Photo: Christopher L. from Flickr. (CC BY 2.0)

Von Robert Nef, Stiftungsratsmitglied des Liberalen Instituts der Schweiz, Zürich.

Die EU beruht auf einem veralteten, territorialen, etatistischen und korporatistischen Konzept, dessen Ursprünge in die Nachkriegszeit und in die Zeit des Kalten Krieges zurückreichen. Sie verfolgt explizit und implizit sechs Hauptziele: Friedens- und Verteidigungsunion, aussenpolitische Union, Wirtschafts-, Währungs-, Fiskal- und Sozialunion. Von den sechs Zielen sind aus liberaler Sicht lediglich das erste und dritte — und von diesem auch nur die Deregulierung, nicht aber die Harmonisierung und das organisierte Zusammenwirken von Lobbyisten und EU-Bürokratie (Crony Capitalism) — interessant. Die andern vier gefährden nicht nur die nationale Eigenständigkeit der Mitglieder, sondern grundlegende liberale Werte. Aufgrund der allzu ambitiösen Ziele hat die EU unabsehbare zentralistische Entwicklungstendenzen. Und weil wichtige Mitgliedsländer derzeit in Finanznöten stecken, übt sie deswegen zunehmend Druck auf die Schweiz aus.

Die EU ist von ihrer Entstehungsgeschichte und von ihren Strukturen her ein Versuch, die Krisen des national strukturierten, sozialdemokratischen Industriezeitalters auf supranationaler bzw. kontinentaler Ebene zu überwinden. Eigentlich werden aber die durch eine allgemeinverbindliche demokratisch legitimierte nationale Gesetzgebung auf den ersten Blick nicht mehr lösbaren Probleme, zum Beispiel in der Währungspolitik, in der Migrationspolitik und in der tickenden Zeitbombe der kollektiven Altersvorsorge, einfach auf die europäische Ebene gehoben. Die grosse Schwäche der EU im Bereich der Legislativen hängt mit der Tatsache zusammen, dass in einem Staatenverbund, der an sich noch weniger zentralistisch sein sollte wie ein Bundesstaat, mit der EU- Kommission eine einzige schlecht legitimierte zentralistische Institution geschaffen wurde, die angeblich die auf den Verfassungsvertrag abgestützten allgemeinverbindlichen Gesetze erlassen soll. Der Streit um die Gewichtung der nationalen Stimmenanteile bei der kollektiven Meinungsbildung lässt nichts Gutes ahnen. Was daraus folgt, ist eine Verstärkung der heutigen Exekutiv- und Richterherrschaft. Dies täuscht darüber hinweg, dass man einem Kontinent einen Zentralstaat aufzwingen will, dessen historisch-politische Strukturen allenfalls eine nach aussen offene Freihandelsassoziation und allenfalls noch einen auf Frieden und gemeinsame Sicherheit ausgerichteten Staatenbund nahelegen. Schon ein Bundesstaat mit einem funktionierenden Zweikammersystem, in dem die Kleinen, Bevölkerungsschwachen gleiche Mitbestimmungsmöglichkeiten hätten wie die Grossen, wäre – anders als in den USA und in der Schweiz – in der EU nicht konsensfähig. Weder die USA noch die Schweiz kennen übrigens die höchst fragewürdige Praxis des zentralstaatlichen „bail out“ eines bankrotten Gliedstaates.

Die EU ist mithin ein rückwärtsgewandtes Projekt, das im strukturkonservativen Denken des Merkantilismus, der korporatistisch gezähmten bzw. gefesselten Marktwirtschaft, des Kalten Krieges und des entmündigenden Daseinsvorsorgestaates verhaftet geblieben ist und das für die globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts schlecht gerüstet ist. Die Europäer stehen vor der Wahl, ob sie durch noch mehr Regulierung, Zentralisierung, Umverteilung und Harmonisierung eine Legitimitätskrise und eine Vollzugskrise ansteuern wollen, oder ob sie noch rechtzeitig den Aufbruch wagen zu offenen Strukturen, in denen autonome Zivilgesellschaften mit kleinen, eigenständigen, schlanken und kostengünstigen politischen Strukturen und in grundsätzlich benutzerfinanzierten oder privatisierten Infrastrukturen friedlich konkurrieren und kooperieren, um unter vielfältigen Lösungen die jeweils adäquateste zu ermitteln und kontinuierlich zu adaptieren.

Mit dieser durchaus in der bürgerlichen Tradition verankerten Option hat die europäische Idee Zukunft. Die Europäer müssen ihre Vielfalt wahren und pflegen und den Weg zu einer neuen EFTA im ursprünglichen Sinn einer – New European Free Trade Association = NEFTA – beschreiten, einer nach innen und aussen offenen Gemeinschaft in der die Mitglieder hohe Autonomie geniessen. Aus diesem Grund sollten wir Europäer die Ambitionen der politisch-administrativen nationalstaats-ähnlichen Megastruktur und allfällige Weltmachtträume hinter uns lassen. Europa braucht enge und flexible wirtschaftliche und kulturelle Kontakte auf der Basis des fremdherrschaftsfreien Tauschs. Europa braucht auch jenen Frieden, den es im Lauf der Jahrhunderte immer wieder selbst zerstört hat. Als Basis einer gemeinsamen Sicherheitspolitik genügt ein robustes Friedensbündnis gestützt auf nationale Streitkräfte, welche die Defensive sicherstellen und interne und allenfalls gegenseitig wieder aufflammende Aggressionsgelüste im Keim ersticken können und auf international vernetzten aber grundsätzlich autonom funktionierenden Geheimdiensten zur Bekämpfung des Terrorismus und der grenzüberschreitenden Kriminalität.

Anstelle des unlesbaren Verfassungsvertrags von Lissabon wäre ein kurzes Dokument wie die Magna Charta Libertatum oder der Bundesbrief der alten Eidgenossen in Erwägung zu ziehen. Freihandel entsteht nicht durch neue komplizierte bilaterale und multilaterale Regeln, sondern durch den von den Beteiligten selbstbestimmten, im eigenen Interesse offerierten und vollzogenen schrittweisen Abbau bestehender Schranken.

 

Photo: Joe deSousa from Flickr.com

Kulturpessimismus, Angst vor der Globalisierung, Innovationsfeindlichkeit und Besitzstandwahrung sind uralte Phänomene. Ängste und Sorgen, die heute auf der linken wie auf der rechten Seite des politischen Spektrums geschürt werden, haben schon vor fast 3000 Jahren Menschen verrückt gemacht.

Zeitlos: der Mythos der Verfallsgeschichte

Bereits Hesiod, nach Homer der älteste abendländische Schriftsteller, den wir kennen, hat in seinem Hauptwerk, der Theogonie, den Mythos der verschiedenen Zeitalter der Menschheit erzählt – als Verfallsgeschichte, an dessen Beginn das Goldene und an dessen Ende das Eiserne steht. Die Vorstellung, dass alles immer schlimmer wird, dass das Neue und Fremde auf jeden Fall schlechter ist als das Alte und Bekannte, scheint ein menschlicher Urmythos zu sein. Und bis heute erfreut er sich hoher Beliebtheit, obwohl doch der Blick zurück uns eigentlich eines Besseren belehren sollte. Wie wenig sich die Ängste von Grünen, Sozialisten und Konservativen von denen der Antike unterscheiden, zeigt auf anschauliche Weise ein Text des griechischen Schriftstellers Aratos von Soloi aus dem 3. Jahrhundert vor Christus.

Dieser Dichter aus dem antiken Kilikien, einem Gebiet, das heute im Südosten der Türkei liegt, hat der Nachwelt ein Werk hinterlassen, das die ganze Antike hindurch hoch im Kurs stand: Phainomena. Er beschreibt dort die Sternenwelt, durchbricht aber seine Beschreibungen immer wieder mit Anekdoten und Erzählungen – so auch über den Wechsel und Verfall der Zeitalter. Wenn man sich den Text genauer ansieht, dann kann man erkennen, dass viele der Ängste und Sorgen, die er beschreibt, noch heute in unseren Köpfen herumspuken. Diese Geschichte handelt von der „Gerechtigkeit“, die früher ganz offen auf der Erde herumwandelte, sich im Laufe der Zeit aber immer mehr zurückzog. Sehen wir uns ein paar Formulierungen genauer an:

Der widernatürliche Wettbewerb

Zu jener Zeit kannten die Menschen noch nicht das hasserfüllte Streben, den mäkelnden Wettbewerb oder das Lärmen des Krieges. Sie lebten vielmehr ein einfaches Leben.“ Heute würde man sagen: „Früher gab es noch nicht die Ökonomisierung aller Lebensbereiche“. Die Idee, dass das Bedürfnis, besser zu sein als andere – das Streben, der Wettbewerb – etwas moralisch Verwerfliches ist, haben mitnichten Zeit-Redakteure erfunden. Sie entspringt vielmehr unserem Denken in Kleingruppen, wie es Hayek und Popper so anschaulich beschrieben haben. Im Rahmen einer kleinen Gemeinschaft kann das Unterfangen, besser zu sein als andere, für den Rest der Gruppe bedrohlich sein. Wer im Konkurrenzkampf in einer so kleinen Gruppe unterliegt, konnte existentiell gefährdet sein. In einer Gesellschaft der Arbeitsteilung und des Tausches sind solche Ängste jedoch nicht mehr rational. Sie sind durch die Entwicklung der Marktwirtschaft längst überholt.

Aber viele wollen eben gerne zurück zu jenem einfachen Leben von früher. Nicht, weil sie auf Toiletten und Kitas, Auslandsstudium und Internet verzichten wollten. Sondern weil sie die Last der Moderne zu stark empfinden. Weil ihnen deren Unübersichtlichkeit und Schnelligkeit zu einer Qual wird. Sie wollen sich nicht mehr mit anderen messen und wollen Veränderung vermeiden. Sie wollen eine übersichtliche Welt, in der sie alles unter Kontrolle haben können. Die Sehnsucht nach dem einfachen Leben hat eben oft genauso viel mit der Abgabe von Verantwortung zu tun wie mit dem Bedürfnis zu kontrollieren und beaufsichtigen.

Antikapitalismus und Fremdenfeindlichkeit

Das grausame Meer war weit weg von ihnen und die Schiffe brachten noch nicht von Ferne her die Güter, die sie zum Leben brauchten.“ Das Misstrauen gegen Händler ist so alt wie der Handel selbst. Da spielt die Empörung mit hinein darüber, dass es Menschen gibt, die sich ihr Auskommen nicht im Schweiße ihres Angesichts und mit „ehrlicher Arbeit“ verdienen, sondern einfach nur, indem sie Waren vom einen zum anderen bringen. Die Gewinnmarge hat aus dieser Sicht etwas Betrügerisches, denn man schlägt etwas auf den Preis ohne eigentlich etwas dafür geleistet zu haben. Es sind die Vorfahren der Spekulanten und Heuschrecken, der gierigen Profiteure und Raubtierkapitalisten. Das Gegenteil dazu sind die einheimischen Bauern, deren Produkte man besser kaufen sollte – oder wie man im Großbritannien der 30er Jahre sagte: „Buy british!“

Und noch ein zweiter Aspekt spielt hinein in diese Aversion gegen den Händler: die Angst vor oder gar die Feindlichkeit gegenüber dem Fremden. Der Soziologe Georg Simmel hat das in seinem 1908 erschienen „Exkurs über den Fremden“ gut herausgearbeitet: „In der ganzen Geschichte der Wirtschaft erscheint der Fremde allenthalben als Händler bzw. der Händler als Fremder. Solange im wesentlichen Wirtschaft für den Eigenbedarf herrscht oder ein räumlich enger Kreis seine Produkte austauscht, bedarf es innerhalb seiner keines Zwischenhändlers; ein Händler kommt nur für diejenigen Produkte in Frage, die ganz außerhalb des Kreises erzeugt werden.“ Während die einen den Händler verachten, weil er nicht ehrlich arbeitet, sehen die anderen in ihm vor allem den Fremden, der eine Bedrohung der eigenen Lebenswelt darstellt, in der man es sich so schön eingerichtet hat. Noch einer jener Bereiche, in denen sich Antikapitalisten und Nationalisten die Hand reichen können.

Wir brauchen keine auf Erden wandelnde Gerechtigkeit!

Reichlich wurden ihre Bedürfnisse erfüllt vom Ochsen und Pflug und von der Gerechtigkeit, der Königin der Menschen und der gerechten Zuteilerin der Gaben.“ Wenn nur jemand gerecht zuteilt, dann ist für jeden genug da. Das ist der große Irrtum, der sich leitmotivisch nun schon über die Jahrtausende hinweg verbreitet. Aratos hätte durchaus schon bei seinem Landsmann Aristoteles nachschlagen können, der bereits hundert Jahre vorher in seiner „Nikomachischen Ethik“ zwischen Verteilungs- und Tauschgerechtigkeit unterschieden. Es gehört zum Wesen der Tauschgerechtigkeit, dass alle Beteiligten diesen Tausch durch ihre Zustimmung als vorteilhaft für sich und mithin als gerecht qualifizieren. Und erst durch diese Dynamik des Tauschens und Handelns kommen wir in eine Lage, dass unsere Bedürfnisse immer reichlicher (!) erfüllt werden können. Dazu braucht es keine auf Erden wandelnde Gerechtigkeit – ob sie im Gewand einer Göttin daherkommt oder in dem eines Politikers …

Was Aratos aus dem 3. Jahrhundert vor Christus mit den Konservativen, Grünen und Sozialisten des 21. Jahrhunderts verbindet, ist die Furcht vor Veränderung, vor dem Neuen und dem Unbeherrschbaren. Was sie unterscheidet ist, dass Aratos seinen Kulturpessimismus als intellektuelle Marotte pflegte, während Politiker besagter Couleur aus dieser Furcht politische Maßnahmen ableiten. Sie hemmen Entwicklungen und beschränken Freiheit. Und das nur, weil sie Bildern und Vorstellungen anhängen, die durch die Entwicklung der Menschheit seit den Tagen des Hesiod und des Aratos Generation um Generation widerlegt worden sind.

Wissen Sie übrigens, wer es in Hesiods Erzählung war, der das Ende des Goldenen Zeitalters einläutete? Prometheus – indem er den Menschen das Feuer brachte und sie aus der Abhängigkeit von den Göttern befreite!

Photo: Tim Samoff from Flickr. (CC BY-ND 2.0)

Man hört in Deutschland zuweilen den Vorwurf, die Meinungsfreiheit sei eingeschränkt, da sie nur noch eine formale Hülle sei. Die öffentlich-rechtlichen Medien würden die veröffentlichte Meinung beherrschen. Selbst zwischen den großen Medienhäusern gebe es ein faktisches Agreement, was politisch korrekt sei und damit veröffentlich werden dürfe. Als Beispiele werden angeführt die zu einseitig verurteilte Rolle Russlands in der Ukrainekrise oder jüngst auch der Umgang mit dem Autor Akif Pirinçci nach seiner Pegida-Rede in Dresden.

Er hat weiter ein Forum

Beides trifft nicht zu. Schon alleine das Internet und die sozialen Medien sichern die Pluralität der Meinungen. Selbst Putin hat mit dem Sender RT in Deutschland inzwischen ein Sprachrohr, das die offizielle russische Sicht der Dinge in die sozialen Medien und die deutsche Öffentlichkeit feuert. Das unterscheidet Deutschland und den Westen von Russland, wo Pressevielfalt und Medienfreiheit in den letzten Jahren immer stärker bedrängt werden.

Bei Pirinçci werden die Reaktionen seines Verlages, der seine Bücher nicht mehr verlegen will, und von Amazon kritisiert, der die Bücher aus seinem Onlineshop nehmen wollte. Diejenigen, die dies monieren, tun dies häufig mit Bezug auf das berühmte Zitat, das eigentlich Voltaire zugeschrieben wird, aber von der englischen Schriftstellerin Evelyn Beatrice Hall stammt: „Ich missbillige, was du sagst, aber ich werde bis zum Tod dein Recht verteidigen, es zu sagen.“

Pirinçcis Rede bei Pegida war nicht nur vulgär und geschmacklos. Sie war auch rassistisch und fremdenfeindlich, vom Anfang bis zum Ende. Punkt! Manche meinen, jetzt mit Relativismus und Pseudotoleranz darauf reagieren zu müssen. Die Zeitschrift „eigentümlich frei“, für die ich bislang geschrieben habe, kündigt sogar prominent an, seine Bücher verkaufen zu wollen. Nicht aus der Überzeugung heraus, dass Pirinçci recht hat, sondern aus einer Haltung des grundsätzlichen Widerstands gegen „die Herrschenden“ heraus. Nach dem Motto: seine Feinde sind auch unsere Feinde. Dafür möchte ich mich nicht weiter hergeben.

Falsch verstandene Toleranz

Was die Verteidiger Pirinçcis nicht erkennen: es ist eine falsch verstandene Toleranz, die Feinde der Toleranz zu tolerieren. Ludwig von Mises stellte schon 1927 in seinem Buch „Liberalismus“ fest: „Der Liberalismus aber muss unduldsam sein gegen jegliche Art von Unduldsamkeit. … Weil er Duldung aller Meinungen … verlangt, muss er alle in ihre Schranken zurückweisen, wenn sie mit Intoleranz hervortreten.“ Im Kern übernehmen diejenigen, die nun für  Pirinçci  in die Bresche springen, die Methodik der Linksextremen in den 1970er Jahren: Es ist der Kampf gegen das System, bei dem auch Allianzen gebildet werden, die nur der gemeinsame Hass gegen den Staat und seine Institutionen zusammenhält. Das führt zu Radikalisierung und Sektierertum, Marginalisierung und Isolierung. In dieser Isolation merkt man dann oft nicht mehr, dass man doch nur eine kleine Minderheit ist. Gegenseitige Bestätigung und eine Haltung der Abschottung führen dann mithin zu einer noch stärkeren Radikalisierung.

In diesem Prozess ist die Gefahr groß, dass man die eigenen Grundsätze ignoriert, die man an anderer Stelle hochhält. Wo sind denn in der Causa Pirinçci die Haftung und die Übernahme von Verantwortung für eigenes Handeln? Beim Staat und bei Banken, bei Politikern und beim Establishment ist man schnell bereit, das einzufordern. Aber die Reaktion auf Akif Pirinçci wird als Angriff auf die Meinungsfreiheit gebrandmarkt. Nichts ist abwegiger: Pirinçci hat seine Rede nicht nur vorab angekündigt und vor einem großen Publikum vorgetragen, sondern durfte sich nach den Erfahrungen der letzten Jahre auch absolut sicher sein, dass sie in den sozialen Netzwerken breit diskutiert und kommentiert würde.

Auch Akif Pirinçci ist für sein eigenes Handeln verantwortlich. Verantwortung zu übernehmen, fängt nicht erst bei überschuldeten Banken und den Ländern Südeuropas an, sondern vor der eigenen Haustür. Wenn sich Verlage und Buchhändler nicht mittelbar für die Äußerungen Pirinçcis in Haftung nehmen lassen wollen, dann ist das ihr gutes Recht. Denn es ist ihr Eigentum, das sie durch die Auslistung und die Kündigung der Verträge schützen wollen. Es ist auch kein gutes Argument, zu sagen, es beträfe auch die völlig unpolitischen Bücher von ihm – so schade es um die Katzen sein mag. Wer sich selber als Person so inszeniert, darf sich nicht wundern, wenn er als Person auch zur Rechenschaft gezogen wird.

Moderne Medien gewährleisten Meinungsfreiheit

Niemand wir daran gehindert, seine Bücher selber zu verlegen und selber zu verkaufen. Es gibt auch sicherlich Verlage im In- und Ausland, die Bücher eines Rassisten veröffentlichen. Das Internet und die sozialen Netzwerke erleichtern deren Veröffentlichung und Verbreitung sogar enorm. Die Meinungsfreiheit ist heute viel besser gewährleistet als dies in der Vor-Internetzeit überhaupt denkbar war. Klar ist aber auch: die Zugangswege zu den potentiellen Kunden sind ohne Amazon und Co. sicherlich nicht so breit und vielfältig. Doch was heißt das für die Toleranten der Intoleranz? Wollen sie hier die Chancengleichheit einfordern, die sie sonst als „Wieselwort“ bezeichnen. Sollte der Staat umverteilen, damit Chancengleichheit realisiert wird, vielleicht sogar eine neue Demokratieabgabe als Chancengleichheits-GEZ einführen? Nein, das kann die Antwort nicht sein. Die Gleichheit vor dem Recht ist das Entscheidende und für deren Durchsetzung sollten deshalb Liberale streiten.

Wenn sich nach Pirinçcis Auftritt in Dresden nun viele Journalisten und Verlage, aber auch viele Individuen – wie ich – von ihm distanzieren, dann ist das in den meisten Fällen kein Opportunismus und kein Kuschen vor der öffentlichen Meinung. Dann ist das Ausdruck der Überzeugung, dass Meinungsfreiheit nicht gleichbedeutend ist mit Indifferenz. Diese Formen des Protestes gegen Äußerungen wie die Pirinçcis, erfüllen genau das, was Mises schrieb: „Den Kampf gegen das Dumme, das Unsinnige, das Irrige, das Böse führt der Liberale mit den Waffen des Geistes und nicht mit roher Gewalt und Unterdrückung.“

Dieser Beitrag erschien zuerst auf Tichys Einblick.

Berichtigung

Unter https://prometheusinstitut.de/keine-toleranz-der-intoleranz/ ist am 19. November 2015 unter der Überschrift „Keine Toleranz der Intoleranz“ in Bezug auf die Zeitschrift „eigentümlich frei“ formuliert worden „Die Zeitschrift „eigentümlich frei“, […] kündigt sogar prominent an, [Pirinçcis] Bücher verlegen […] zu wollen.“ Soweit hierdurch der falsche Eindruck entstanden sein sollte, dass die Lichtschlag KG mitgeteilt habe, es würden künftig Bücher von Herrn Akif Pirinçci verlegt, stellen wir hiermit richtig, dass die Lichtschlag KG lediglich mitgeteilt hat, dass Pirinçcis gerade erschienenes Buch „Die große Verschwulung“ über die Lichtschlag KG bezogen werden kann. Die Lichtschlag KG vertreibt das Buch von Akif Pirinçci; weder verlegt sie aktuell das Buch von Akif Pirinci, noch hat sie angekündigt, solches zukünftig zu tun.

Photo: Mike Beales from Flickr (CC BY-ND 2.0)

Forderungen nach einer „Demokratisierung“ der EU laufen meist auf eine Stärkung von EU-Instanzen wie Parlament und Kommission heraus. Demokratie funktioniert jedoch umso besser, je mehr auf überschaubaren Ebenen entschieden wird. Die baltischen Staaten haben eine solche überschaubare Größe und sind auch darüber hinaus vorbildlich.

Demokratie: der Bürger als Wächter seiner eigenen Interessen

Es ist ein grundlegendes Missverständnis, Demokratie lediglich mit einem Abstimmungsmodus oder einer Institution zu verbinden. Demokratie heißt vor allem auch, wie es der englische Historiker Lord Acton einmal formulierte, „jeden Bürger zum Wächter seiner eigenen Interessen zu machen“. Darum ist es durchaus sinnvoll, dass wir etwa bei der Beschreibung unseres Staatswesens stets von einer „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ sprechen. Die EU wird nicht demokratischer, wenn ein Parlament gemeinsam Entscheidungen trifft über Steuern, Ausgaben und Gesetze für über 500 Millionen Menschen von Gibraltar bis Lappland, von Zypern bis Nordirland. Die EU wird demokratischer, wenn mehr Entscheidungen auf möglichst niedriger Ebene gefällt werden können. Ursprünglich stand dieses Subsidiaritätsprinzip ja auch einmal an der Wiege der Europäischen Union. Leider wurde es von dort bald in den Antiquitätenschrank verbannt, wo es nur noch für Sonntagsreden herausgeholt wird.

Eine wirkliche Demokratisierung der Europäischen Union würde darin bestehen, möglichst kleinen Einheiten möglichst große Kompetenzen zuzugestehen. Entscheidend für das Gelingen dieses Konzepts ist, dass die Einheiten eine überschaubare Größe haben. Verantwortlichkeiten müssen klar zu durchschauen sein. Konsequenzen aus politischen Entscheidungen klar definierbar und für die Betroffenen spürbar. Und Exit-Optionen müssen mit nicht allzu hohen Kosten verbunden sein. Bei einer weitgehend einheitlichen EU bleibt neben der Schweiz und Norwegen (die man sich erst einmal leisten können muss) nur noch die Auswanderung auf einen anderen Kontinent. Das sind bei weitem zu hohe Kosten für eine „Abstimmung mit den Füßen“.

Small is beautiful

Viele europäische Staaten sind eigentlich bereits zu groß, um die oben beschriebenen Kriterien zu erfüllen. Die baltischen Staaten haben hingegen Größen, die der sinnvollen Organisation eines freiheitlich-demokratischen Gemeinwesens durchaus noch angemessen sind: Litauen mit 2,9 Millionen, Lettland mit etwa 2 Millionen und Estland mit 1,3 Millionen Einwohnern. Litauen ist also etwas kleiner als Berlin, Lettland so groß wie Ostwestfalen-Lippe und Estland wie der Regierungsbezirk Unterfranken.

Bei solchen Größen kennt man sich zwar nicht mehr persönlich, aber man teilt doch ähnliche Lebenswelten und kann den Nutzen oder Schaden von Entscheidungen noch verhältnismäßig gut übersehen. Hier ist das Einfallstor noch schmal für eine Umverteilung, die lauter Sonderinteressen bedient. Hier ist die Kontrolle von Politikern noch relativ leicht durchzuführen, einschließlich der Möglichkeiten, auf sie Druck auszuüben. Hier sind Politik und Bürokratie noch nicht in der vollen Anonymität und Symbolik verschwunden wie das bereits in den meisten europäischen Staaten der Fall ist, von der EU ganz zu schweigen.

Erfolgsgeschichten im Baltikum

Sicherlich tragen viele unterschiedliche Faktoren dazu bei, dass die baltischen Staaten in den Jahren seit ihrer Unabhängigkeit im Ganzen gesehen Erfolgsgeschichten geschrieben haben. Dennoch ist der Faktor der Größe nicht unwesentlich, weil sich viele Reformen und Innovationen überhaupt nur in diesem kleinen Kontext durchsetzen ließen. Denn kleine Einheiten sind nicht nur sehr viel einfacher echter demokratischer Kontrolle zu unterwerfen – kleine Einheiten sind auch ungleich flexibler, wenn es darum geht, auf Krisen zu reagieren oder unkonventionelle Wege zu beschreiten.

In allen drei Staaten wurden nach deren wiederhergestellter Unabhängigkeit im Jahr 1991 sehr umfassende marktwirtschaftliche Reformen in Gang gesetzt. Dieser Geist hat sich auch bis heute in großen Teilen durchgehalten und gehört zum Konsens der meisten politischen Parteien in den drei Ländern. Lettland hat sich aus einer massiven wirtschaftlichen Krise zwischen 2008 und 2010 durch für europäische Verhältnisse unerhörte Reform-Maßnahmen rasch wieder herauskatapultiert. Die Stellen im öffentlichen Sektor wurden um ein Drittel abgebaut, Löhne und Gehälter gekürzt und das Staatsdefizit nachhaltig reduziert. Die Folge war ein deutlicher Rückgang von Inflation, Arbeitslosenrate und ein deutlicher Anstieg des Wirtschaftswachstums. Eine Expertenstudie aus dem Jahr 2012 stellte fest: „Der Erfolg Lettlands lehrt, dass ein flexibler Arbeitsmarkt, verbesserte Rahmenbedingungen für Unternehmen und ein breiter gesellschaftlicher Konsens für Reformen eine wichtige Rolle spielen, um die Krise zu überwinden.“

Ein Europa, das dem Bürger dient

Nur Luxemburg hat im Euro-Raum eine ähnlich niedrige Staatsschuldenquote wie Estland (10,2% des BIP), Litauen (35,7 %) und Lettland (36,0 %). Gleichzeitig haben die drei Länder auch mit die niedrigsten Staatsquoten in Europa (Estland: 38,8 %; Lettland: 36,9 %; Litauen: 34,9 %). Während EU-weit die Arbeitslosigkeit seit dem Jahr 2010 nur um 0,3 % reduziert worden ist, ist sie in Litauen von 17,8 auf 9,6 Prozent zurückgegangen, in Lettland von 18,7 auf 9,8 und in Estland gar von 16,9 auf 5,7 Prozent. In allen drei Ländern gibt es eine Flat Tax und ein verhältnismäßig geringes Maß an Regulierungen – soweit das im Rahmen der EU noch möglich ist. Insbesondere Estland hat auch eine bemerkenswerte politische Kultur: Man kann dort per SMS wählen, es gibt die Möglichkeit einer e-residency und in fast 7 der 24 Jahre estnischer Unabhängigkeit wurde das Land von Ministerpräsidenten regiert, die unter 40 Jahre alt waren – der amtierende Taavi Roivas kam vor anderthalb Jahren im Alter von 34 Jahren ins Amt.

Eine langfristige Perspektive für die EU kann sich an diesen Staaten orientieren, die in vielerlei Hinsicht moderner sind als die großen Nationalstaaten im Westen Europas. Das wäre eine EU, in der kleinen Einheiten ein möglichst hohes Maß an Eigenständigkeit zugestanden wird. Die Brüsseler Politik und Bürokratie würden von ihrem Status als Planer zurückgestuft auf den von Diplomaten und Wächtern. Ihre Rolle bestünde darin, die Zusammenarbeit der kleinen Einheiten in verschiedenen Clubs (wie beispielsweise Schengen oder der Euro-Zone) zu koordinieren und eventuell auch eine gemeinsame Sicherheitspolitik zu koordinieren. Und sie bestünde ganz wesentlich darin, die Einhaltung der vier Grundfreiheiten der Europäischen Union zu überwachen und durchzusetzen. Alle anderen Hoheitsrechte würden hingegen auf jene Einheiten übertragen, wo sie der Bürger tatsächlich und real kontrollieren und bestimmen könnte. Es wäre ein Europa der Bürger, das den ursprünglichen Geist der Demokratie wieder ernst nimmt: jeden Bürger zum Wächter seiner eigenen Interessen zu machen. Es wäre ein Europa, das den Fortschritt fördert, dem Frieden dient und die Freiheit garantiert.

Photo: Klaus Pagel from Flickr (CC BY-ND 2.0)

Die Vorschläge des britischen Premiers David Cameron zur Reform der Europäischen Union sind ambitioniert, nicht nur inhaltlich, sondern auch zeitlich. Zeitlich deshalb, weil er bereits in den ersten Monaten des kommenden Jahres Ergebnisse präsentieren muss, damit er möglichst noch 2016 die Wähler über den Verbleib Großbritanniens in der EU abstimmen lassen kann. Zwar hätte er Zeit bis Ende 2017, jedoch wollen die Briten vor der wichtigen Präsidentschaftswahl in Frankreich und vor der Bundestagswahl in Deutschland zu Potte kommen.

Schon deshalb ist zu befürchten, dass der große Wurf bei den Verhandlungen ausbleibt. Das wäre sehr schade. Ein großer Wurf täte der EU eigentlich sehr gut. Ihre Krise ist nicht in erster Linie eine Flüchtlings- oder Euroschulden-Krise, sondern das Fehlen eines Ordnungsrahmens. Es ist die brüchige Architektur, die das Haus Europa ins Wanken bringt.

Die Europäische Union ist wie ein Mehrfamilienhaus. Das Fundament des Hauses ist eigentlich ganz solide und stabil. Dieses Fundament sind die Grundfreiheiten der Römischen Verträge: Freier Waren- und Dienstleistungsverkehr, freier Kapitalverkehr und die Personenfreizügigkeit. In diesem Mehrfamilienhaus gibt es viele Wohnungen, kleine und große. Was die Eigentümer der Wohnungen nicht alleine erledigen können, wird gemeinschaftlich gemacht. Gemeinsam finanziert man daher eine Hausverwaltung.

Seit dem Bau des Mehrfamilienhauses ist es mehrfach umgebaut und erweitert worden. Neue Eigentümer sind eingezogen und die Hausverwaltung, die ursprünglich nur in einem kleinen Zimmer im Dachgeschoss untergebracht war, hat inzwischen mehrere Etagen in Besitz genommen. Vor einigen Jahren klopfte der Eigentümer einer kleineren Wohnung auf der Südseite an die Tür und bat um Hilfe, da er die Kreditzinsen für die Eigentumswohnung nicht mehr bezahlen konnte. Die übrigen Mieter steckten die Köpfe zusammen und beschlossen, ihm solidarisch zu helfen. Immerhin wohnt man ja im selben Haus. Doch nachdem dem einen geholfen wurde, kamen weitere und baten um Hilfe. Irgendwann hatten 15 der 28 Eigentümer das gleiche Problem oder befürchteten, dass sie bald in die gleiche Situation kämen und beschlossen mehrheitlich, dass die verbliebenen 13 die Kreditzinsen aller zu bezahlen hätten. So ähnlich ist die Situation in der Eigentümergemeinschaft der Europäischen Union. Die Eigentümer sind in unserem Beispiel die Mitgliedsstaaten und die Hausverwaltung die EU-Kommission.

Jetzt kommt der Wohnungseigentümer, der im westlichen Pavillon lebt, auf die Idee, dass er nicht mehr zu den 13 Zahlern gehören will, der die 15 anderen finanziert. Er droht mit Auszug und befragt seine Familienmitglieder. Der Gruppe der 15 ist es egal, ob der Exot im Pavillon auszieht oder nicht. Sie hoffen darauf dass die verbleibenden 12 Finanzierer den Wert der Wohngemeinschaft höher einschätzen als deren Verfall. Der Bewohner des Pavillons war eh derjenige, der am wenigsten solidarisch war. Er wollte immer eine Extrawurst. Soll er doch gehen und schauen, was er davon hat.

So ist die Situation Großbritanniens in der EU. Man ist Nettozahler, aber ungeliebt, weil man sich immer wieder Sonderrechte herausnimmt, sei es die Einschränkung der Personenfreizügigkeit, den Britenrabatt oder die Euro-Abstinenz. Berühmt ist deshalb der Satz der legendären britischen Premierministerin Margaret Thatcher, die 1984 in Richtung Brüssel rief: „I want my money back“, als es um die Finanzierung des EU-Subventionen für die europäische Landwirtschaft ging. Die Eiserne Lady sah nicht ein, das der britische Steuerzahler für die großzügigen „Eigentumswohnungen“ der anderen in Europa bezahlen sollte. Sie hat damit viel mehr als andere den Geist der Römischen Verträge durchdrungen. Die Grundfreiheiten der Römischen Verträge sind gerade nicht das Einfallstor für Umverteilung und Subventionen, sondern basieren auf individuelle Entscheidungen von Einzelnen, die mal richtig liegen und mal falsch. Doch Entscheidungen werden individuell verantwortet und nicht, kollektiviert, sobald Probleme auftauchen.

Deshalb ist das kurze Zeitfenster bis zum Referendum der Briten eine historische Chance, die Architektur der EU neu aufzusetzen. Das Prometheus-Institut hat dazu vor einer Woche in der FAZ Vorschläge für ein konföderales Europa gemacht. Wir wollen damit eine grundsätzliche Diskussion in ganz Europa beginnen, die über das Jetzt hinausgeht. Diese Vorschläge bauen auf der großen Tradition liberaler Denker in Europa auf. Bereits 1993 haben liberale Think Tanks und Wissenschaftler aus ganz Europa institutionelle Reformvorschläge in der European Constitutional Group gemacht, die auch mehr als 20 Jahre später ihre Richtigkeit nicht verloren haben.

Der eine oder andere wird meinen, dass das doch zu abstrakt sei, dass uns aktuell doch ganz andere Probleme bewegen. Wer das meint, verkennt, dass die derzeitigen Probleme bei der gemeinsamen Währung oder im Schengen Raum ihre Ursachen im falschen oder unzureichenden Ordnungsrahmen haben. Wenn wir das Haus Europa auch auf die Zukunft hin zu einem belastbaren Bau machen wollen, müssen wir es grundsanieren und können uns nicht damit abfinden, kleine Renovierungsarbeiten vorzunehmen.