Photo: Jerry „Woody“ from Flickr

Über den Ursprung des Aprilscherzes gibt es viele Erklärungen. Eine davon lautet: Auf dem Augsburger Reichstag von 1530 sollte unter anderem das Münzwesen geregelt werden. Aus Zeitgründen kam es jedoch nicht dazu, sodass für den 1. April ein besonderer „Münztag“ ausgeschrieben wurde. Als der 1. April kam, fand dieser Münztag dann doch nicht statt. Zahlreiche Spekulanten, die auf diesen Münztag gesetzt hatten, verloren ihr Geld und wurden auch noch ausgelacht. Es muss nicht so gewesen sein, zumal der Reichstag zu Augsburg nach vielen Verzögerungen erst am 20. Juni 1530 von Kaiser Karl V. eröffnet wurde.

Für die im Reichstag versammelten Kurfürsten, Fürsten und Reichsstädte war das Geldwesen neben dem vorherrschenden Thema der Reformation dennoch sehr wahrscheinlich ein wichtiges. Die sich immer stärker ausbreitende Falschmünzerei führte zu Unruhen und beförderte die Bauernaufstände im Reich. Zwischen 1400 und 1525 verlor beispielsweise der Würzburger Pfennig 42 Prozent und der Augsburger Pfennig sogar 54 Prozent seines Wertes. Münzen wurden von ihren Emittenten im Kupfer-, Silber- oder Goldgehalt reduziert, um so mehr davon herstellen zu können. Fürsten und Städte finanzierten so ihren Hof oder ihre Kriege. Insbesondere das Kleingeld wurden als Scheidemünzen herausgegeben, deren Nominalwert höher war als der ihr zugrundeliegende Metallwert. Den Münzgewinn strichen sich die Oberen ein.

Die Emittenten der verschiedenen Währungen versuchten damals das, was die amerikanische Notenbank Fed, die Europäische Zentralbank EZB und die Bank of China anscheinend vor einigen Monaten ebenfalls im sogenannten Shanghai Abkommen vereinbart haben. Medien berichten seit einigen Tagen, in diesen Abkommen hätten sich die drei Notenbanken darauf verständigt, dass die Fed weitere Leitzinserhöhungen verschiebe, die EZB ihre Geldpolitik nicht weiter lockern werde und die Chinesen ihre Währung nicht weiter abwerten würden. Es ist ein Abkommen für das Halten des Status Quo. Ebenso wie im 16. Jahrhundert will man die gegenseitige Falschmünzerei besser absprechen. Ob es gelingt, wird sich zeigen.

Im 16. Jahrhundert gelang nur eine formale Verständigung. Im Verlauf der Jahre sollten zahlreiche Reichsmünzordnungen den Gold- und Silbergehalt der Münzen regeln, deren Durchsetzung jedoch nicht funktionierte. Genau diese formale Verständigung ist auch beim Shanghai-Abkommen zu erwarten. Zu groß sind die strukturellen Probleme und zu groß ist die Versuchung, diese durch die Geldpolitik lösen zu wollen. Am Ende ist sich jeder selbst der Nächste. Nicht ohne Grund wird von der EZB offen zugelassen, dass eine Diskussion über Helikopter-Geld geführt wird, ohne dass sie vehement widerspricht. Hinter Helikopter-Geld verbirgt sich der Vorschlag, Zentralbankgeld direkt Unternehmen und Bürgern zu schenken, damit diese investieren und konsumieren. Man stelle sich vor, EZB-Chef Mario Draghi stellt sich früh morgens vor dem Schichtwechsel von Opel in Rüsselsheim vor die Werkstore und drückt jedem Arbeiter einen frisch gedruckten 500 Euro-Schein in die Hand und fügt noch den Satz hinzu: „Kaufen Sie sich was Schönes“. Ein irrer Vorschlag, doch er wird ernsthaft diskutiert.

Mit Falschmünzern ging man früher hart ins Gericht. Unter Karl V. wurde mit der „Carolina“ das erste Strafgesetzbuch geschaffen, das Münzfälscher mit drakonischen Strafen belegte. Fälscher drohte der Verbrennungstod oder auch das Sieden in Öl war eine durchaus übliche Bestrafung.

Diese Art der Bestrafung gibt es heute nicht mehr, die Falschmünzerei ist jedoch geblieben.

 

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Wenn es um die Besteuerung des Erbes geht, prallen auch hierzulande grundsätzliche Positionen aufeinander. Selbst politische Grundströmungen lassen sich nicht konkret zuordnen. So können sich Liberale beispielsweise nicht auf ihre großen Denker berufen. Adam Smith, die personifizierte Inkarnation der Marktwirtschaft, war dafür, ebenso wie der liberale Denker John Stuart Mill. Jeder sollte seines Glückes Schmied sein, aber nicht durch das Werk des Erblassers. Was viele dieser Denker, aber auch heutige Befürworter einer Erbschaftsteuer verkennen, ist die Verhaltensänderung des Erblassers zu Lebzeiten bei einer Erbschaftsteuer. Diese verändert nicht nur das Verhalten einzelner, sondern schafft eine neue Unternehmenskultur. Dies kann sehr gut an der Wirtschaftsstruktur in den USA und in Deutschland verglichen werden. Beide haben sehr unterschiedliche Modelle zu Lebzeiten und im Erbfall. Während in den USA die Einkommensteuer zu Lebzeiten geringer ist als in Deutschland, liegt sie im Erbfall wesentlich höher. Der Spitzensteuersatz in der  Einkommensteuer beträgt auf der Ebene des Bundes in den USA weniger als 40 Prozent, in Deutschland inklusiv Soli und Kirchensteuer fast 50 Prozent. Die US-Erbschaftsteuer beträgt bei großen Vermögen mindestens 40 Prozent und kann auf der Ebene der Bundesstaaten sogar noch aufgestockt werden. In Deutschland führte die vom Bundesverfassungsgericht gekippte Verschonungsregel dazu, dass Betriebsvermögen ohne steuerliche Belastung auf die Erben übertragen werden konnte.

Zwei grundsätzlich unterschiedliche Konzepte mit unterschiedlichen Wirkungen. Während in den USA Bill Gates und Steve Jobs in wenigen Jahrzehnten  riesige Vermögen aufbauten, gelingt es ihnen nicht, diese Vermögen auf die nächste Generation zu übertragen. Apple und Microsoft werden wahrscheinlich nicht über Generationen von den Kindern und Kindeskindern Bills und Steves fortgeführt oder gesteuert. Versterben sie, findet durch die hohe Erbschaftsteuer ein Verkauf des Unternehmens und ein Übergang auf neue Eigentümer statt. Viele erfolgreiche Unternehmensgründer  in den USA wissen das und spenden bereits zu Lebzeiten einen großen Teil ihres Vermögens oder gründen Stiftungen. Wer ein großes Unternehmen aufbauen will, hat nicht mehrere Generationen Zeit, sondern „nur“ zwei oder drei Jahrzehnte.

Anders in Deutschland: 95 Prozent der Unternehmen sind Familienunternehmen, die oft über mehrere Generationen existieren. Der hohe Anteil sogenannter hidden champions, also mittelständische Marktführer in einer Nische, ist einmalig auf dieser Welt. Alleine 1300 Unternehmen im Maschinenbau und der Elektroindustrie werden dazugezählt. Zu 53 Prozent finanzieren sie ihre Investitionen aus eigenen Mitteln. Über 21 Prozent der Beschäftigten in der Industrie arbeiten bei diesen Familienunternehmen. Ihre Firmenzentralen sind nicht in Silicon Valley, London oder Frankfurt, sondern in Schwanau, Ennepetal oder Eppelheim.

Ist das amerikanische Modell schlecht, ist das deutsche Modell gut – oder umgekehrt? Sicher kann das nicht so einfach beantwortet werden. Es hat natürlich auch etwas mit der Unternehmenskultur im jeweiligen Land zu tun. Aber diese wird auch durch das steuerliche Umfeld entscheidend geprägt. Nicht ohne Grund haben viele Familienunternehmen schon vor Jahren aus Furcht vor einer existenzbedrohenden Erbschaftsteuer in Deutschland Ihre Firmenzentralen nach Österreich oder in die Schweiz verlagert. Große Familienunternehmen gehören dazu. Nicht alle sind damit glücklich. Denn die Unternehmenskultur verändert sich dadurch stillschweigend. Wenn die Unternehmenslenker nicht mehr vor Ort, in der Kleinstadt, sind, dann geht der Bezug zur Region verloren. Irgendwann unterscheiden sie  sich nicht mehr von Unternehmen, die aus London oder New York geführt werden.

Für die Diskussion um die Erbschaftsteuer in Deutschland gilt daher: die schlechten Dinge aus beiden Welten zu übernehmen, wäre hierzulande fatal. Eine hohe Besteuerung zu Lebzeiten und eine hohe Besteuerung für die Erben. Wenn Union und SPD die Erbschaftsteuerreform beschließen, dann wird sie die Unternehmensstruktur in Deutschland auf Dauer verändern. Wir werden amerikanische Verhältnisse bekommen.

Erstmals erschienen in der Fuldaer Zeitung am 26.03.2016.

 

Beim Widerstand gegen die Vergemeinschaftung der Einlagensicherung im Euro-Club ist Finanzminister Wolfgang Schäuble inzwischen auf dem Rückzugsgefecht. Die Schlacht wurde letzte Woche durch eine weitere Niederlage besiegelt. Medien berichten, dass der Wissenschaftliche Dienst des Europäischen Rates die von der Europäischen Kommission gewählte Rechtsgrundlage durchwirken wird. Die Kommission bezieht ihren Vorschlag auf eine Rechtsgrundlage in den Europäischen Verträgen, die mit einer qualifizierten Mehrheit angenommen werden kann. Die deutsche Regierung hat dagegen bislang argumentiert, dass jedes Land ein Veto gegen den Kommissionsvorschlag habe. Somit hätte Deutschland alleine eine gegenseitige Einstandspflicht für Sparguthaben in der EU verhindern können. Denn darauf zielt eine einheitliche Einlagensicherung im Euro-Raum ab. Die bisher selbständigen Einlagensicherungssysteme sollen sich gegenseitig in einer Schieflage helfen müssen. Doch sie sind schon heute brüchig und löchrig. Alle versprechen mehr, als sie halten können. Jetzt sollen die maroden Systeme zu einem noch maroderen System zusammengefasst werden.In letzter Konsequenz führt die Vergemeinschaftung dazu, dass Einlagen spanischer oder italienischer Sparer bei dortigen Banken durch die Einlagen deutscher oder niederländischer Sparer gesichert werden. Das ist von vornherein der Plan der europäischen Technokraten gewesen. Sie wollten mit der Bankenunion eine noch stärkere gegenseitige Abhängigkeit schaffen. Aus guten Nachbarn sollten Schuldner und Gläubiger gemacht werden, die sich immer stärker umarmen, bis sie gegenseitig keine Luft mehr bekommen. Der Start dieser Bankenunion war der Europäische Stabilitätsmechanismus ESM, der die Staatsschulden im Euroraum sozialisierte, die dann geschaffene einheitliche Bankenaufsicht unter dem Dach der EZB und der einheitliche Abwicklungsmechanismus für Banken vergemeinschaftete die Entscheidung, welche Banken in einer Schieflage wie behandelt werden.

Was bisher die Aufgabe der nationalen Aufsichten war, wurde jetzt an die Technokraten in Brüssel und bei der EZB in Frankfurt übertragen. Der krönende Abschluss wäre jetzt die vergemeinschaftete Einlagensicherung. Erst hier kam der Widerstand der deutschen Regierung. Bis dahin hatte sie alles durch gewunken. Doch jetzt ist es womöglich zu spät.

Denn bei einer qualifizierten Mehrheit auf EU-Ebene müssen mindestens 55 % der Staaten, also mindestens 15 bei 28 Staaten mit mindestens 65 % der Gesamtbevölkerung der EU zustimmen. Für eine Sperrminorität sind die Stimmen von mindestens 4 Ratsmitgliedern, die mindestens 93 Stimmen im Rat aufbringen müssen, notwendig. Dies gelingt nur, wenn sich ein Teil der bevölkerungsreichen Staaten Frankreich, Spanien oder Italien dem deutschen Widerstand anschließen. Das ist schon deshalb nicht zu erwarten, weil gerade diese Länder auf eine schnelle Umsetzung der Vergemeinschaftung der Einlagensicherung drängen. Alle diese Länder leiden noch unter der Finanzkrise 2007/2008. Italiens Banken stehen vor besonders schweren Zeiten. Seit 2008 steigt deren Volumen an faulen Krediten im Privatsektor von Monat zu Monat an und hatten im Januar 2016 einen historischen Höchststand von 201,6 Mrd. Euro. Der Anteil der mit mehr als 90 Tagen im Zahlungsverzug befindlichen Kredite an italienische private Haushalte und Unternehmen kletterte auf ein neues Hoch von 12,24 Prozent.Die Probleme Spaniens sind neben großen Strukturproblemen die Folgen des Platzens der Immobilienblase 2008. Von diesem Einschnitt hat sich weder das spanische Bankensystem noch die spanische Industrie erholt. Letztere ist immer noch über 21,8 Prozent vom Hoch 2008 entfernt. Die Verschuldung der öffentlichen Haushalte Spaniens war noch nie so hoch. Wenn die Regionen mit eingerechnet werden, liegt sie wohl fast bei 150 Prozent der Wirtschaftsleistung. In Frankreich sieht es nicht ganz so schlimm aus, aber auch hier liegt man über 14 Prozent unter der Wirtschaftsleistung aus der Vorkrisenzeit, ohne nennenswerte Wachstumszahlen vorweisen zu können.

Jetzt will Schäuble sein Gesicht wahren und die anderen Staaten in die Pflicht nehmen. Er beklagt nunmehr, dass Verträge in der EU nicht eingehalten würden und dass die Bail-In-Regelung im Rahmen des Bankenabwicklungsmechanismus in Italien jüngst nicht angewandt wurde. Sie besagt, dass bevor staatliche Hilfe für Banken gewährt werden, erst Eigentümer und Gläubiger der Bank herangezogen werden. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Doch wie man in den Wald hineinruft, so kommt es zurück. Es war Deutschland, das die Nichtbeistandsklausel außer Kraft gesetzt hat, es war Deutschland, das die einheitliche Bankenaufsicht vorangetrieben hat. Und man muss auch nicht nur bei der Bewältigung der Euro-Schuldenkrise bleiben: es war Angela Merkel, die das Dubliner Abkommen im September 2015 ausgesetzt hat. Zu einem Europa des Rechts und der Vertragstreue kommt man am besten dadurch, dass man vor der eigenen Haustüre kehrt.

Erstmals veröffentlicht bei Tichys Einblick.

Photo: Thorsten Krienke from Flickr

Morgen ist es wieder da: Das Tanzverbot. Ein guter Anlass, sich einmal wieder der Frage des Verhältnisses zwischen freiheitlichem Rechtsstaat und Religion zu widmen.

Vom Brauch zum Gesetz

Es gibt, von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich, eine ganze Reihe an Tagen, an denen Tanzveranstaltungen oder sportliche Großereignisse nicht erlaubt sind. Während vor allem die Stadtstaaten Regelungen haben, die möglichst wenig restriktiv sind, sind in traditioneller geprägten Ländern eher strenge Regeln anzutreffen. Am gravierendsten übrigens nicht etwa in Bayern, sondern in Hessen.

Entstanden sind diese Vorschriften in einer Zeit, in der Kirchen in Deutschland noch eine wesentlich gewichtigere Rolle im Leben der Bürger gespielt haben. Die allermeisten Bürger gingen vor einem Jahrhundert noch am Karfreitag in die Kirche und befolgten die Tradition, diesen Tag in Stille und Andacht zu begehen. Gerade die traditionelle Staatsnähe der evangelischen Kirchen führte dazu, dass derlei Traditionen im Zweifel auch ohne gesetzliche Grundlage mit staatlicher Autorität durchgesetzt wurden. Wenn es am Abend des Feiertages in einer Kneipe zu munter wurde, kreuzte mitunter auch mal der Schutzmann auf und sorgte für Ruhe und Ordnung. Mit der Weimarer Verfassung von 1919 wurden dann gesetzliche Feiertage eingeführt mit allen strafrechtlichen Konsequenzen.

Religion als Privatsache: Fundament moderner, freiheitlicher und offener Gesellschaften

Das sehr ambivalente Verhältnis von Staat und Religion hat in der Geschichte der Menschheit lange eine zentrale Rolle gespielt. Mal dient Religion der Legitimation von Herrschaft vom antiken Rom über die Kalifen bis zu „Wilhelm, von Gottes Gnaden Deutscher Kaiser“. Religion ist aber zugleich auch ein Hort der Machtkritik: Die Propheten im alten Israel, die Quaker im Großbritannien des 17. und 18. Jahrhunderts, der antikommunistische Widerstand in Polen, Litauen und Ungarn. Religion als Privatsache zu betrachten, ist das Fundament moderner, freiheitlicher und offener Gesellschaften. Diese Überzeugung steht am Beginn unseres Verständnisses von Toleranz, Meinungsfreiheit und Selbstbestimmung, ist mithin die Wurzel des Individualismus.

Ein Staat, der sich der Religion bedient, maßt sich die absolute Herrschaft über den Menschen an, er dringt bis in seinen Kopf und sein Herz vor. Er kann seine Bürger manipulieren, indem er an deren innerste und tiefste Gefühle appelliert. Und natürlich gibt es auch die umgekehrte Situation. Das führt uns ja mit entsetzlicher Brutalität gerade der „Islamische Staat“ vor Augen: Eine religiöse Bewegung, die mit den Machtmitteln weltlicher Herrschaft ausgestattet ist, wird ebenso absolutistisch und gewaltsam wie ein Staat, der Religion benutzt. Gefahr droht überall dort, wo das Emotionale und Persönliche, das sich in der jeweiligen religiösen Überzeugung ausdrückt, verbindet mit den Instrumenten der Macht. Damit Macht beschränkt und Freiheit gewahrt wird, ist es unerlässlich, dass die Ordnung eines Gemeinwesens nach abstrakten Regeln und Maßstäben abläuft.

Geschmacksfragen sind kein Fall für das Recht

Das Tanzverbot ist keine substantielle Bedrohung individueller Freiheit. Und angesichts der stetig abnehmenden Religiosität ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass der Einfluss von Religionsgemeinschaften eher weiter abnehmen wird. Dennoch ist es natürlich eine Freiheitseinschränkung für viele Menschen, die mit abstrakten Regeln nicht vereinbar ist. Sie kommt lediglich dem Geschmack oder den Überzeugungen des religiösen Teils der Bevölkerung entgegen. Ähnlich übrigens wie die staatliche Ehe.

Man könnte durchaus die abstrakte Regel des Rechts auf freie Religionsausübung so auslegen, dass während eines Karfreitagsgottesdienstes kein Techno Rave unmittelbar vor der Kirche stattfinden sollte. So wie man keine Grillpartys auf dem Friedhof veranstaltet. Das Tanzverbot geht freilich weit darüber hinaus. Es verpflichtet alle Bürger darauf, den Geschmack und die Überzeugung eines Teiles der Bevölkerung zum eigenen Verhaltensmaßstab zu machen. Das ist im Übrigen nicht nur unvereinbar mit einem freiheitlichen Rechtsstaat, sondern trägt auch nicht gerade zum Sympathiegewinn für die Kirchen bei.

Das Verhältnis von Staat und Religion wieder auf den Prüfstand stellen

Es würde den Vertretern der verschiedenen Kirchen in Deutschland sehr gut zu Gesichte stehen, wenn sie sich auch für eine Aufhebung des Tanzverbots am Karfreitag und anderen kirchlichen Feiertagen einsetzen würden. Ganz im Sinne dessen, was Papst Benedikt XVI. vor fünf Jahren in Freiburg sagte: „Die von ihrer materiellen und politischen Last befreite Kirche kann sich besser und auf wahrhaft christliche Weise der ganzen Welt zuwenden, wirklich weltoffen sein.“

Es ist, gerade auch angesichts der Bedrohung durch einen politisierten Islam, höchste Zeit, das Verhältnis von Religion und Staat auf eine solide Basis zu stellen, die konsistent ist mit dem freiheitlichen Rechtsstaat. So wenig dieser einen Menschen an seiner Religionsausübung hindern darf, so wenig darf er auch religiöse Überzeugungen durchsetzen. Tanzverbote, staatliche Definitionen von Ehe, staatlich geförderter Religionsunterricht und ähnliche Maßnahmen gehören auf den Prüfstand und in die öffentliche Debatte.

Tanz am Kreuz statt Tanz gegen das Kreuz

Den gläubigen Christen, denen die Heiligkeit des Karfreitags am Herzen lieg, mag ein Lied des englischen Dichters Sydney Carter zu ein wenig Tanztoleranz verhelfen, der Jesus diese Worte in den Mund legt:

I danced on a Friday when the world turned black.
It’s hard to dance with the devil on your back.
They buried my body they thought I was gone,
But I am the dance, and the dance goes on.

Dance, dance wherever you may be.
I am the Lord of the dance, said he.
And I lead you all wherever you may be,
And I lead you all in the dance said he.

Mit seinem Konzept des „Nudging“ wandelt Professor Cass Sunstein aus Harvard auf den Spuren des Philosophen Voltaire. Dicht auf seinen Fersen folgen Politiker, die wie einst Voltaires Gönner Friedrich der Große ihre Herrschaft gerne in ein harmloses Gewand kleiden. Hier lauern mehr Gefahren als man derzeit wahrnimmt.

Das freundliche Gesicht des Staates

Man kann sich kaum einen besseren Ausblick denken, wenn man dem großen Vordenker des Nudging, des „weichen Paternalismus“, Cass Sunstein, lauscht, als den Blick aus dem Fenster der Humboldt-Universität auf die Reiterstatue Friedrichs des Großen. Der in fast allen deutschen Geschichtsbüchern geradezu hemmungslos verehrte „Alte Fritz“ gilt vielen hierzulande als das freundliche Gesicht des Staates. (Dass er drei Angriffskriege anzettelte und eine harte law and order-Politik betrieb, mithin also doch sehr viel mit George W. Bush gemeinsam hat, wird dabei gerne übersehen …) Der Preußenkönig, so die gängige Interpretation, herrschte mit Wohlwollen und wollte nur das Beste für seine Untertanen. Leiten ließ er sich in seinen Entscheidungen und Maßnahmen von der damals in Hochblüte stehenden Aufklärung.

Ein eher unschönes Charakteristikum der Aufklärung war, dass sie bisweilen mit rigoroser Arroganz auftrat. Nicht jeder Aufklärer konnte die Bescheidenheit eines Immanuel Kant aufbringen. Gerade diejenigen, die sie mehr als Mission begriffen denn als Aufruf zur Selbstkritik, hatten eine erstaunlich hohe Meinung von ihrer eigenen Vernunft und eine ziemlich niedrige von derjenigen der anderen. Die Brutalität vieler Akteure in der Französischen Revolution ist nur das krasseste Beispiel dafür. Auch Friedrich II. sah, bestätigt und angestachelt von dem Philosophen Voltaire, in der eigenen Bildung und Aufgeklärtheit zugleich einen Auftrag, seinen weniger gebildeten Untertanen zu einem besseren Leben zu verhelfen. Aufgeklärter Absolutismus war der Begriff, der sich für dieses Staatsverständnis einbürgerte.

„Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach“

Letzte Woche waren einige Mitglieder des Prometheus-Teams bei einer Veranstaltung an der Humboldt-Universität in Berlin, bei der Cass Sunstein sprach, als Urheber des Nudging so etwas wie der Voltaire unserer Zeit. Ein sehr kultivierter und angenehmer älterer Herr, selbstbewusst und überzeugt vom eigenen Standpunkt und dennoch respektvoll und freundlich im Umgang. Was macht ihn zum Voltaire des 21. Jahrhunderts? Sein Konzept des Nudging. Hinter diesem Begriff verbirgt sich eine ganz neue Art, politisches und staatliches Handeln zu verstehen. Grundlegend für diese Theorie ist eine Einsicht der Verhaltensökonomie: Es gibt sehr viele Dinge, die wir gerne tun würden, an denen wir aber wegen unserer Faulheit und Undiszipliniertheit scheitern: mehr Sport, gesunde Ernährung, das Rauchen aufgeben, einen Teil des Gehalts beiseitelegen, Organspender werden …

Um das alte Problem des „der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach“ in den Griff zu bekommen, schlagen die Verhaltensökonomen vor, Menschen mit Hilfe eines kleinen Anschubsers, des Nudge, dazu zu bringen, ihrer inneren Einsicht in das Richtige auch Taten folgen zu lassen. Indem das Quengel-Regal an der Supermarkt-Kasse beseitigt wird oder die Standardeinstellungen etwa bei Organspende oder Altersvorsorge so verändert werden, dass man nicht mehr zustimmen, sondern ablehnen muss, lassen sich tatsächlich Verhaltensänderungen herbeiführen. Die entscheidende Frage ist allerdings: Ist das wirklich, was man will?

Irgendwas mit gesund, bio, nachhaltig, sicher und sozial

Die Nudger behaupten: Ja! Wer wolle denn nicht etwas gesünder leben und auf die Nachhaltigkeit der eigenen Lebensführung im Blick auf die eigene Zukunft achten. Dass wir zu häufig zum Salzstreuer greifen oder uns ein, zwei Bier zu viel genehmigen, habe ja nichts mit unserem Willen zu tun, sondern mit der Fehlkonditionierung des Menschen durch Werbung und suchtfördernde Zusatzstoffe. Auf den ersten Blick scheint diese Beobachtung nachvollziehbar, vielleicht fühlen wir uns auch etwas ertappt. Dahinter aber liegt, unausgesprochen, eine grundsätzliche Haltung, die zumindest bedenklich, vielleicht sogar gefährlich ist.

Viele Gebiete, denen sich die Nudger zuwenden, würden in großen Teilen der Bevölkerung auf Zustimmung stoßen: irgendwas mit gesund, bio, nachhaltig, sicher und sozial kann einfach nicht falsch sein. Es dürfte dann doch eigentlich unproblematisch sein, wenn man den Leuten hilft, sich diesem Spektrum entsprechend zu verhalten. Die Nudger tappen allerdings an diesem Punkt in eine Falle: Sie behaupten, den Menschen nur zu dem verhelfen zu wollen, was sie ohnehin selbst wollen. Da sie aber klassischerweise Vertreter einer gebildeten, gutverdienenden Intellektuellen-Elite sind, gehen sie zumindest implizit, vielleicht sogar völlig unbewusst, davon aus, auch objektiv beurteilen zu können, was für Menschen besser ist.

Was ist Aufklärung?

Hier ist das Einfallstor des Aufgeklärten Absolutismus: Man glaubt zu wissen, dass kein vernünftiger Mensch ernsthaft zu viel Fett, Zucker, Salz, Koffein, Alkohol, Tabak zu sich nehmen wollen würde. Wer das dennoch tut, tut es nicht, weil er es will, sondern weil er uneinsichtig, verblendet, verführt oder schlichtweg dumm ist. Solchen Menschen muss man helfen. Die Nudger – und noch viel mehr die Politiker und Bürokraten, die deren Steilvorlagen dankbar aufnehmen – wähnen sich im Besitz des Wissens darüber, was objektiv richtig ist. Jede Entscheidung, die von dieser Wahrheit abweicht, bedarf der – selbstverständlich freundlichen und respektvollen – Korrektur.

Dahinter steckt eine Phantasie der Weltbeglückung, die auch schon den Alten Fritz umtrieb. Es ist jener Strang der Aufklärung, der so sehr von sich selbst und der eigenen Vernunft begeistert war, dass er alle anderen auf den eigenen Stand bringen wollte. Weil sich dieser Strang selbst zum Maßstab aufgeschwungen hat, waren alle möglichen Mittel recht, um die eigene Weltsicht durchzusetzen. Den Fortschritt, den diejenigen machen würden, die sich der eigenen Einsicht anschlossen, rechtfertigte auch den ein oder anderen, im Zweifel sanften, Zwang. Dem entgegen steht jener Strang der Aufklärung, für den auch Friedrichs Untertan Immanuel Kant steht. Dessen berühmte Schrift „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ beginnt mit einer fulminanten Passage, die angesichts der Wiederkehr des Aufgeklärten Absolutismus im modernen Gewand besonders lesenswert ist, weil ihr Kerngedanke die Autonomie des Individuums ist:

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.

Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen, dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es Anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, u.s.w., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen.“

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