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Das Brexit-Votum und das derzeitige Nachspiel zeigen deutlich: die Globalisierung ist bedroht. Und zwar gleich von zwei Seiten: von einer verängstigten Bevölkerung wie von protektionistischen und merkantilistischen Politikern, gerade auch in der EU-Führungsebene.

Pro-Brexit und Anti-Globalisierung

Eines der wichtigsten Umfrage-Institute im Vereinigten Königreich, Lord Ashcroft Polls, hat eine in die Tiefe gehende Nachwahl-Befragung durchgeführt. (NB: Lord Ashcroft selbst ist ein Befürworter des Brexit.) Die Ergebnisse sind interessant: So nannten nur 6% der Brexit-Befürworter als Hauptgrund ihrer Entscheidung: „Im Bezug auf Handel und Wirtschaft würde Großbritannien mehr davon profitieren, außerhalb der EU zu sein“. Die anderen nannten die Unabsehbarkeit der Entwicklung der EU (13%), Kontrolle über die Grenzen (33%) und das Prinzip, dass Entscheidungen, die Großbritannien betreffen, auch dort gefällt werden sollten (49%).

Noch spannender wird es bei der Frage, wie Menschen, die sich zu bestimmten Phänomenen positiv oder negativ verhalten, abgestimmt haben. Gefragt wurde nach Multikulturalismus, gesellschaftlichem Liberalismus, Feminismus, der Öko-Bewegung, Globalisierung, Internet, Kapitalismus und Migration. Von denen, die Globalisierung insgesamt negativ einschätzen, stimmten 31% gegen den Brexit und 69% dafür. Diejenigen, die Globalisierung für positiv halten, stimmten zu 62% für einen Verbleib und zu 38% für den Austritt.

Globalisierungsgegner: links, rechts und in Brüssel

Die Globalisierung ist derzeit weltweit unter Beschuss. Schon seit mehr als einem Jahrzehnt haben Linke das Thema für sich entdeckt und sie in sonderbarem Kontrast zu ihrer alten Tradition des Internationalismus für alle Übel der Welt verantwortlich gemacht. Spätestens seitdem offenbar wird, dass in einer zunehmend globalisierten Welt nicht nur Güter, sondern auch Menschen beweglicher werden, haben auch Rechte das Phänomen als Gegner ausgemacht. Während die eine Seite eine Tobin-Steuer fordert, geloben auf der anderen Seite Politiker wie Trump ökonomische Unabhängigkeit. In Großbritannien, dem Ursprungsland des Freihandels, findet man in den Supermärkten inzwischen gigantische UK-Fahnen auf unzähligen Produkten, die zeigen sollen, dass der Joghurt, die Forelle und im Zweifel auch noch die Papaya aus Großbritannien stammen.

Mit dem Konzept der vier Grundfreiheiten ist die EU durchaus ein Motor der Globalisierung gewesen. Gleichzeitig ist sie aber auch immer wieder der Gefahr erlegen, die Globalisierung zu bremsen. Das prominenteste Beispiel dafür ist wohl die Agrarpolitik. Ein anderes Beispiel wäre das Thema Mindestlohn, der die Arbeitsmärkte selbst innerhalb der EU abschottet. Wäre ein solcher Protektionismus nicht eigentlich ein Fall für die Binnenmarkt-Kommissarin? Und nun auch noch die hemmungslose Post-Brexit-Rhetorik von Juncker, Schulz und Konsorten. Sie zielt nicht nur darauf, die Briten verächtlich zu machen, sondern insbesondere auch auf einen europäischen Korpsgeist. In diesem „wir Europäer“ steckt auch sehr viel „die anderen“ – seit neuestem nicht mehr nur Chinesen, Brasilianer, die USA und bisweilen die Schweiz, sondern nun auch das Vereinigte Königreich. Weltoffenheit ja – aber nur gegenüber denen, die wohlanständig kooperieren …

Es droht eine neue Ära des Isolationismus

Es ist vor allem der Globalisierung zu verdanken, dass die bitterste Armut weltweit zurückgegangen ist und gleichzeitig das Leben in unseren Breitengraden mit eindrucksvoller Geschwindigkeit immer besser wird. Weltweiter Wohlstand und wachsende Freiheit sind die Ergebnisse eines Zeitalters, in dem Grenzen gefallen sind: von Zollschranken bis zu Informationsschranken. Es sind wahrhaft bittere Zeiten, wenn Globalisierung selbst in ihrem Mutterland auf der Insel im Kanal einen zunehmend schweren Stand hat. Es droht eine neue Ära des Isolationismus: In den USA überbieten sich Clinton und Trump mit protektionistischen Vorschlägen. In Ostasien spielen wichtige Akteure mit dem Feuer des Wirtschaftskrieges. Und in der EU wollen die einen sich jetzt gegenüber Großbritannien und der Schweiz endlich mal hart zeigen, während die anderen die Abkommen mit den USA und Kanada zu Fall bringen wollen.

Diese Tendenzen müssen aufgehalten werden! Dazu gehört, dass alle an den Brexit-Verhandlungen Beteiligten so viele Freiheiten wie möglich zu bewahren versuchen. Die britischen Politiker müssen der Versuchung einer Abschottung widerstehen – und vielleicht noch viel mehr die EU der Versuchung, eine Strafaktion gegen Unbotmäßige durchzuführen. Vor allem aber müssen Vorurteile und Ängste auf kluge Weise abgebaut werden. Jeder Intellektuelle, Journalist und Politiker, der politischen und wirtschaftlichen Isolationismus (und die damit einhergehenden massiven politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Verwerfungen) vermeiden möchte, ist in der Verantwortung. Wir müssen Globalisierung neu erklären, um zu verhindern, dass all das Positive, das wir in den vergangenen Jahrzehnten erreicht haben, in Gefahr gerät.

Friedrich August von Hayeks Beobachtung und Warnung aus dem Jahr 1949 ist heute wieder hochaktuell:

Nachdem die wesentlichen Forderungen des liberalen Programms erfüllt waren, wandten sich die liberalen Denker vorwiegend Einzelproblemen zu und vernachlässigten die Fortbildung der philosophischen Grundlagen; der Liberalismus hörte damit auf, ein lebendiges Problem zu sein, das zu geistiger Arbeit reizte. … Wenn es uns nicht gelingt, die Voraussetzungen einer freien gesellschaftlichen Ordnung wieder zu einer brennenden geistigen Frage und ihre Lösung zu einer Aufgabe zu machen, die den Scharfsinn und die Erfindungsgabe unserer besten Köpfe herausfordert, dann sind die Aussichten für den Fortbestand der Freiheit tatsächlich gering.

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Im Jahr 2008 machte ein Buch Furore, das einen “echten dritten Weg” versprach zwischen Regulierungswut und Laissez-faire. Der Titel: “Nudge. Improving Decisions About Health, Wealth, and Happiness”. Diese sehr umfassende Verheißung stammt von dem Harvard-Juristen Cass Sunstein und dem in Chicago lehrenden Ökonomen Richard Thaler. Nudging sollte die Technik sein, mit der das moderne Staatswesen des 21. Jahrhunderts optimiert werden kann.

Wer möchte nicht seine Gesundheit, seinen Wohlstand und sein Glücksempfinden verbessern?

Grundlage ihrer Nudge-Theorie sind im Grunde genommen zwei Banalitäten: Erstens, wir tun nicht immer das, was wir gerne tun würden: vom regelmäßigen Schwimmen bis zu mehr Sorgfalt bei unserer individuellen Finanzplanung, vom Energiesparen bis zur gesunden Ernährung. Kurz: Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach. Zweitens, es gibt aber auch ganz gute Möglichkeiten, dieses Problem zu umgehen, nämlich, indem wir uns selbst überlisten: zum Beispiel, indem man sich morgens mit einer Freundin zum Joggen verabredet oder einfach, indem man Neujahrsvorsätze fasst. Der Trick besteht darin, dass wir die Umstände für uns so verändern, dass wir eine bestimmte Entscheidung eher treffen.

Sunstein und Thaler empfehlen nun der Politik, sich diese Phänomene menschlichen Verhaltens zunutze zu machen. Indem man einige kleine Schrauben anders setzt oder den Rahmen leicht verschiebt – so ihr Argument –, kann man große Teile der Bevölkerung dazu bewegen, sich im Blick auf Bereiche wie Gesundheit, Umwelt und Vorsorge richtig zu verhalten. Die Ziele, die mit der Methode des Nudging erreicht werden sollen, sind im Verständnis von Sunstein, Thaler und ihren Mitstreitern solche, die ohnehin breiten gesellschaftlichen Zuspruch finden und Nutzen für die Gesamtheit stiften. Wer möchte nicht seine Gesundheit, seinen Wohlstand und sein Glücksempfinden verbessern? Ist es nicht besser, Krankheitskosten zu senken, die Umwelt zu schonen und jedem eine solide Alterssicherung zu ermöglichen?

Nudging als freiheitliche Alternative zur Verbotskultur?

Diese Ziele sollen dank Nudging nun nicht mehr mit Gesetzen und Verboten erreicht werden, sondern auf Samtpfoten. Darum bezeichnen die Erfinder des Nudging ihr Konzept auch als “libertären Paternalismus”, weil es zwar versucht, Menschen zum richtigen Verhalten zu bringen, aber niemals explizit eine abweichende Entscheidung verbietet. An die Stelle des Veggie Days könnte dann zum Beispiel eine bundesweite Kantinen-Initiative treten: Brokkoli und Fenchel sind dann so zu platzieren, dass wir lieber dort zugreifen als bei Currywurst oder Tortellini alla Panna. Nudging präsentiert sich mithin als freiheitliche Alternative zur Verbotskultur.

Es gibt auf vielen Ebenen sehr gute Einwände gegen diese Art, vorgeblich gesellschaftlich gewünschte oder möglicherweise nützlichere Ergebnisse zu produzieren. Dazu gehören Fragen des Demokratie- und Rechtsstaatsverständnisses, Fragen der Transparenz und Kontrollierbarkeit sowie insbesondere auch die Frage nach menschlicher Autonomie und dem grundlegenden Verständnis von Eigenverantwortung. An dieser Stelle soll vor allem auf ein Problem eingegangen werden: Worin liegt die Gefahr dieses scheinbar harmlosen Mittels? Die Antwort lässt sich knapp zusammenfassen: Sie liegt in einem einzigen Buchstaben.

Ein Mittel, das Frau Aigner ebenso zur Verfügung stehen kann wie Herrn Ramelow

In der Theorie hört sich Nudging zunächst einmal harmlos an, sanft und vernünftig. Es ist ein gewaltfreies Modell, das scheinbar gut geeignet ist für eine Welt, in der Individualität einen immer größeren Raum einnimmt. Zwischen diesen theoretischen Überlegungen und der praktischen Umsetzung ist allerdings ein Zwischenschritt erforderlich, der sehr gefährlich sein kann. Denn es muss Menschen geben, die bestimmen, auf welchen Gebieten Nudging eingesetzt wird; die entscheiden, in welche Richtung “genudged” werden soll; die feststellen können, welche Ergebnisse richtig, also erwünscht sind. Das sind Politiker und Bürokraten. Nun ist es freilich ohnehin schon in vielen Fällen kaum möglich, eine objektiv richtige Entscheidung zu treffen. Die einen argumentieren etwa, man solle komplett auf Fleisch oder gar alle tierischen Produkte verzichten. Die anderen raten davon ab, Laktose zu konsumieren. Wieder andere schwören darauf, keinerlei Kohlenhydrate zu sich zu nehmen. Und hier geht es nur um einige diätetische Differenzen …

Über die unterschiedlichen wissenschaftlichen Ansätze hinaus birgt aber die Notwendigkeit zu entscheiden, was richtig sein soll, noch eine wesentlich größere Gefahr: Wir wissen, dass Politiker und Bürokraten keine selbstlosen, allgütigen und allwissenden Gestalten sind. Insbesondere Politiker haben in der Regel eine Agenda. Wer aber für eine bestimmte politische Richtung einsteht, wird auch eine hypothetische Objektivität gegebenenfalls sehr rasch aufgeben zugunsten einer Perspektive, die mit seinen eigenen Überzeugungen und Ansichten konform geht. Um es etwas schematisch zu illustrieren: Während ein Politiker der Grünen sich des Instruments vielleicht bedienen wird, um den Fleischkonsum zu reduzieren, könnte es einer AfD-Politikerin dabei helfen, ein traditionelles Familienbild stark zu machen. Es ist ein Mittel, das Frau Aigner ebenso zur Verfügung stehen kann wie Herrn Ramelow.

Hier kommt der Buchstabe ins Spiel. In der Theorie geht Nudging davon aus: Wir tun nicht immer das, was wir eigentlich tun wollen. Der Politiker denkt: Wir tun nicht immer das, was wir eigentlich tun sollen. Während Nudging in der Theorie dazu dient, uns dabei zu helfen, unsere tatsächlichen Präferenzen besser zu verfolgen, wird es in der politischen Praxis schnell zu einem Mittel, die Präferenzen anderer besser umzusetzen. Die Technik wird mit einer Agenda ausgestattet.

Nudging kann den Geist unserer staatlichen Ordnung bedrohen

Am Ende läuft vieles auf die grundsätzliche Frage hinaus: Wer entscheidet eigentlich, was das Richtige ist? Gewiss, es gibt immer gesellschaftliche Stimmungen, die eine relativ breite Zustimmung finden. Die Stimmung in den letzten zwei, drei Jahrzehnten etwa lässt sich unter Stichworten wie Nachhaltigkeit, Ökologie und Fitness zusammenfassen. Doch auch wenn sich ein großer Teil der Bevölkerung diese Ziele zu eigen macht, ergibt sich daraus noch nicht, dass es legitim wäre, die Ziele für alle zu setzen. Zwar argumentieren die Freunde des Nudging, dass genau das schließlich nicht geschehe. Man wolle ja nur etwas vorschlagen und ein wenig attraktiver machen. Klar ist jedoch: Eigentlich sollten sich alle Menschen ihrem Vorschlag anschließen. Insofern werden immer noch Ziele gesetzt. Es wird immer noch auf allen möglichen Gebieten unseres Lebens bestimmt, was gut und was schlecht ist. Nur die Mittel zur Durchsetzung haben sich geändert.

Nudging kann am Ende, wie auch andere Formen des Paternalismus, den Geist unserer staatlichen Ordnung bedrohen. Im Grundgesetz findet sich unmittelbar nach der Bestimmung zum Schutz der Menschenwürde die Formulierung: “Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.” Diese Bestimmung begründet unser Land als freiheitlichen Staat. Wenn politische Akteure der Ansicht sind, dass bestimmte Formen der freien Entfaltung der Persönlichkeit zu korrigieren sind, und wenn sie nach Mitteln suchen, diese Entfaltung sanft in die richtige Richtung zu lenken, dann stellen sie prinzipiell jene Autonomie infrage, die uns zu mündigen Bürgern macht.

Vor gut sechseinhalb Jahrzehnten rief Ludwig Erhard den Delegierten des 1. CDU-Bundesparteitags in Erinnerung, “dass die freie Konsumwahl zu den in den Sternen geschriebenen Grundrechten eines Volkes und jedes einzelnen Menschen gehört und dass es demgegenüber ein Verbrechen an der Würde und an der Seele des Menschen bedeutet, ihn durch staatliche Willkür zum Normalverbraucher erniedrigen zu wollen”.

Erstmals erschienen auf dem Blog der Ludwig-Erhard-Stiftung.

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Von Prof. Roland Vaubel, emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre und Politische Ökonomie an der Universität Mannheim.

Der neue britische Premierminister hat die Wahl: Er kann mit Zustimmung des Unterhauses das Austrittsverfahren nach Artikel 50 EUV in Gang setzen, oder er kann versuchen, den Austritt im Rahmen einer Vertragsänderung zu vereinbaren. Das Verfahren nach Artikel 50 erlaubt ihm, den Zeitplan zu bestimmen: Er kann erzwingen, dass Grossbritannien nach zwei Jahren – also innerhalb der laufenden Legislaturperiode – aus der EU ausscheidet. Für das Vertragsänderungsverfahren könnte dagegen sprechen, dass die Austrittsmodalitäten, die er mit den anderen Mitgliedstaaten vereinbaren kann, nicht vom Europäischen Parlament, sondern von den nationalen Parlamenten genehmigt werden müssen.

Eine Änderung der Verträge wird von den verschiedensten Seiten und aus den verschiedensten Motiven gefordert – auch vom deutschen Finanzminister Schäuble und vom französischen Präsidenten Hollande -, aber erst nach den Wahlen im nächsten Jahr. Für den neuen britischen Premierminister könnte das zu lange dauern. Er könnte ad infinitum hingehalten werden. Deshalb wird er sich nicht auf eine Vertragsänderung verlassen wollen, sondern mit beiden Strategien spielen. Die Option der Vertragsänderung kann ihm dazu dienen, das Europäische Parlament unter Druck zu setzen.

Das Austrittsverfahren nach Artikel 50 beginnt mit der Übermittlung der Austrittsentscheidung. Diese Notifikation ist endgültig. Sie kann nicht zurück gezogen werden, wenn die von den Anderen angebotenen Austrittsmodalitäten ungünstiger als erwartet sind. Aber die Verhandlungen können im gegenseitigen Einvernehmen über die zwei Jahre hinaus beliebig verlängert werden. Geht man davon aus, dass die anderen Mitgliedstaaten nicht am Austritt des britischen Nettozahlers interessiert sind, so ist damit zu rechnen, dass sie die Verhandlungen nach Kräften in die Länge ziehen und innerhalb der ersten zwei Jahre kein akzeptables Angebot vorlegen werden, wenn nicht die britische Seite von vorne herein eine Verlängerung der Verhandlungen ausschliesst. Der neue britische Premierminister wird der EU daher vermutlich von Anfang an mitteilen, dass eine Verlängerung der Verhandlungen über zwei Jahre hinaus keinesfalls in Frage kommt.

Interessanterweise haben sich Kommissionspräsident Juncker und Parlamentspräsident Schulz für einen möglichst schnellen Abschluss der Austrittsverhandlungen nach Artikel 50 ausgesprochen. Sie scheinen verhindern zu wollen, dass Grossbritannien noch Mitglied ist, wenn Ende 2017 die geplanten Verhandlungen über die Änderung der europäischen Verträge beginnen. Die Briten sollen nicht die Möglichkeit haben, mit einer Blockierung der Vertragsänderungen zu drohen und damit ihre Verhandlungsposition zu stärken. Diese Befürchtung ist jedoch unbegründet, denn auch die EU kann ja verhindern, dass die Austrittsverhandlungen nach Artikel 50 länger als zwei Jahre dauern. Wenn die Austrittsentscheidung im vierten Quartal dieses Jahres übermittelt wird, kann die Neufassung der europäischen Verträge ab dem vierten Quartal 2018 von den Parlamenten der Mitgliedstaaten ratifiziert werden. Viel schneller wird es ohnehin nicht gehen.

Artikel 50 EUV sieht vor, dass eventuelle Nachfolgevereinbarungen mit Großbritannien von einer qualifizierten Mehrheit des Rates (ohne Großbritannien) und von einer einfachen Mehrheit des Europäischen Parlaments (kuriosererweise einschliesslich der britischen Abgeordneten) gebilligt werden müssen. Die Kommission darf nicht mitentscheiden. Sie muss aber nach Artikel 218 Absatz 3 AEUV gleich zu Beginn der Verhandlungen dem Rat Empfehlungen vorlegen. Der Rat braucht sich nicht an die Empfehlungen zu halten. Er bestellt einen Verhandlungsführer. Viel hängt davon ab, ob die Verhandlungen vom Ratspräsidenten Tusk oder von einem Mitglied der Kommission geführt werden.

Der neue britische Premierminister wird vermutlich ein Engländer sein. Er hat kein Interesse daran, dass Schottland vor dem hoffentlich erfolgreichen Abschluss der Austrittsverhandlungen – oder wenn es nicht dazu kommt, vor Ablauf der Zwei-Jahres-Frist – erneut über seine Unabhängigkeit abstimmt.

Jede Sezession – die britische, aber auch eine schottische – ist ein Akt der politischen Dezentralisierung. Sie stärkt den Wettbewerb zwischen den Regierungen der verschiedenen Staaten, eröffnet den Bürgern mehr Wahlmöglichkeiten und hält daher die staatliche Besteuerung und Regulierung im Zaum. Sie stärkt die Innovation und die Freiheit des Einzelnen. Das setzt natürlich voraus, dass die Freiheit des Handels und Kapitalverkehrs erhalten bleibt.

Photo: Klaus Tenter from Flickr (CC BY 2.0)

Von Dr. Hubertus Porschen, Vorsitzender des Verbandes „Die Jungen Unternehmer„, CEO der App-Arena GmbH.

Es ist still geworden um das große Thema Staatsbeteiligung. Andere Fragen wie die Eurorettung oder die Niedrigzinspolitik binden zurzeit anscheinend alle ordnungspolitischen Kapazitäten. Dabei ist es ein Unding, an wie vielen Stellen der Staat in Deutschland keineswegs nur die Rolle des Schiedsrichters einnimmt, sondern gleichzeitig munter mitspielt. Auf Landesebene widmet er sich z. B. dem Glückspiel, die Kommunen drängen in das Rohstoffrecyling und der Bund ist u. a. als Mobilfunkanbieter in den USA tätig.

Politiker sind keine Unternehmer

Besonders zwei Gründe machen alle diese Staatsbeteiligungen so kritisch: Erstens sind die wirtschaftlichen Aktivitäten des Staates häufig nicht so lukrativ wie vorher vermutet. Die Meeresfischzuchtanlage in Völklingen ist hier nur die Spitze des Eisbergs. Überraschen kann das eigentlich nicht: Politiker und Beamte sind schließlich keine Unternehmer.

Und zweitens führen die staatlichen Ausflüge auf das Spielfeld häufig auch noch dazu, dass bereits bestehende private Unternehmen in die Bredouille geraten, weil sie einer unfairen Konkurrenz ausgesetzt sind. In diesem Fall schadet sich die öffentliche Hand übrigens doppelt: Denn zum Verlustrisiko aus ihren eigenen Aktivitäten (siehe Völklingen) kommen auch noch die entgangenen Steuereinnahmen und sonstige Kosten (z. B. Arbeitslosenhilfe für entlassene Mitarbeiter), da bestehende Unternehmen aus dem Markt gedrängt werden.

Beides geht nicht – der Staat als Schiedsrichter und Spieler

Darüber hinaus kann es natürlich auch zu Zielkonflikten zwischen den Rollen als Schiedsrichter und Mitspieler kommen. Die Versuchung ist groß, die eigenen Interessen als wirtschaftlicher Akteur bei der Regelsetzung besonders zu berücksichtigen. Das Breitbandausbauprogramm des Bundes steht beispielsweise im Verdacht, die Interessen der Telekom besonders zu berücksichtigen (an der der Bund zusammen mit der KfW insgesamt 31,8 Prozent hält). Unabhängig davon, ob sich diese Vorwürfe in der Empirie bestätigen: Es wäre dringend an der Zeit, dieses Aktienpaket zu verkaufen. Denn warum sollte der deutsche Steuerzahler an einem Unternehmen beteiligt sein, dass auf einem funktionierenden Markt agiert – und zudem noch große Teile seines Umsatzes in den USA erwirtschaftet?

Staatsbeteiligung in Breitbandausbau investieren

Mal ganz abgesehen davon, dass die Entscheidung ordnungspolitisch dringend geboten ist: Lukrativ wäre der Verkauf noch obendrauf. So würden je nach Lage und Verkaufsstrategie schnell 10 bis 20 Milliarden Euro zusammen kommen. Mein Vorschlag wäre, die dann gleich in den Breitbandausbau zu investieren. Auch in der Schuldentilgung wären sie z. B. gut angelegt. Sicher ist nur eins: Als Staatsbeteiligung an einem privaten Unternehmen ist das Geld falsch investiert.

Photo: British High Commission from Flickr (CC BY-ND 2.0)

Es hat etwas von Sonnenkönig, wenn EU-Parlamentspräsident Martin Schulz sich im Vorfeld des britischen Referendums über deren Verbleib in der EU äußerte. „Wer geht, geht“. Die Befürworter dürften nicht darauf spekulieren, „nach einem Brexit auf Zeit zu spielen und eine möglichst gute Vereinbarung mit den EU-Partnern herauszuhandeln.“ Ungewollt gab Martin Schulz den Brexit-Befürwortern noch Argumente an die Hand. War doch der Souveränitätsverlust Großbritanniens eines der Hauptargumente der EU-Gegner. Jetzt ist es passiert. Die Briten haben mehrheitlich für den Brexit gestimmt.

Und nun fällt Martin Schulz seine Aussage vor die eigenen Füße. So redet eigentlich keiner, der den Geist eines friedlichen Europas aufgesogen hat. So redet vielleicht ein absolutistischer Herrscher in der Zeit des Merkantilismus, wo es darum ging, dem anderen etwas wegzunehmen und möglichst viel selbst zu behalten. Es zeigt die Kleingeistigkeit der Brüsseler Nomenklatura. Sie hat insgesamt den Wink Großbritanniens nie verstanden. Eigentlich ist der Brexit eine Chance für die Europäische Union. Zwingt sie diese doch zum Nachdenken über den eingeschlagenen Weg. Es kann eigentlich von niemandem mehr bezweifelt werden, dass sich die EU in einer schweren, schwelenden Krise befindet. Doch Reformen sind Mangelware.

Die Lehre aus dem Verfassungsentwurf 2004, der an Referenden in Frankreich und den Niederlanden gescheitert ist, war, dass die Vertiefung der EU nicht mehr mit umfangreichen Vertragsänderungen erfolgen sollte, sondern lediglich im Rahmen der Interpretation des Lissabonner Vertrags. Dieser trat 2009 in Kraft und ist seitdem Grundlage jeglicher Erweiterungsmaßnahmen. Seitdem gab es keine substanziellen Vertragsänderungen mehr. Alles wurde seitdem so ausgelegt, als gäbe es der Lissabonner Vertrag her. Die Griechenland-Hilfen und die Bankenunion sind nur zwei Beispiel, wo die EU-Institutionen die EU-Verträge soweit bogen, dass auch das Gegenteil dessen, was in den Verträgen steht, beschlossen werden konnte. Die Folge dieser Entwicklung ist, dass aus bislang guten Nachbarn Schuldner und Gläubiger gemacht wurden, die so eng mit einander verbunden sind, dass der nächste Zentralisierungsschritt darüber erzwungen werden kann. Soweit die Hoffnung und die Strategie der Eurokraten. Doch diese Vorgehensweise wird scheitern. Sie wird deshalb scheitern, weil sie keine Akzeptanz bei den Bürgern hat. Sie fühlen sich mehr und mehr hintergangen.

Die Krise der EU ist daher in erster Linie eine Akzeptanzkrise. Die Bürger in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union werden nicht mitgenommen. Die Prozesse werden nicht ausreichend rückgekoppelt und das vereinbarte Recht hat nicht einmal die Halbwertzeit von übermorgen. Die ursprüngliche Stärke der Union, die Freizügigkeit und der Binnenmarkt, werden durch neue Regulierungsbürokratien auf europäischer Ebene wieder in Frage gestellt. Diese neuen Bürokratien dienen zunehmend nicht der Marktöffnung, sondern sind Markteintrittsbarrieren für kleinere und mittlere Unternehmen. Sie fördern eine staatliche gelenkte Oligopole. Denn nur große Unternehmen können vielfach noch den regulatorischen Aufwand für den Binnenmarkt leisten.

Und die EU tritt zunehmend als Hegemon gegenüber den kleinen Staaten innerhalb und außerhalb der Europäischen Union auf. Schon heute haben kleine Staaten nur einen sehr geringen Einfluss auf die Ratspolitik. Sie werden am goldenen Zügel geführt und gelenkt. Nicht ein „Europa des Rechts“ sondern „Zuckerbrot und Peitsche“ sind die Ordnungsprinzipien der Europäischen Union. Länder außerhalb der EU, wie die Schweiz, werden unter Druck gesetzt, sämtliche Forderungen der EU bedingungslos zu übernehmen, ansonsten droht ihnen der Verlust des Zugangs zum EU-Binnenmarkt. Der wohlstandsfördernde Geist offener Grenzen und der friedensstiftende Wert, den der freie Warenverkehr stiftet, tritt gegenüber machtpolitischen Überlegungen zunehmend in den Hintergrund. Es geht nicht mehr darum, dass Unternehmen und Kunden sich auch grenzüberschreitend austauschen, wie sie es für gut und richtig empfinden, sondern eine Übermacht in Brüssel hebt oder senkt den Daumen.

Gleichzeitig wird hinter dieser Entwicklung auch der Hegemonialanspruch Deutschlands gesehen. Unterschwellig ist dies der eigentliche Spaltpilz Europas. Deutschlands ökonomische Stärke ist zwar anerkannt, wirkt aber auf viele Mitgliedsstaaten erdrückend. Der Euro wirkt für viele Staaten wie ein Korsett, das ihnen die Luft zum Atmen nimmt. Eigentlich müßte der Euro atmen, wenn er überleben will, ansonsten geht ihm über kurz oder lang die Luft aus. Es muss also geordnete Austrittsmöglichkeiten aus dem Euro für diejenigen geben, die es nicht schaffen oder nicht schaffen wollen.

Vor diesem Hintergrund ist der Brexit ein Geschenk. Er ermöglicht den Handelnden innezuhalten. Grundsätzlich die Diskussion über die Frage zu führen: Welche Europäische Union wollen wir eigentlich?

Der Verfassungsentwurf 2004 ist mit Recht gescheitert. Er war zu kompliziert und unverständlich. Der Beschluss Großbritanniens, Verhandlungen über den Ausstieg aus der EU zu beginnen, sollte die EU insgesamt veranlassen jetzt innezuhalten. Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, über die Europäischen Verträge neu nachzudenken. Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt einen Konvent für Europa einzuberufen, der die Verträge auf eine neue demokratische und rechtsstaatliche Basis stellt. Und vielleicht auch mit dem Dogma Schluss macht, immer von einer „ever closer union“ zu sprechen. Oftmals ist weniger mehr.

Vielleicht sollten sich die Staats- und Regierungschefs in der EU an diesem Tag an Margret Thatcher orientieren. Sie hat zur Rolle Großbritannien in Europa einmal gesagt: „Großbritannien träumt nicht von einer behaglichen, isolierten Existenz am Rande der Europäischen Gemeinschaft. Unsere Bestimmung liegt in Europa, als Teil der Gemeinschaft. Die Gemeinschaft ist kein Selbstzweck. Genauso wenig ist sie eine Einrichtung, die beständig verändert werden darf nach dem Diktat eines abstrakten intellektuellen Konzepts. Sie darf sich auch nicht verknöchern durch unaufhörliche Regulierungen. Die Europäische Gemeinschaft ist ein zweckmäßiges Mittel, mit dessen Hilfe Europa Wohlstand und Sicherheit seiner Bewohner auch in Zukunft garantieren kann.“