Photo: Adam Selwood from Flickr (CC BY 2.0)

Eine der zwar viel kritisierten, aber dennoch effektiven Gaben Helmut Kohl war es, unliebsame Probleme einfach auszusitzen. Das konnte er wie kein anderer. Franz-Josef Strauß brachte dies zur Weißglut. Einmal sagte er über Kohl: „Er ist total unfähig. Ihm fehlen die charakterlichen, die geistigen und die politischen Voraussetzungen. Ihm fehlt alles dafür“ – und damit meinte er das Kanzleramt. 1982 kam der Gescholtene dann doch ins Amt – und saß die nächsten 16 Jahre vieles aus.

Verfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle war damals gerade einmal 18 Jahre alt. Doch er hat diesen Geist Kohls tief verinnerlicht. Dies wird besonders deutlich beim Umgang mit der Politik der EZB, die gestern vor dem Karlsruher Verfassungsgericht erneut verhandelt wurde. Bereits 2012 fasste der EZB-Rat den Beschluss, im Zweifel unbegrenzt Anleihen von Krisenstaaten zu kaufen (OMT-Beschluss). Die Klage mehrerer Gruppen vor dem Bundesverfassungsgericht reichten die obersten Richter in Teilen an den Europäischen Gerichtshof weiter, der am OMT-Programm nichts auszusetzen hatte. Jetzt liegt der Fall wieder auf Voßkuhles Tisch und wird erneut verhandelt. Inzwischen sind dreieinhalb Jahre vergangen. Bis das abschließende Urteil erwartet wird, werden vier Jahre vergangen sein.

Die Welt hat sich inzwischen weitergedreht. Das OMT-Programm wurde bislang nie angewandt, sondern durch ein neues Programm ersetzt, abgelöst oder vielmehr verschlimmbessert. Jetzt heißt es EAPP (Expanded Asset-Purchase Program). Auch die Begründung wurde verändert. Die Störung des „Transmissionsriemens“ wurde durch die „Bekämpfung einer drohenden Deflation“ ersetzt. Wer dagegen klagen will, muss wahrscheinlich wieder vier Jahre warten, bis er ein Urteil in der Hand halten kann.

Die EZB, mit all ihrer Kreativität und Chuzpe, ist viel effizienter als die Behäbigkeit eines öffentlich-rechtlichen Verfassungsgerichts in Deutschland. Was ist von Karlsruhe zu erwarten? Bestenfalls nicht viel. Der Prozessvertreter des Deutschen Bundestages Martin Nettesheim wies bereits den Weg, den das Verfassungsgericht gehen könnte. Es könnte Anleihenkäufe definieren, die erlaubt sind und die nicht erlaubt sind. Für dieses Wischiwaschi-Urteil hätte das Verfassungsgericht dann vier Jahre gebraucht. Bemerkenswert!

Doch Richterschelte soll hier nicht geübt werden. Darum geht es nicht. Der Grundfehler dieser Auseinandersetzung ist, dass viele meinen, es sei eine juristische Frage, wie die Geldpolitik der EZB zu interpretieren sei. Das ist es vielleicht in Teilen auch. Dennoch versperrt diese juristisch spitzfindige Diskussion zuweilen den Blick für das Wesentliche. Worum geht es eigentlich? Geht es um die Auslegung von völkerrechtlichen Verträgen, von Verfassungsnormen oder früheren Rechtsprechungen? Nein, es ist zuvorderst eine ökonomische Frage. Löst die Intervention in den Anleihenmarkt in Euro-Raum irgendein Problem? Nach sechs Jahren Euro-Staatsschuldenkrise kann dies bereits empirisch verneint werden. Noch nie waren die Schuldenstände im Süden Europas so hoch und der Beschäftigungsquote so niedrig.

Es ist nahezu irrelevant, ob die EZB nur Anleihen der Krisenstaaten kauft oder von allen Euro-Staaten. Hier geht es allenfalls um die Körnung in der Schrotflinte. Furchtbare Kollateralschäden verursacht jeder dieser Schüsse. Probleme können nicht dadurch gelöst werden, dass die Zentralbank Schulden von Staaten mit Geld aus dem Nichts bezahlt. Würde das funktionieren, wäre Simbabwe reich, wohlhabend und prosperierend.

Der Euro kann unter diesen Voraussetzungen nicht auf Dauer überleben. Die wachsenden ökonomischen Ungleichgewichte innerhalb der Euro-Staaten lassen den Druck auf der Währung immer größer werden, bis sie platzt. Es braucht endlich ein wirksames Ventil, um die Luft aus der Schuldenblase langsam abzulassen. Dieses Ventil kann entweder die Insolvenz von Staaten innerhalb des Euro-Clubs und/oder der Austritt aus dem Euro-Club sein. Gerade in der Fastenzeit sollte man sich daher an den Ökonomen Roland Baader erinnern, der gesagt hat: „Was heute verfrühstückt wird, muss morgen nachgehungert werden.“

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Die Europäische Union und mit ihr die europäische Idee der Freiheit stecken seit Jahren in einer Krise. Zwar ist der klassische Ost-West-Konflikt mit dem Fall der Mauer überwunden und viele ehemalige Ostblockstaaten sind inzwischen Mitglied der EU, dennoch hat man den Eindruck, dass sie am Scheideweg steht. Die Euro-Schuldenkrise und erst recht die Einwanderungs- und Flüchtlingskrise zerreißen förmlich den Zusammenhalt, der ja das Anliegen ist, das dem gesamten Projekt zugrunde liegt.

Ressentiments, Misstrauen, Erpressungen, Häme und Schadenfreunde sind an der Tagesordnung. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sagte während und zu der ersten Phase der Griechenland-Krise: „Wenn es ernst wird, muss man lügen“. Der griechische Verteidigungsminister Panos Kammenos drohte der Staatengemeinschaft Anfang 2015, wenn Europa Griechenland nicht ausreichend unterstütze, werde man die Flüchtlinge in Scharen weiterleiten. Und wenn unter den Flüchtlingen auch Mitglieder des IS sein sollten, sei Europa selbst schuld. Diese Beispiele zeigen: Es findet in ein Verfall der Sitten statt.

Warum ist das so? Haben die Bürger, die Politiker und die Regierungen nichts aus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts gelernt?

Wer nur moralisch argumentiert, vergisst, dass die Ursache dieser Entwicklung in der fehlenden Ordnungspolitik zu suchen ist. Walter Eucken, der in diesem Jahr 125 Jahre geworden wäre, gilt als entscheidender Wegbereiter unserer Wirtschaftsordnung. In seinen 1952 erschienen „Grundsätzen der Wirtschaftspolitik“ nannte er konstituierende Prinzipien für eine funktionierende Ordnungspolitik. Er zählte dazu gutes Geld, offene Märkt, Privateigentum, Haftung, Vertragsfreiheit und eine konstante Wirtschaftspolitik. Dies alles habe das Ziel, ein funktionierendes Preissystem sicherzustellen.

Wenn wir diese Prinzipien auf die aktuelle Situation in Europa abklopfen, dann wird klar, dass europäische Politik nicht prinzipienbasiert ist. GUTES GELD zerstört die EZB durch ihre Niedrigzinspolitik und die Staatfinanzierung durch die Notenpresse. OFFENE MÄRKTE drohen durch das Schleifen des Dublin-Abkommens durch Angela Merkel und die mangelnde Sicherung der EU-Außengrenzen zerstört zu werden. PRIVATEIGENTUM setzt die Verfügungsgewalt über das eigene Eigentum voraus. Staatlicher Paternalismus, seien es Mietpreisbremsen, Zwangsbegrünung von Häusern oder das staatlich verordnete Rauchverbot in Hotels- und Gaststätten, höhlen privates Eigentum aus, so dass es nur noch eine leere Hülle ist. Die HAFTUNG ist bei Staaten und Banken ein Fremdwort. Leben sie über ihre Verhältnisse, werden die Gewinne zuvorderst privatisiert und später die Lasten sozialisiert. Spätestens mit der Einschränkung der Bargeldzahlung und gar einem drohenden Verbot derselben wird klar, dass auch die VERTRAGSFREIHEIT immer mehr verschwindet. Das alles hat dann mit einer KONSTANZ DER WIRTSCHAFTSPOLITIK nichts zu tun. Die Regierung, die EU-Kommission und die EZB intervenieren immer stärker und willkürlich in Marktprozesse. Seien es so banale Dinge wie die Regulierung von Plastiktüten, Ölkännchen oder Glühbirnen. Oder so fundamentale Frage wie eine europäische Bankenaufsicht und eine einheitliche Einlagensicherung für alle Banken von Stockholm bis Saragossa.

Wenn die konstituierenden Prinzipien für eine funktionierende Wettbewerbsordnung nicht eingehalten werden, dann kann auch kein funktionsfähiges Preissystem existieren. Und ohne ein funktionierendes Preissystem kann wiederum keine Marktwirtschaft existieren.

Jetzt hilft es nicht, wenn die Brüsseler Bürokratie den Ausweg in einer größeren Koordinierung der Wirtschafts- und Finanzpolitik sieht. Die mangelnde Koordinierung sei der Grund, wieso die Volkswirtschaften im Euro-Club immer weiter auseinanderfallen, heißt es bei den Befürwortern. Doch mehr Zentralismus heilt nicht die Prinzipienlosigkeit in Europa. Die Prinzipienlosigkeit ist gleichbedeutend mit dem Vorrang des Primats der Politik. Dieses Primat der Politik ist die Ursache der Krisen und gleichzeitig der Grund für die Verschleppung, Verschleierung und Verniedlichung der Probleme. Und dies wiederum ist der Grund, wieso extreme Parteien von rechts und links Wahlerfolge in Europa feiern. Es ist die Flucht des Wählers vor der Lösungsinkompetenz der etablierten Parteien. Und genau hier liegt die Chance für eine Bewegung, die die Marktwirtschaft, das Recht und die Freiheit des Einzelnen im Herzen trägt. Sie muss für ein Primat von Recht und Freiheit stehen, dem ein Primat der Politik untergeordnet ist. Sie zu nutzen, ist nicht nur eine Überlebensfrage für ein friedliches Europa, sondern für eine freie Gesellschaft.

Erstmals erschienen beim Liberalen Netzwerk.

 

Photo: Susanne Tofern from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Die von der Bundesregierung geplante Einschränkung des Bargeldverkehrs passt in ein großes Bild. Sie soll zwar vordergründig der Verbrechensbekämpfung dienen, denn Terroristen und ihre Schergen bezahlen meist bar und in großen Scheinen. Doch das ist nur die Geschichte vor der Geschichte. Tatsächlich passt der Vorstoß Schäubles dazu, auf die wachsenden Unsicherheiten an den Finanzmärkten regulatorisch vorbereitet zu sein. Denn die Überschuldungskrise von Staaten und Banken in Europa und darüber hinaus ist längst nicht ausgestanden.

Seit dem Beginn der letzten Finanzkrise 2007/2008 ist die weltweite Verschuldung um über 40 Prozent auf nunmehr 200 Billionen US-Dollar angestiegen. Es gab noch nie so viel Kredit und damit Schulden auf dieser Welt. Wir befinden uns schon länger in einer Überschuldungskrise von Staaten und Banken, deren lokaler Focus nach wie vor auf dem Euro-Raum liegt.

In einem solchen Umfeld stört das Halten von Bargeld die Regierenden nur. Bargeld untergräbt das Ansinnen der Regierungen, die Lasten der Finanzkrise auf die Bürger überwälzen zu können. Und es verhindert, dass die Banken ein noch größeres Kreditrad drehen können. Denn wenn das Bargeld eingeschränkt und dann ganz abgeschafft wird, besteht auch nicht mehr die Gefahr eines Bankruns. Der Bankrun ist die Apokalypse jeder Bank. Das hat seinen Grund: Die Summe allen Geldes, das in Umlauf ist, besteht nur zu einem geringen Teil aus Bargeld. Über 90 Prozent ist reines Buchgeld, das unter anderem auf Sparbüchern und Girokonten liegt. Wollten alle Konteninhaber ihre Konten räumen und plötzlich ihr Buchgeld in Bargeld ausbezahlt bekommen, wären die Banken dazu nicht in der Lage. Das ist die Ursache wieso Banken dann „Ferien“ machen, wie jüngst in Griechenland.

Auch deshalb verpflichten die Notenbanken die Banken dazu, eine so genannte Mindestreserve der Einlagen ihrer Kunden auf einem Konto der Notenbank zu halten. Je geringer der Mindestreservesatz, desto höher sind im Prinzip die Kreditvergabemöglichkeiten der Banken. Im Euro-Raum ist der Mindestreservesatz derzeit nur noch ein Prozent. Aus 100 Euro Einlage eines Sparers bei seiner Bank, kann diese Bank einen Kredit über 99 Euro vergeben. Legt der neue Kreditnehmer dieses Geld vorübergehend auf sein Girokonto, dann kann seine Bank auf dieser Grundlage für 98,01 Euro einen neuen Kredit vergeben. Dies kann theoretisch unendlich fortgesetzt werden.

Wenn man die maximale Summe dieser Kredite ausrechnet, kommt ein Betrag von knapp 10 000 Euro heraus. Durch einmalig 100 Euro Bankeinlage bei einer Bank sind am Ende also rund 10 000 Euro neues Geld bei ganz vielen Banken entstanden. Wäre der Bankrun ausgeschlossen, weil es kein Bargeld mehr gibt, dann wäre auch ein Mindestreservesatz von einem Prozent obsolet. Aus 100 Euro Einlage könnten dann nicht nur für 10 000 Euro neue Kredite und damit Geld geschaffen werden, sondern ein Vielfaches davon. Die Verschuldungspyramide könnte dadurch auf eine ganz neue Ebene gehoben werden.

Die Einschränkung des Bargeldverkehrs ist erst der Anfang. Es ist gleichzeitig die Flucht nach vorne. Man packt auf das lodernde Feuer noch ein paar Holzscheite oben drauf. Mehr Feuer ist aber nicht der Ausweg aus der Überschuldungskrise.

Im Gegenteil: gutes Geld braucht Vertrauen. Bargeld ist der in Münzen geschlagene Teil unserer Freiheit. Es zu verbieten, würde das Vertrauen in das Geld und damit in unsere freiheitliche Rechtsordnung zerstören.

Erstmals erschienen in der Fuldaer Zeitung am 13.02.2016.

 

Photo: Die Linke Nordrhein-Westfalen from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Gierige Investmentbanker und Heuschrecken tragen die Hauptverantwortung für die wachsende Ungleichheit in der Welt, lautet ein häufiger Vorwurf. Gewerkschaften bedienen aber bisweilen genau diese Instinkte auch. Vielleicht sollten sie mal rhetorisch abrüsten …

Das Bild vom gerechten Lohn

Die Theorien der Arbeitswertlehre, die im 19. Jahrhundert von den Ökonomen David Ricardo und Karl Marx konzipiert wurde, hat in einer sehr flachen und simplen Variante Eingang gefunden in die politische Rhetorik: durch die Vorstellung, es gebe einen „gerechten Lohn“. Also einen Lohn, den jemand erhalten solle, weil seine Arbeit objektiv so viel wert sei. Das Gut Arbeit sei also mithin nicht vergleichbar mit materiellen Gütern, deren Preis von Angebot und Nachfrage abhängt. Man kann einen solchen Standpunkt natürlich einnehmen – und er fühlt sich mitunter auch richtig an. Er verkennt freilich die Realität: Der Handwerksmeister oder Fabrikbesitzer wird nur willens sein – oder gar nur fähig –, einen bestimmten Preis für die Arbeit zu bezahlen. So wie der Kunde im Supermarkt auch irgendwo seine Schmerzgrenze definiert, spätestens dann, wenn das Portemonnaie leer ist.

Das Bild vom gerechten Lohn, das dank jahrzehntelanger Wiederholung verhältnismäßig tief in unseren Köpfen verankert ist, wird natürlich gerne von denjenigen verwendet, die als Vertreter von Arbeitnehmern fungieren. Also von Betriebsräten, Gewerkschaften und auch von Parteien, die sich hauptsächlich auf diese Klientel stützen. So rechtfertigte auch Jörg Hofmann, der Vorsitzende von IG Metall, seine Forderung nach einer Lohnerhöhung zwischen 4,5 und 5 Prozent: „Wir wollen mit unserer Entgeltforderung zur Verteilungsgerechtigkeit in unserer Gesellschaft beitragen. Die Forderung ist von den Unternehmen finanzierbar und sichert den Beschäftigten einen fairen und verdienten Anteil an der wirtschaftlichen Entwicklung.“

Gier ist kein exklusives Privileg der Reichen

Die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute haben in ihrem Herbstgutachten ein Wachstum von etwa 1,8 Prozent vorausgesagt. Die Forderung der IG Metall liegt nicht nur erheblich über dem zu erwartenden Wirtschaftswachstum, sondern auch über der von den Forschern vorausgesagten Lohnsteigerung von 3,4 Prozent. Das liegt auch daran, dass die Gewerkschaftsfunktionäre der Idee eines gerechten Lohns anhängen. Aber es liegt auch noch an einem anderen Faktor. Natürlich will jeder Mensch gerne mehr und besseres haben: am Mittagstisch und in der Stammkneipe, bei Tarifrunden und bei Aktienkäufen. Und die Gewerkschafter wissen: Wenn sie ihren Mitgliedern mehr versprechen, steigern sie damit ihr eigenes Ansehen.

Was sie dabei freilich auch tun, ist ein menschliches Bedürfnis zu befriedigen, das nicht immer im besten Ruf steht. Das Verlangen nach mehr schlägt nämlich recht schnell um in Gier. Ebenso wie das Bild vom gerechten Lohn wird auch das Bild vom gierigen Banker so häufig verwendet, dass wir es unreflektiert in unseren Vorstellungsschatz übernehmen. Dabei entsteht der irrige Eindruck, Gier sei eine Unsitte, die exklusiv für eine bestimmte Menschengruppe reserviert sei. Gier – das sei nur etwas für Reiche und solche die es werden wollen. Der Beweis liegt ja schließlich in Form ihres Kontos, ihres Autos, ihrer Villa, ihrer Yacht und ihrer Uhr schon vor aller Augen sichtbar da …

Wenn sich das Streben nach mehr zu Gier verwandelt

Aber das ist natürlich eine Fehleinschätzung. Außer einigen asketischen Mönchen und hardcore-Hippies wollen alle Menschen gerne mehr. Und deshalb tragen auch fast alle den Samen der Gier in sich, ganz unabhängig von ihrer materiellen Situation. Es ist gar nicht so leicht zu bestimmen, wann sich der Wunsch nach mehr in Gier verwandelt. Klar ist aber: diese Verwandlung fängt nicht dort an, wo eine bestimmte Geld- oder Gütersumme überschritten wird, sondern dort, wo das Streben nach mehr einen Menschen verändert, wo es sein Verhalten anderen gegenüber negativ beeinflusst. (Für Kenner von Tolkiens Werk: der Übergang von Sméagol zu Gollum.) Wenn sich das Streben nach mehr zu Gier wandelt, dann hält Neid Einzug in unser Fühlen. Dann sind wir versucht, uns Vorteile zu Lasten anderer zu verschaffen. Dann vergessen wir, auf andere zu achten.

Die Trennlinien sind schwammig und die Motive für Außenstehende ohnehin nicht immer leicht zu erkennen. Und gerade deshalb sollten Gewerkschafter sich zurückhalten mit wüsten Anschuldigungen gegenüber gierigen Bankern und Heuschrecken. Denn zumindest die Versuchung ist auch für sie sehr groß, weniger auf das tatsächliche Wohl der von ihnen vertretenen Arbeiter zu schauen als an unser aller Neigung zur Gier zu appellieren. Und dann finden sie sich rasch im Glashaus wieder, wo das Steinewerfen nicht angeraten ist.

Übrigens: das Durchschnittseinkommen in der Metall- und Elektroindustrie beträgt 3.224 € bzw. 3.769 €. Da könnte ein Lohnaufschlag von 5 Prozent aus Sicht von ebenso hart arbeitenden Hotelangestellten (1.922 €), Pflegekräften (2.404 €) oder Angestellten in den Bereich Messebau (2.314 €), Optik (2.383 €) oder Transport und Logistik (2.462 €) auch gierig wirken. Zwar nicht in derselben Größenordnung wie Banker-Boni, aber doch im gleichen Geist. Es ist Aufgabe der verschiedenen Arbeitnehmervertretungen, für die Interessen ihrer Mitglieder einzutreten. Dieser Aufgabe werden sie aber mit Neid-Argumenten so wenig gerecht wie mit Forderungen, die in einem unangemessenen Verhältnis stehen zu dem, was unsere Wirtschaft derzeit leisten kann.

 

Photo: Yale Law Library from Flickr (CC BY 2.0)

Die ökonomischen Probleme in weiten Teilen Europas sind hausgemacht. Da beißt keine Maus einen Faden ab. Überbordende Bürokratie, mangelnde Rechtssicherheit, nicht vorhandener Schutz des Eigentums, prohibitive Steuern und falsche Anreize in den Sozialsystemen sind nur einige der Ursachen. Die derzeitige Politik in Europa versucht, dies durch Druck zu ändern. „Zuckerbrot und Peitsche“ sollen die am Tropf der Gemeinschaft hängenden Krisenstaaten gefügig machen.

Und das läuft dann so: Veränderungen, die sich Bürokraten im fernen Brüssel ausgedacht haben, müssen zunächst umgesetzt werden, damit man dann weitere finanzielle Hilfen durch die Staatengemeinschaft erhält. So zumindest die Theorie. Doch das funktioniert nicht – und zwar aus zwei Gründen: Erstens sind Risiko und Verantwortung entkoppelt. Wer nicht selbst für sein Handeln haftet, sondern die Haftung auf eine größere Gemeinschaft abwälzen kann, geht meist den vermeintlich einfacheren Weg. Zweitens: die Möglichkeiten einer Insolvenz innerhalb des oder eines Ausscheiden aus dem Euro-Club werden gar nicht erst in Erwägung gezogen. Dadurch kommen die Retter in eine Erpressungssituation gegenüber den Geretteten. Je länger sie anhält, desto schlimmer wird sie. In den vergangenen 6 Jahren der vermeintlichen Rettung war das so.

Doch wie wäre es, wenn man von einem zentralistischen Reformansatz zu einem non-zentralistischen übergehen würde? Vorbilder gibt es einige. Die ökonomischen Erfolge Singapurs und Hongkongs sind Beispiel dafür, wie sich kleine und flexible Staaten im unmittelbaren Umfeld von zentralistischen Ländern wesentlich besser entwickeln können als die großen Platzhirsche in der Nachbarschaft. Auch in Europa tun sich Länder wie Luxemburg, die Schweiz oder die baltischen Staaten wesentlich leichter als Russland, Frankreich oder Italien. Die Entwicklung Hongkongs oder Singapurs ist jedoch besonders anschaulich. Denn sie hatte nicht nur ökonomische Vorteile für die dortige Bevölkerung, sondern für die ganze Region. Ohne den ökonomischen Druck Hongkongs hätte es wahrscheinlich kein Wirtschaftswunder in China gegeben. Es war der tagtägliche Anschauungsunterricht, der der chinesischen Nomenklatura das Scheitern der staatlichen Planwirtschaft vor Augen führte und sie offen für die Marktwirtschaft machte.

Die Vorteile der Kleinstaatlichkeit enden jedoch nicht an den Außengrenzen des jeweiligen Landes. Die Idee, eine marktwirtschaftliche Ordnung zu schaffen, kann auch innerhalb eines Staates oder in Teilgebieten eines Staates verwirklicht werden. Die Antwort Chinas auf den ökonomischen Erfolg Hongkongs war zum Beispiel die Schaffung von Freihandelszonen, wie zum Beispiel in Shanghai. Dort werden wirtschaftliche Reformen in einem abgesteckten Areal realisiert, ohne sie sofort auf das ganze Land zu übertragen. So werden diese Zonen nicht nur Versuchslabor, sondern sehr oft eben auch Avantgarde.

Warum sollen solche Freihandelszonen nicht auch in Europa entstehen? Wieso nicht in Teilen Griechenlands, Portugals oder auch Deutschlands? Und die Idee der Freihandelszonen muss nicht nur auf Investitionserleichterungen konzentriert werden. Warum kann in solchen Regionen nicht viel mehr ausprobiert werden? Der US-amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlers Paul Romer schlug vor einigen Jahren ein Konzept vor, das er „Charter City“ nannte. Der Grundgedanke dieser Idee besteht darin, in einer bestimmten Region eines ökonomisch angeschlagenen Landes ein fremdes Rechtssystem zu implementieren, um damit Vertrauen bei Investoren zu schaffen und diese zu Investitionen zu animieren. In Teilen Griechenlands würde man dann entscheiden, dass dort zum Beispiel englisches Recht gilt. Das englische Recht ist in Griechenland nicht gänzlich fremd. Ein Teil der griechischen Staatsschulden wurden nach englischem Recht emittiert. Im Vergleich zu Anleihen, die nach griechischem Recht herausgegeben wurden, genießen diese ein wesentlich höheres Vertrauen. Als 2012 die privaten Gläubiger auf einen Teil ihrer Forderungen verzichten mußten, galt dies nur für die Gläubiger, die Anleihen nach griechischem Recht gekauft hatten. Das griechische Parlament enteignete die Gläubiger einfach durch die Einführung einer nachträglichen Umschuldungsklausel bei bestehenden Anleihen. Wer sich nicht „freiwillig“ auf eine Forderungsverzicht von 53,5 Prozent einlassen wollte, konnte unter bestimmten Bedingungen dazu gezwungen werden. Bei den Anleihen nach englischem Recht gelang eine rückwirkende Änderung des Rechts nicht. Diese wurde ordnungsgemäß bedient und zurückgezahlt.

Was in bestimmten Regionen möglich ist, könnten auch auf einzelne Bürger, Unternehmen oder Vertragspartner heruntergebrochen werden. Warum sollten Vertragspartner sich nicht ihren Gerichtsstand frei wählen können? Im Handelsrecht ist dies bei uns heute schon möglich. Aber wieso soll die Wahl des Rechtssystems nicht auch im Steuerrecht, im Mietrecht oder im Arbeitsrecht möglich sein? Am Ende entstünde ein Wettbewerb des Rechts. Es wäre stabiler und weniger missbrauchsanfällig als viele derzeitige Rechtssysteme in Europa. Derzeit wird in Griechenland unter anderem nicht investiert, weil es keine ausreichende Eigentumsgarantie gibt, weil die Behörden korrupt sind und das Arbeitsrecht kompliziert ist. Diese Mängel könnten durch eine freie Wahl des Rechts durch die jeweiligen Vertragsparteien auf einen Schlag überwunden werden.

Wird Schindluder mit einem Rechtssystem getrieben, dann wird es bei neuen Verträgen nicht mehr angewandt und verschwindet. Ist der Gerichtsstand mit korrupten Richtern bestückt, dann wird er von den Vertragsparteien gemieden. Werden Baugenehmigungen verschleppt, verzögert und nur mit hohen Auflagen möglich, dann suchen sich Vertragspartner künftig die Bauordnung ihrer Wahl. Und dauert der Handelsregistereintrag beim örtlichen Amtsgericht zu lange, wird künftig ein anderes gewählt. Der Druck des Marktes und des Wettbewerbs erzeugt ein besseres Rechtssystem für alle. Es wäre ein atmender Rechtsrahmen, der schlechtes Recht verschwinden ließe und gutem Recht zum Durchbruch verhelfen würde. Ludwig von Mises hat dies sehr gut auf den Punkt gebracht: „Aller Fortschritt der Menschheit vollzog sich stets in der Weise, dass eine kleine Minderheit von den Ideen und Gebräuchen der Mehrheit abzuweichen begann, bis schließlich ihr Beispiel die anderen zur Übernahme der Neuerung bewog.“

Erstmals erschienen auf Tichys Einblick.