Photo: Andrew Gomzyakov from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Wer sich mit Politik beschäftigt, ob professionell oder amateurhaft, spekuliert oft nur zu gerne über die Motive politischer Akteure. Die Gefahr ist groß, dass einem die Phantasie dabei durchgeht und man das eigentliche Problem und seine Lösungsmöglichkeiten aus dem Blick verliert.

Die neoliberale Weltverschwörung

Als Margaret Thatcher zwischen 1979 und 1990 Politik und Ökonomie Großbritanniens einem radikalen Wandel unterwarf und massive Reformen durchführte, da sahen die allermeisten ihrer Kritiker eine neoliberale Verschwörung am Werk. Ausbeuterische Großkonzerne und deren Helfershelfer in der Politik wollten in dieser Erzählung die Arbeiter ausplündern und das ganze Land zurück in die finsteren Zeiten des 19. Jahrhunderts katapultieren. Wer sich etwas eingehender mit Thatcher beschäftigt, wird sich ein sehr anderes Bild machen müssen. Zumindest in der Außendarstellung und mit sehr großer Wahrscheinlichkeit auch in ihrer Selbstwahrnehmung sah das ganz anders aus. In einer Rede, die sie 1977 in Zürich hielt, sagte sie:

„In unserer Weltsicht ist das Ziel des Einzelnen nicht, ein Diener des Staates und von dessen Zielen zu sein, sondern seine Talente und Begabungen so gut wie möglich zu entfalten. Das Gefühl der Selbständigkeit, eine Rolle zu spielen innerhalb einer Familie, selber Eigentum zu besitzen, für sein eigenes Leben aufzukommen – all das ist Teil des spirituellen Gewichts, das die Verantwortlichkeit der Bürger erhält. Und es stellt das solide Fundament bereit, von dem aus Menschen um sich blicken könne, um zu erkennen, was sie darüber hinaus noch tun können: für andere und für sich selbst. Das meine ich mit einer moralischen Gesellschaft. Nicht eine Gesellschaft, wo der Staat für alles Verantwortung trägt und keiner für das Gemeinwesen.“

Tatort-Kommissare auf heißer Spur

Wer von vornherein bereits „weiß“, dass Thatcher Teil der neoliberalen Weltverschwörung ist, der wird auch diese Worte für eine glatte Lüge halten, obwohl sie die Freiheit des einzelnen ebenso hochhalten wie die Forderung nach einem Gefühl gegenseitiger Verantwortlichkeit. Dieses Wissen über die Motive von Akteuren ist wahrlich eindrucksvoll. Der Wissende scheint bisweilen einen tieferen Einblick zu haben als andere Menschen. Er weiß, dass Großkonzerne TTIP nutzen, um uns ihre lebensgefährlichen Produkte und ausbeuterischen Arbeitsbedingungen aufzudrücken. Er weiß, dass Angela Merkel mit ihren einwanderungspolitischen Entscheidungen Deutschland islamisieren möchte. Und er weiß – mitunter zeitigt die Motivjagd unbeabsichtigt Satire –, dass die EU den ganzen Kontinent ihrer neoliberalen Agenda zu unterwerfen trachtet.

Woher rührt dieses Bedürfnis, Politik wie einen Sonntagabend-Tatort zu behandeln, bei dem die Suche nach dem Motiv den Ermittlern des nachts den Schlaf raubt? Wahrscheinlich sind unterschiedliche Faktoren dafür verantwortlich: Die Liebe zum Drama und zur gut erzählten Geschichte, die den Menschen immer schon fasziniert hat – von Homer bis „House of Cards“. Die Beobachtung, dass Politiker ja tatsächlich nicht immer Vorreiter an der Wahrhaftigkeitsfront sind, und das (durchaus sehr nachvollziehbare) Gefühl einer Entfremdung von der Politik. Und nicht zuletzt das dringende Bedürfnis, ein überschaubares Weltbild zu haben, das man selber immer gut unter Kontrolle hat. Denn indem man über das Motiv eines Akteurs spekuliert oder gar behauptet, es zu kennen, sichert man sich die Deutungshoheit und überkommt das Gefühl der Ohnmacht, das einen angesichts politischer Entscheidungen und Entwicklungen zuweilen überkommen kann.

Die Suche nach dem Motiv als Ersatzhandlung für echtes Engagement

Dabei ist die Motivsuche in sehr vielen Fällen kaum wirklich möglich. Wer wirklich finstere Motive hat, wird diese oft genug selbst vor den engsten Vertrauten verschleiern. Da jeder Mensch gerne gut dastehen möchte vor anderen und auch vor sich selbst, werden auch die allermeisten für sich in Anspruch nehmen, nur aus ganz und gar hehren Motiven heraus zu handeln. Wahrscheinlich liegt die Wahrheit irgendwo in der Mitte. Menschen handeln ja in den meisten Fällen aus mehreren unterschiedlichen Motiven: da sind solche, die man als altruistisch bezeichnen würde, ebenso vertreten wie solche, die die Brandmarke „egoistisch“ tragen. Darüber hinaus sind die Handlungen von politischen Akteuren häufig abhängig von vielen anderen Faktoren. Pfadabhängigkeiten spielen eine herausragende Rolle. Aber auch Verpflichtungen gegenüber anderen Akteuren, taktische Entscheidungen und auch der reine Zufall beeinflussen das Handeln (und das Denken) der Entscheidungsträger.

Wer sich zu intensiv damit beschäftigt, in der Politik Muster aus Macbeth oder „Verbotener Liebe“ zu identifizieren, gerät leicht in Gefahr, sich in seiner Phantasiewelt zu verlieren. Die Suche nach dem Motiv kann zu einer Ersatzhandlung für echtes Engagement werden. Viel wichtiger ist die Beschäftigung mit den tatsächlichen Folgen und Auswirkungen der politischen Entscheidungen. Ganz egal, ob man die Einführung des Mindestlohns für fatal hält, Waffenexporte ablehnt oder Deregulierung für Teufelswerk ansieht – Einsicht in die Motive der Urheber würde einen keinen Schritt weiterbringen. Was aber leicht passiert, wenn solche Motive vermeintlich identifiziert werden, ist eine massive Vergiftung der Atmosphäre. Als Margaret Thatcher vor drei Jahren starb, gab es tatsächlich Freudentänze auf den Straßen in Großbritannien. Den Motivjägern in allen Parteien ins Stammbuch: In der Realität zählt nicht, warum jemand etwas tut, sondern was er tut und welche Folgen das hat. Wer sich darauf konzentriert, hat nicht nur die reelle Chance, etwas zu verändern, sondern trägt auch dazu bei, den zivilisierten Rahmen des politischen Diskurses zu bewahren.

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Von Dr. Hubertus Porschen, Vorsitzender des Verbandes „Die Jungen Unternehmer„, CEO von iConsultants.

Deutschland steht vor einer großen gesellschaftlichen Herausforderung. 2015 sind mehr als eine Million Menschen in unser Land gekommen. Und auch in diesem Jahr sind weiterhin viele auf der Flucht. Wie können wir Unternehmer dazu beitragen, damit aus dieser Herausforderung neue Chancen entstehen? Fest steht: Integration gelingt nur, wenn Flüchtlinge nicht abseits unserer Gesellschaft leben. Statt in Flüchtlingsunterkünften zum Nichtstun verdammt zu sein, müssen wir ihnen ermöglichen, in Arbeit zu kommen – Mitarbeiter und Kollegen zu werden. Eine geregelte Beschäftigung und Unabhängigkeit sind wichtige Bestandteile der menschlichen Würde. Und: Wenn Flüchtlinge ihr eigenes Geld verdienen, entlastet das auch unsere Sozialsysteme.

Eine Agenda „Arbeit für Flüchtlinge“

Deshalb müssen wir uns die Frage stellen: Wie schaffen wir in kurzer Zeit bis zu 1 Million zusätzliche Arbeitsplätze für Menschen, die zumeist weder die deutsche Sprache beherrschen noch hier gängige Berufsqualifikationen mitbringen? Das erfordert ein Reformpaket, das weit über die Agenda 2010 hinausgeht. Über sie sind ca. 800.000 Arbeitslose in Beschäftigung gekommen – allerdings bei weitem nicht in nur einem Jahr. Bei Anhalten des jetzigen Flüchtlingszustroms müsste unsere Volkswirtschaft jedes Jahr etwa so viele Menschen zusätzlich in Lohn und Brot bringen. Es wird also um den richtigen Mix aus Marktwirtschaft und intelligenten staatlichen Anreizen gehen, die dabei helfen, Chancengleichheit zu ermöglichen. Dazu müssen die Regierungsparteien endlich umschalten: Statt „Erste-Hilfe-Maßnahmen“ benötigen wir zügig eine strategisch und dauerhaft angelegte Agenda „Arbeit für Flüchtlinge“.

Die Rahmenbedingungen müssen stimmen

Diese muss Bildung und Arbeit in den Mittelpunkt stellen und zudem vieles gleichzeitig ermöglichen: Flüchtlingen starke Anreize zur eigenen Qualifizierung bieten. Arbeitgeber motivieren, Flüchtlinge zu beschäftigen, aus- und weiterzubilden. Und zugleich Investitionen und Wachstum in Deutschland zu beschleunigen. Vorab: Die Bemühungen zur Integration dürfen möglichst wenig „Sonderregelungen“ schaffen. Durch ihre Incentivierung darf die Politik inländische Arbeitnehmer nicht benachteiligen. Bei allen Maßnahmen muss es darum gehen, Chancengleichheit zu ermöglichen. Zu der schwierigen Frage, wie wir Flüchtlinge also bestmöglich in den Arbeitsmarkt integrieren, stellen wir jungen Unternehmer und Familienunternehmer folgende erste Ideen zur Diskussion:

Spracherwerb und Ausbildung

Flüchtlinge haben in unserer hochentwickelten Volkswirtschaft nur Chancen, wenn sie unsere Sprache beherrschen und sich aus eigenem Antrieb qualifizieren. Wir haben die Idee, vor die Aufnahme einer Ausbildung oder Berufstätigkeit eine staatliche „Vorausbildung“ vorzuschalten, die an zwei Tagen/Woche Sprach- bzw. Staatskundeunterricht und an drei Tagen/Woche ein Praktikum im Betrieb vorsieht. Daran kann eine „triale“ Ausbildung anschließen, bestehend aus praktischer Ausbildung, Berufsschule und Spracherwerb. Die dritte Säule kann zu einer Verlängerung der Ausbildungszeit auf vier Jahre führen. Die Leistung des Ausbildungsbetriebs liegt darin, dem Azubi an sämtlichen Tagen, die er im Betrieb tätig ist, einen vollwertigen Rahmen für seinen praktischen Spracherwerb zu bieten von der Fachsprache bis zur Umgangssprache, den er sonst so in keiner Sprachschule vorfinden würde. Diese Leistung wird über einen Dienstleistungsvertrag vom Staat mit 1.000 Euro pro Monat pro Flüchtling für die ersten beiden Ausbildungsjahre honoriert. Von diesem Zuschuss finanziert der ausbildende Betrieb zusätzliche Sprachlehrer und den Wettbewerbsnachteil, wenn sich erfahrene Facharbeiter mehr um diese Azubis kümmern müssen, als um Kunden und Produkte.

Öffnung des Arbeitsmarktes

Der aktuelle Aufwind des Front National in Frankreich sowie die Situation in den Banlieues zeigt, welche Abwärtsspirale mangelnde Integration in Gang setzen kann. Statt den Arbeitsmarkt für Flüchtlinge zu öffnen, hat ihn die sozialistische Regierung unter François Hollande lange Zeit noch stärker zugeschnürt. Gesellschaftliche Integration funktioniert jedoch nur über eine Integration in den Arbeitsmarkt. Und: Gesellschaftliche Integration ist die Basis für soziale Stabilität. Sie ist für uns Unternehmer der wichtigste Standortfaktor.

Wichtige Reformanstrengungen müssen deshalb in der Öffnung und Flexibilisierung des Arbeitsmarktes bestehen. Hierzu einige erste Ansätze:

  • Ein Praktikum sollte 12 Monate ohne Mindestlohn möglich sein. So können Flüchtlinge erste Berufserfahrung sammeln und Unternehmer deren Fähigkeiten in der Praxis bewerten
  • Asylberechtigte sollten sofort in Zeitarbeitsfirmen arbeiten dürfen. Die aktuell geplante Verschärfung der Regulierung der Zeitarbeit und der Werkverträge wirkt kontraproduktiv, da auf diesem Weg viele Migranten Arbeit finden.
  • Damit die Unternehmen, trotz der geringen Qualifikationen vieler Flüchtlinge risikobereiter bei den Einstellungen werden, muss der Kündigungsschutz reformiert und schrittweise in ein Abfindungsmodell umgewandelt werden.
  • Bei der „trialen Ausbildung“ sollte der Kündigungsschutz gelockert oder ganz ausgesetzt werden, damit die Einstellungsbereitschaft der Unternehmer steigt.
  • Darüber hinaus fordern wir, dass die Sozialversicherungsbeiträge halbiert werden für alle zusätzlichen Stellen, die in Deutschland zunächst bis 2020 geschaffen werden – egal ob für Migranten oder für hiesige Arbeitslose. Um die zusätzlichen Stellen ohne zu viel Bürokratie zu erfassen, könnte die Jahreslohnsumme eines Stichjahres herangezogen werden.

Investitionen und Wachstum

1,6 Prozent Wirtschaftswachstum unserer Volkswirtschaft reichen bei weitem nicht aus, damit eine große Zahl zusätzlicher Arbeitsplätze innerhalb weniger Jahre entstehen kann. Deshalb müssen wir rasch Innovationen und Wachstum ankurbeln. Ein zügiges Inkrafttreten des Freihandelsabkommens TTIP kann beispielsweise neue Wachstumsimpulse freisetzen. Zudem brauchen wir mehr innovative Start-Ups. Dafür benötigen wir einen besseren Zugang zu Wachstumskapital. Damit Gründer schnell wachsen und Arbeitsplätze anbieten können, sollten wir sie in den ersten drei Jahren durch eine umfassende Bürokratie-Schutzglocke vor steuerrechtlichen und arbeitsrechtlichen Regulierungen schützen. Und nicht zuletzt: Ein schneller Aufbau von Personalkosten muss auch über ausreichend Eigenkapital gegen Konjunktureinbrüche abgesichert werden. Zugleich ist Eigenkapital wichtig zur Finanzierung von Investitionen, mit denen dann weitere Arbeitsplätze geschaffen werden. Daher muss Eigenkapital steuerlich mit Fremdkapital gleichgestellt werden.

Wir jungen Unternehmer und Familienunternehmer sind bereit, Flüchtlinge mit unseren oft hochtechnisierten Arbeiten vertraut zu machen und bei dieser gesamtgesellschaftlichen Verantwortung mitzuwirken. Jetzt kommt es auf die Politik an, die Weichen zu stellen, damit ein neues Wirtschaftswunder möglich werden kann.

Die Familienunternehmer und die Jungen Unternehmer haben im Dezember 2015 ein Diskussionspapier „1 Million Arbeitsplätze – wie schaffen wir das?“ veröffentlicht, das Sie hier finden.

Photo: Frank Jacobi from Flickr (CC BY-ND 2.0)

Das Bundessozialgericht hat Anfang Dezember entschieden: In Deutschland lebende EU-Ausländer haben ein Recht auf Sozialhilfe. Diese Entscheidung nutzt vor allem denjenigen, die Sozialleistungen missbrauchen sowie den Rattenfängern am rechten Rand. Sie schadet tendenziell den ehrlichen Migranten.

Paradies Sozialhilfe?

„Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind.“ So stellte das Bundesverfassungsgericht im Februar 2010 fest. Dieses menschenwürdige Leben wird etwas schwammig umrissen mit der Formulierung vom „typischen Bedarf zur Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums“.

Die Definition dieses „typischen Bedarfs“ hat schon zu viel bösem Blut geführt. Die Diskussionen reichen von „denen wird doch alles hinterher geworfen“ bis „bedürftige Menschen werden absichtlich zu kurzgehalten“, von „Sozialschmarotzer“ bis „bitterste Armut“. Die Wahrheit liegt wohl irgendwo in der Mitte: ein angenehmes Leben haben Sozialhilfeempfänger bestimmt nicht, verglichen mit bestimmt 90 Prozent der Weltbevölkerung sind sie aber immer noch ziemlich gut dran. Insofern ist der Gedanke durchaus naheliegend, dass Menschen sich auf den Weg machen, um diesen aus ihrer Sicht besseren Lebensstandard zu erlangen – zumal wenn sie, wie die EU-Bürger aus ärmeren Ländern, problemlos nach Deutschland kommen können.

Die wenigsten Menschen wollen von staatlichen Almosen leben

Nun ist zum Glück nicht die Mehrheit aller Menschen darauf aus, von staatlichen Almosen zu leben. Selbst verdientes Geld, eine sinnvolle Tätigkeit, eigene Leistung sind für die allermeisten Menschen, ob Deutsche, Rumänen, Albaner oder Eritreer, ein erstrebenswertes Ziel. Aber unter Deutschen wie unter Zuwandernden gibt es natürlich auch solche, die es sich mit dem Existenzminimum gemütlich machen. Unter Umständen ist der Anreiz für jemanden auch noch etwas höher, der aus einem Land kommt, in dem man mit sehr viel Fleiß und Geschick immer noch deutlich weniger verdient als den Sozialhilfesatz in Deutschland.

Ja, es gibt Missbrauch von Sozialleistungen. Und jeder einzelne, der diesen Missbrauch begeht, trägt dazu bei, dass pauschale Urteile über Sozialschmarotzer und Armutszuwanderer Nahrung bekommen. Das führt nicht nur dazu, dass sich hiesige Sozialhilfeempfänger immer wieder rechtfertigen müssen. Es führt auch dazu, dass Zuwanderern oft unterstellt wird, sie kämen wegen der Sozialleistungen. Das Urteil des Bundessozialgerichts ist deshalb ein Problem, weil es diese Wahrnehmung verschärft und den tatsächlichen Missbrauchern Tür und Tor öffnet.

Personenfreizügigkeit bewahren

Es ist dringend geboten, dass die Politik sich in dieser Frage bald zu einem Umdenken bewegen lässt. Zu den Forderungen, die der britische Premier Cameron im Blick auf das EU-Referendum in seinem Land durchsetzen möchte, gehört diejenige, EU-Bürgern in den ersten vier Jahren keine Sozialleistungen auszuzahlen. Und – man höre und staune – selbst Andrea Nahles hat sich vor einigen Tagen zu dem Thema geäußert: „Wir müssen die Kommunen davor bewahren, unbegrenzt für mittellose EU-Ausländer sorgen zu müssen.“ Camerons Vorschlag ist auf jeden Fall vernünftig. Er bewahrt vor allem das hohe Gut der Personenfreizügigkeit – die Krönung des gemeinsamen Binnenmarktes.

Mittel- und langfristig gibt es eigentlich nur zwei Alternativen: Die erste besteht darin, dass wir es beim status quo belassen oder ihn gar – auch dazu gibt es Bestrebungen – ausdehnen, indem wir uns in Richtung einer zentral gesteuerten und gemeinsam finanzierten EU-Sozialpolitik bewegen. Das wäre Zunder für das Feuer derjenigen, die das Gefühl wecken wollen, Deutschland sei das „Weltsozialamt“. Und es würde die Stimmung auch gegenüber arbeitswilligen Migranten stark verdüstern. Eine solche Lösung wäre mithin auch nicht im Sinne derjenigen, die die Chancen für Migranten verbessern wollen. Sie würde in der Konsequenz zu einer Abschottung und zu geschlossenen Grenzen führen. Denn je stärker ein Wohlfahrtsstaat ausgebaut ist, umso höher werden die Mauern um ihn errichtet.

Grenzen um den Wohlfahrtsstaat statt um das Land

Die andere Alternative besteht darin, Cameron zu folgen und die Grenzen nicht um das Land, sondern um den Wohlfahrtsstaat zu ziehen. Wer eine Renten- oder Lebensversicherung abschließt, kann erst nach einiger Zeit des Einzahlens substantielle Summen erhalten. Das ist die ökonomische Logik und die einzige Logik, nach der Versicherungen funktionieren. Der Wohlfahrtsstaat ist heute schon kein klassisches Versicherungssystem mehr, sondern eine Umverteilungsindustrie. Wir könnten wenigstens bei den Zuwandernden wieder auf den ursprünglichen Versicherungscharakter zurückgreifen. Sozialhilfe und ähnliche Leistungen sollten nur dem ausgezahlt werden, der bereits vorher eingezahlt hat.

Wenn wir unsere Systeme entsprechend umstellen – sowohl für Migranten aus der EU als auch von außerhalb –, dann kann man gleich zwei Ziele erreichen: Man nimmt den Populisten den Wind aus den Segeln, die Ängste schüren, der Kuchen werde für die Deutschen kleiner durch „Sozialschmarotzer“ aus dem Ausland. Vor allem aber werden wir nicht gezwungen, Freizügigkeit und Zuwanderung weiter zu beschränken, um das Sozialsystem funktionsfähig zu halten. So können auch weiterhin Menschen, die einen Arbeitsplatz bekommen, nach Europa und nach Deutschland kommen und dazu beitragen, dass der Wohlstand für alle wächst. Es mag hartherzig wirken, wenn man Migranten zunächst aus dem Sozialstaat ausschließt. Aber es ist der beste Weg, um zu vermeiden, dass sie nicht einmal mehr bei uns arbeiten können. Auch hier gilt, was Kurt Tucholsky einmal sagte: „Gut gemeint ist oft das Gegenteil von gut.“

Photo: Till Westermayer from Flickr (CC BY-SA 2.0)

In der nachrichtenarmen Zeit um Sylvester titelte die FAZ: „Finanzinvestoren kaufen Deutschland auf“. Fachleute würden für 2016 das höchste Übernahmevolumen in Deutschland seit dem Ausbruch der Finanzkrise 2007 erwarten. Schon einmal war dies ein großes Thema: 2005 entfachte Franz Müntefering eine Debatte, in der er Investoren mit Tieren verglich: die berühmt-berüchtigten Heuschrecken. Er sagte damals in der Bild am Sonntag. „Manche Finanzinvestoren verschwenden keinen Gedanken an die Menschen, deren Arbeitsplätze sie vernichten – sie bleiben anonym, haben kein Gesicht, fallen wie Heuschreckenschwärme über Unternehmen her, grasen sie ab und ziehen weiter.“ Das war nicht nur geschmacklos, sondern auch inhaltlich falsch. Doch die Kampagne des Sauerländers hat seine Wirkung nicht verfehlt. Die latente und bisweilen offen auftretende Kapitalismusfeindlichkeit in Deutschland wurde weiter angeheizt. Mit der Bankenkrise 2007/2008 und der dann einbrechenden Konjunktur nahmen die Übernahmegelüste dann aber auch sehr schnell ab.

Im letzten Jahr wurden jedoch wieder für 15,7 Milliarden Euro Übernahmen in Deutschland finanziert, der höchste Wert seit 2007. Umgekehrt waren deutsche Unternehmen an weltweiten Übernahmen in einem Volumen von 189 Mrd. Euro beteiligt. Dies ist der zweithöchste Wert seit 15 Jahren.

In einer Marktwirtschaft sind Unternehmensübernahmen nichts Verwerfliches oder Schlechtes. Sie können sogar für eine produktive Entwicklung in einer Volkswirtschaft stehen. Eigentümer suchen Nachfolger, Unternehmen wollen durch Zukäufe ihre Produktangebot erweitern, in neue Märkte vordringen oder Marktanteile gewinnen. Eine stärkere Internationalisierung des Handels kann ebenfalls der Grund sein, wie auch eine Diversifizierung der Währungsrisiken eines Unternehmens.

Doch eine wesentliche Ursache der aktuellen Entwicklung hat weniger etwas mit der Marktwirtschaft oder dem Kapitalismus zu tun, wie es „Münte“ seinerzeit unterstellt hat, sondern sie ist Ausdruck und Folge der Politik der Regierungen und ihrer Notenbanken. Die staatlichen Notenbanken sorgen durch ihre Niedrigzinspolitik und ihre Bilanzausweitung dafür, dass nicht nur die kurzfristigen Zinsen dauerhaft niedrig sind, sondern auch die langfristigen Zinsen gedrückt werden. Diese Politik subventioniert nicht nur die öffentlichen Haushalte bei den Finanzierungskosten des Schuldenberges, sondern macht auch die Finanzierung von Unternehmensübernahmen attraktiver.

Die Nachfrage steigt auch deshalb jetzt enorm an, weil daraus ein fast risikoloses Geschäftsmodell geworden ist: „Nimm mit nahe null Prozent Zinsen einen Kredit auf, finanziere damit die Übernahme und verkaufe das Unternehmen nach einigen Jahren gewinnbringend.“ Das ist sicherlich etwas vereinfachend dargestellt, da Private Equity-Unternehmen nach einer Übernahme nicht die Däumchen drehen, sondern das Unternehmen restrukturieren und damit produktiver und effizienter machen wollen. Doch schon die wachsende Nachfrage durch die Nullzinspolitik der Notenbanken lässt die Preise für Vermögensgüter steigen. Allein die niedrigen Kreditzinsen tragen dazu bei. Plötzlich werden Übernahmen möglich, die sich zu normalen Marktzinsen nie gerechnet hätten. Plötzlich werden Unternehmen überlebensfähig, die unter normalen Marktzinsen längst verschwunden wären. Und plötzlich werden Mondpreise für Unternehmen bezahlt, die unter normalen Markzinsen nie refinanzierungsfähig wären.

Es findet also eine künstliche Veränderung oder besser eine Pervertierung des Marktprozesses statt. Es ist keine Marktwirtschaft mehr, sondern eine von staatlichen Institutionen verzerrte Wirtschaft, in der Übertreibungen nicht kurzfristig bereinigt werden, sondern langfristig ausgesessen. Aus einzelnen Dellen werden Klumpen einer ganzen Volkswirtschaft, die immer größer und fundamentaler werden und deren Bereinigung, hin zu normalen Zuständen, schwere Wirtschafkrisen mit sich bringen wird. Die Notenbanken verursachen mit ihrer Zinsmanipulation asoziales Verhalten in der Wirtschaft. Unmoralisches Handeln zu Lasten Dritter wird nicht nur zugelassen, sondern aktiv gefördert. Wie lange geht so etwas gut?

Das Platzen von Vermögensgüterblasen ereignet sich immer dann, wenn die Nachfrager nach Vermögensgütern nicht mehr daran glauben, dass die Investition zu Ende geführt werden kann. Das kann in Folge eines Zinsanstieges durch die Notenbank verursacht sein oder langfristig durch das Aufzehren von Kapital einer Volkswirtschaft erfolgen. Letztlich ist die DDR nicht an der Höhe der Zinsen im Inland Pleite gegangen, sondern am nicht mehr vorhandenen Kapitalstock der Volkswirtschaft. Die Wertschöpfung der DDR-Wirtschaft war zu gering, um die Erneuerung ihrer selbst zu finanzieren. Irgendwann war einfach Schluss.

Und kurzfristig ist die Situation wie in einem Schnellballsystem. Diejenigen, die zuerst einzahlen, haben eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass sie durch künftige Einzahler einen Rückfluss mit Gewinn erhalten. Je spitzer die Pyramide verläuft und je länger an ihr gebaut wird, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Notenbank die Zinsen auf breiter Front nicht mehr kontrollieren kann. Soweit sind wir wahrscheinlich noch nicht. Ein paar Pfeile hat Mario Draghi noch im Köcher. Doch irgendwann sind auch diese verschossen, stumpf oder wirkungslos. Dann steigt die Unsicherheit, Panik bricht aus und einzelne Zahlungsausfälle werden zu einem Tsunami. Deshalb gilt: Glaube nicht dem staatlichen Wetterdienst, sondern beherzige die alte Bauernregel: Geht die Sonne feurig auf, folgen Wind und Regen drauf.

Photo: James Cridland from Flickr (CC BY 2.0)

Alle, die offene Grenzen lieben, können die aktuelle Entwicklung nur mit großer Besorgnis betrachten. Denn die Personenfreizügigkeit in Europa droht bald Geschichte zu werden. 26 Staaten innerhalb und außerhalb der EU haben sich dazu bekannt, auf Grenzkontrollen innerhalb des Schengenraums zu verzichten. Es gibt nicht sehr viele identitätsstiftende Momente in Europa. Die Personenfreizügigkeit innerhalb eines gemeinsamen Binnenmarktes gehört sicherlich dazu. Sie beruht auf einer gemeinsamen Übereinkunft, wie mit Einreisenden, Flüchtlingen und Asylbewerbern an den gemeinsamen Außengrenzen umgegangen wird. Sie werden dort kontrolliert, registriert und wenn nötig ein Asyl-Antrag inhaltlich geprüft. Innerhalb der 26 herrschen offene Grenzen. Das ist eine herausragende Errungenschaft, die in ihrer historischen Dimension gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Vielleicht gab es seit der frühen Neuzeit und der Ausbildung der Nationalstaaten in Europa noch nie einen so großen Grad an Freiheit, wo man in Europa leben oder arbeiten kann. Der Schengenraum ist wahrlich eine historische Errungenschaft. Ihn preiszugeben wäre nicht mehr und nicht weniger als eine Fehlentwicklung von epochaler Bedeutung.

Der Schengenraum und das Dubliner Abkommen werden heute als Schön-Wetter-Recht bezeichnet, das in der Praxis nie funktioniert habe. Das erinnert sehr stark an das zweite Krisenprojekt der EU – den Euro. Auch hier schleifte man die Regeln, als das Wetter schlechter wurde. Doch es ist nur eine Ausrede für das eigene Versagen.

Für Länder wie Griechenland oder Spanien änderte sich seit Schengen nicht viel. Sie müssen ihre Außengrenzen so kontrollieren, wie sie es auch vor der Schengenübereinkunft bereits tun mußten. Denn auch in der Vor-Schengenzeit mussten die Länder mit Außengrenzen Pässe und Visa prüfen, Flüchtlinge registrieren und Asyl-Verfahren durchführen. Ihre geographische Lage, ihre Nähe zur Türkei oder zu Nordafrika ist wie sie ist. Sicherlich ist es so, dass die Länder, die keine Schengenaußengrenzen haben, wie Deutschland oder Österreich, erhebliche Vorteile haben, doch auch Spanien und Griechenland haben durch den Schengenraum große Vorteile. Die Grenzen ihres Landes, die keine Schengenaußengrenzen sind, müssen sie nicht mehr überwachen. Also auch sie profitieren. Der Schengenraum hilft daher allen.

Am Montag haben Dänemark und Schweden wieder Grenzkontrollen eingeführt – erstmal vorübergehend. Für die Entwicklung trägt die Bundesregierung die Hauptverantwortung. Kurz vor Weihnachten hat der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Torsten Albig erklärt, durch sein Land seien seit Januar 2015 rund 60.000 Flüchtlinge mit Billigung der Behörden unregistriert nach Schweden ausgereist. „Weil sie uns klar gesagt haben, dass sie nach Schweden wollen“, so der SPD-Politiker in verblüffender Offenheit. Und er fügte hinzu: „Wir haben gegen Dublin III verstoßen“. Die eigene Regierung vollzieht das gleiche Sankt-Florians-Prinzip wie alle anderen Staaten. Deutschland ist Teil des Balkans geworden, zumindest seiner Flüchtlingsroute.

Diese Erosion des Rechtsstaats hat Angela Merkel vorangetrieben. Als sie am 5. September das Dubliner Abkommen aussetzte, nahm sie billigend in Kauf, dass der Schengenraum zerstört wird. Ihr Vorgehen war nicht, um es in Merkeldeutsch auszudrücken, „alternativlos“. Wenn ein Land wie Ungarn die Flüchtlinge an seinen Außengrenzen nicht humanitär betreuen kann, dann ist nicht die einzige Alternative, diese Menschen zu uns zu holen, sondern es wäre rechtsstaatlich vernünftig gewesen, diesem Land und den an seiner Grenze festsitzenden Flüchtlingen vor Ort zu helfen – humanitär, finanziell und organisatorisch. Merkels Vorgehen führt dazu, dass die Idee offener Grenzen in Europa wohl gescheitert ist. Nunmehr sind die Behörden noch mehr überfordert. Von Juni bis Dezember 2015 sind beispielsweise den Kommunen im Kreis Paderborn/NRW 2.000 Flüchtlinge zugewiesen worden. Diese seien zwar inzwischen registriert, berichtet der dortige Landrat. Es sei bislang aber nur 68 gelungen einen Asylantrag zu stellen, also nicht einmal 4 Prozent. Von einer Entscheidung über den Antrag ist dort noch nicht einmal die Rede. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ist schlicht nicht in der Lage, genügend Termine anzubieten. Mehr staatliches Versagen gab es noch nie in Deutschland.

Erstmals erschienen bei Tichys Einblick.