDP gegen den Europäischen Stabilitätsmechanismus und weitere Hilfen für Griechenland beim damaligen Generalsekretär der FDP, Christian Lindner, abgegeben. Insofern hat uns beide zum gleichen Zeitpunkt die Sorge umgetrieben, dass die von Ihnen angestoßene Griechenland-Rettung nicht funktionieren wird.

Wie Sie wissen, habe ich am 7. Mai 2010 beim 1. Griechenland-Paket im Deutschen Bundestag erklärt, dass Griechenland nicht in der Lage sein werde, mit seiner Wirtschaft die Mittel zu erwirtschaften, die zur Schuldenreduzierung notwendig seien, solange Griechenland Mitglied der Eurozone sei. Notwendig wäre dafür ein Produktivitätsfortschritt der griechischen Wirtschaft von 30 Prozent, der in dieser kurzen Zeit nicht erreicht werden könne.

Der von Ihnen befürchtete Schuldenschnitt kam in zweifacher Ausführung im Frühjahr und Herbst 2012. Trotz des größten Schuldenerlasses in der Nachkriegsgeschichte hat Griechenland heute mehr Schulden als vor der Krise. Doch anders als zum Zeitpunkt Ihres nun bekanntgewordenen Telefonats sind die Gläubiger nicht mehr private Investoren, sondern fast ausschließlich staatliche Geldgeber. Es ist das eingetreten, was die Linken uns immer vorwerfen: Die Gewinne werden privatisiert und die Verluste sozialisiert.

Doch das ist vergossene Milch. Was können Sie in dieser Situation jetzt und heute tun? Meine Empfehlung ist: Sorgen Sie dafür, dass das Recht in Europa wieder zur Geltung kommt. Die griechische Regierung darf innerhalb des Euros kein weiteres Hilfspaket bekommen, da die Schuldentragfähigkeit bislang nicht gegeben war und sie auch künftig nicht gegeben ist.

Bedenken Sie bitte, dass die neue griechische Regierung unter Alexis Tsipras seit dem 27. Januar 2015 im Amt ist. Seitdem hat diese Regierung faktisch nichts unternommen, um die Einnahmen zu erhöhen sowie die Ausgaben zu reduzieren. Nach wie vor werden die Reeder in Griechenland nicht besteuert, fast 70 Milliarden Steuerforderungen werden nicht eingetrieben, und nach wie vor hat Griechenland einen der größten Militäretats pro Kopf der Bevölkerung in der Welt. Ich glaube inzwischen, dass dahinter nicht die Unfähigkeit der dortigen Regierung steckt, sondern eine Strategie, die zum Ziel hat, dass die Regierung Tsipras schon längst die Zeit nach dem Euro plant. Nur sie wollen nicht selbst den Euro aufgeben müssen, sondern sie wollen Sie, Wolfgang Schäuble, Mario Draghi und Jean-Claude Juncker für die Übergangsprobleme verantwortlich machen. Diese Strategie hat im Januar schon zum Wahlsieg von Syriza geführt. Die Maßnahmen der Troika und der Staatengemeinschaft wirkten wie Doping für die radikalen Kräfte in Griechenland.

Die Staatengemeinschaft sollte der Wahrheit ins Gesicht schauen und mit Griechenland über den Ausstieg aus dem Euro verhandeln. Der Ausstieg als Gegenleistung für einen Schuldenschnitt und anschließende Aufbauhilfen. Das wäre für beide Seiten ein akzeptabler Kompromiss. Es wäre in gegenseitigem Interesse. Heute infiziert Griechenland mit der ständigen Rechtsbeugung alle anderen Krisenstaaten in Europa. Gleichzeitig zwingt die Staatengemeinschaft Griechenland einen immer stärkeren Souveränitätsverzicht auf. Das hält keine Demokratie auf Dauer aus.

Nur wenn Risiko und Verantwortung wieder eine Einheit werden, nur wenn Regierungen und Staaten auf der einen Seite und Banken und andere Investoren auf der anderen Seite für ihr Handeln haften, nur dann hat der Euro als Gemeinschaftswährung eine Chance.

Mit freundlichen Grüßen
Frank Schäffler

Erstmals erschienen in der Fuldaer Zeitung am 4. Juli 2015.

Photo: Steffen Zahn from Flickr (CC BY 2.0)

Von Justus Lenz, Leiter Haushaltspolitik bei Die Familienunternehmer/Die Jungen Unternehmer

50,1 Prozent – das ist nicht etwa die Staatsquote in Deutschland (die liegt aktuell laut Bundesfinanzministerium bei 44 Prozent). Nein, es handelt sich um die Wahlbeteiligung bei der jüngsten Landtagswahl in Bremen. In den vergangenen Jahren gab es natürlich auch höhere Beteiligungsraten – die Tendenz ist jedoch deutlich rückläufig. Dies gilt gerade auch für Kommunalwahlen. Je höher die Quote der Nichtwähler, desto lauter das Lamentieren über die niedrige Wahlbeteiligung. Die einen schütteln resigniert den Kopf über die Menschen, die einfach nicht begreifen wollen, wie wichtig das Wählen ist. Die anderen wollen gleich eine Wahlpflicht durchsetzen.

Trotz aller Empörung: Vielleicht verhalten sich die Menschen einfach nur rational, wenn sie nicht zur Wahl gehen? Ein möglicher Grund hierfür könnte unser komplexes und verworrenes föderales System sein. Zurzeit gibt es keine klare Zuordnung von Entscheidungskompetenzen auf die verschiedenen Ebenen, wodurch die politische Verantwortung verschwimmt. Politiker können sich leicht hinter anderen Ebenen verstecken, während die Bürger die Folgen politischer Handlungen kaum mehr nachvollziehen können. Vor allem können sie in solch einem System die Folgen politischer Handlungen mit ihrer Wählerstimme kaum noch belohnen oder bestrafen. Die Wählerstimme verliert massiv an Wert.

Geprägt wird diese ineffiziente Anreizstruktur vor allem auch durch die verflochtenen Finanzbeziehungen. Das regionale Steueraufkommen wird über mehrere Stufen – eine davon ist der eigentliche Länderfinanzausgleich – so lange umverteilt, bis die Unterschiede nivelliert, ja teilweise umgekehrt werden. Gleichzeitig fehlt den Ländern die Autonomie, über ihre Ausgaben und Einnahmen selbst zu bestimmen. Stattdessen entscheidet der Bund beispielsweise über die Höhe der Steuersätze bei der Erbschaftsteuer, die dann an die Länder fließt. Die Situation der Kommunen ist vergleichbar. Auch sie haben nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten, über die Höhe ihrer Einnahmen zu entscheiden. Auf der Ausgabenseite kann der Bund sowohl Ländern als auch Kommunen Zusatzlasten aufbürden, ohne für deren Finanzierung zu sorgen.

Die Vereinfachung der komplexen föderalen Finanzbeziehungen würde sicher nicht von heute auf morgen zu rasant steigenden Wahlbeteiligungen führen. Aber die Transparenz von politischen Entscheidungen würde so gestärkt und damit auch die demokratische Kontrolle. Dies könnte die Attraktivität von Kommunal- und Landtagswahlen deutlich steigern.

Praktischerweise müssen die föderalen Finanzbeziehungen ohnehin bis 2020 neu geordnet werden. Der Länderfinanzausgleich läuft Ende 2019 aus, ebenso der Solidarpakt II. Zugleich tritt die Schuldenbremse ab 2020 für die Bundesländer in Kraft. Diese historisch einmalige Situation sollten wir nutzen, um unsere Demokratie zu stärken. Die große Koalition könnte hier zeigen, dass sich das Adjektiv „groß“ nicht nur auf die Zahl der Sitze im Bundestag bezieht, sondern auch auf den politischen Gestaltungswillen.

Photo: Tommy Hemmert Olesen from Flickr (CC BY-ND 2.0)

Sind Tsipras und Varoufakis verrückt oder steckt hinter ihrem Vorgehen doch eine Strategie? Ersteres überwiegt derzeit in der Berichterstattung. Sie seien unberechenbar, unfähig und undankbar, wird überall gerufen. Die beiden Griechen hätten gar keine Strategie, sondern würden nur pokern und die Wirklichkeit würde sie jeden Tag aufs Neue einholen. Doch vielleicht steckt dahinter doch eine Strategie, die in zwei Phasen abläuft.

Die erste Phase vollzog sich direkt nach dem Wahlsieg Anfang des Jahres. Varoufakis und Tsipras bereisten die Hauptstädte Europas, um zu sondieren, ob eine Mehrheit im Euro-Club für eine große Schuldenkonferenz möglich sei. Beide wollten die unter der Last ihrer Schulden ächzenden Länder Italien, Spanien und Portugal für ihr Anliegen gewinnen. Der Versuch, den Euro-Club auseinander zu dividieren, misslang sehr schnell. Sowohl in Rom und Madrid als auch in Lissabon holte sich Tsipras eine Abfuhr.

Seitdem verfolgen sie die zweite Phase ihrer Strategie, die zum Austritt Griechenlands aus der Eurozone führen soll. Schon seit die Regierung Anfang des Jahres ins Amt kam, wurde eigentlich nichts getan, um die Einnahmen des griechischen Staates zu erhöhen und die Ausgaben zu senken. Teilweise ist sogar das Gegenteil erfolgt, indem bereits entlassenes Personal wieder eingestellt wurde. Anders als die Vorgängerregierungen hat die aktuelle nicht einmal den Schein gewahrt, sondern hat einfach nichts gemacht. In dieser Phase ging es nur darum, Zeit zu gewinnen. Dabei wurden Zugeständnisse gemacht und wieder zurückgezogen, Vereinbarungen getroffen und wieder gebrochen, um anschließend in unzähligen Sondersitzungen weiter zu beraten. Bis dahin hat sich die griechische Regierung mit kurzlaufenden Anleihen über Wasser gehalten, so genannten T-Bills, die von den nationalen Banken gekauft wurden, die wiederum dieses Geld über Ela-Kredite von ihrer Notenbank erhalten haben.

Letzte Woche wurde nun bekannt, dass Angela Merkel in letzter Minute Tsipras ein 3. Hilfspaket, eine faktische Umschuldung und ein Investitionsprogramm in Höhe von 35 Milliarden Euro angeboten habe. Und dennoch verfolgte Tsipras das Ziel, den IWF-Kredit am 30.6. nicht zurückzuzahlen und seine Volksabstimmung durchzuführen.

Warum, muss man sich fragen. Wenn es eine Umschuldung durch eine Zinsreduktion und vielleicht sogar eine Verlängerung der Kredite gegeben hätte, wäre dies einem Schuldenschnitt gleichgekommen. Ein Investitionsprogramm von 35 Milliarden wäre ein erneuter Marshall-Plan für Griechenland gewesen. Und ein drittes Hilfspaket wurde ohne die Erfüllung des zweiten plötzlich doch möglich. Faktisch hat Merkel all das angeboten, was die griechische Regierung in anderen Worten über Monate verlangt hat. Eigentlich hat Tsipras das Chicken Game auf ganzer Linie gewonnen. Wieso schlägt er dennoch nicht ein?

Eine logische Erklärung ist, dass er etwas ganz anderes will. Er will eine Situation schaffen, in der Griechenland aus dem Euro austreten kann, ohne dass dies ihm und seiner Partei angelastet wird. Tsipras und Varoufakis wissen, dass ein solcher Plan in der griechischen Bevölkerung nicht beliebt wäre, und der restliche Euro-Club ebenfalls kein Interesse daran hat. Gilt doch das Merkelsche Dogma: „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa“.

Wie häufig in der Geschichte kommt es auf die Frage an, wem am Ende die Schuld gegeben wird. Dreht die EZB die Ela-Kredite zu, schließen die Banken und kommen Kapitalverkehrskontrollen – wer ist dann daran schuld? Ist es die linke Regierung oder sind es Merkel und Schäuble? Es geht also um die Frage, welche Geschichte später erzählt wird. Ein Austritt aus dem Euro, bei dem die Syriza-Regierung der Troika, Merkel und Schäuble die Schuld geben kann, ist vielleicht die einzige Chance für das politische Überleben von Tsipras und Varoufakis. Und genau darum geht es. In ihren Augen ist der Euro ein Korsett, der nach deutschem Vorbild geschaffen wurde und das für Griechenland ungeeignet ist. Tsipras ist Sozialist, Varoufakis ist ebenfalls ein sozialistischer Ökonom, der sicherlich näher bei Keynes als bei Milton Friedman ist. Wenn das so ist, wollen Sie den Zugriff auf die Geldpolitik der eigenen Notenbank gewinnen, um hierüber eine eigene Konjunkturpolitik zu betreiben. Sie wollen nicht von Draghi und Weidmann abhängig sein, sondern darauf selbst direkt Einfluss nehmen. Das setzt aber natürlich voraus, dass Griechenland ausscheidet.

Deshalb wird der Vorschlag einer Parallelwährung des deutschen Ökonomen Thomas Mayer aktuell. Mayer hat sein Konzept vor einigen Wochen bereits Tsipras und Varoufakis in Athen vorgestellt. Es sieht vor, dass die griechische Regierung ihre Beamten und Angestellten mit Schuldscheinen bezahlt, die dann handelbar werden und aus denen sich eine Parallelwährung entwickelt.

Das Konzept ist nicht deshalb aktuell, weil dadurch ein gleitender Übergang vom Euro zu einer neuen Währung möglich wird. Denn die Abwertung dieses Geuros würde ebenso schnell verlaufen, wie ein direkter Übergang zu einer neuen Währung. Hier gilt das alte Gesetz: Das schlechte Geld verdrängt das gute. Die Euros werden gehortet und die Geuros werden so schnell wie möglich ausgegeben. Aber das Parallelwährungskonzept von Thomas Mayer hat für Tsipras und Varoufakis den Vorteil, dass sie nicht selbst den Bruch mit dem Euro-Club erklären müssen, sondern die EZB und die Staatengemeinschaft immer mehr Maßnahmen ergreifen müssen, die dazu führen, dass Griechenland aus dem Euro hinausgedrängt wird. Damit können Tsipras und Varoufakis der EZB, Schäuble und Merkel von Tag zu Tag mehr die Schuld in die Schuhe schieben.

Der Nachteil an diesem Plan ist, dass ich persönlich immer angenommen habe, dass Tsipras den aufgeweichten Vorschlägen von Merkel am Ende zustimmen wird. Deshalb habe ich schon vor einigen Wochen angekündigt, dass ich „einen Besen fressen werde“, wenn die Insolvenz und der Austritt Griechenlands aus dem Euro stattfindet. Dass Tsipras ein ganz anderes Chicken Game spielt, konnte ich mir nicht vorstellen. Das ist für mich persönlich nur schwer zu verdauen!

Erstmals erschienen auf Tichys Einblick.