Photo: Alex Santos Silva from Flickr (CC BY-ND 2.0)

Die Bundesbank schlägt in ihrem jüngsten Monatsbericht vor, das Rentenalter auf 69 Jahre zu erhöhen. Es ist eine gezielte Provokation in Richtung Andrea Nahles und Sigmar Gabriel. Die beiden Sozialdemokraten haben bislang alles dafür getan, die 2006 unter Gerhard Schröder und Franz Müntefering eingeführte Rente mit 67 auszuhöhlen. Ob die Strategie der heutigen SPD-Führungsriege klug ist, sei dahingestellt. Immerhin lag die SPD in Umfragen damals bei respektablen 28 Prozent. Heute wäre Gabriel froh, wenn er solche Ergebnisse vorweisen könnte.

Die Bundesbanker wollen die Rente mit 69 zwar erst im Jahr 2060 realisieren, also 30 Jahre später als „Münte“, aber dennoch rückt die Bundesbank die Probleme der umlagefinanzierten Rente wieder in den Blickpunkt. Immer mehr ältere Menschen beziehen immer länger Rente und immer weniger junge Menschen zahlen in das System ein. Während ein Rentner, der 1960 in Rente ging eine durchschnittliche Rentenbezugsdauer von 13,5 Jahren hatte, sei diese im Jahr 2011 auf 19 Jahre gestiegen. Die relative Rentenbezugsdauer – das Verhältnis von Rentenbezugszeiten zu Beitragszeiten – stieg in diesem Zeitraum sogar von 30 auf 42 Prozent. Ohne Korrekturen prognostiziert die Bundesbank einen Anstieg des Beitragssatzes von 18,7 auf 24 Prozent. Die steigenden Lasten für die Steuerzahler lassen sich auch im jüngsten Finanzbericht von Finanzminister Schäuble ablesen. Der jährliche Zuschuss aus dem Bundeshaushalt für die Rentenkasse steigt kontinuierlich an und wird von heute 86 Mrd. Euro auf über 100 Mrd. Euro im Jahr 2020 ansteigen.

Sowohl Bundesbank als auch Bundesregierung wollen etwas erhalten, was so nicht erhaltenswert ist. Nicht das Rentenversicherungsystem muss um jeden Preis erhalten werden, sondern die Bürger müssen in die Lage versetzt werden, im Alter ein existenzsicherndes Einkommen zu beziehen. Das muss der Anspruch einer Gesellschaft sein. Das setzt nicht nur ein einfaches Herumdoktern an der Rentenformel voraus, sondern eine grundsätzliche Reform des Einkommensteuer- und Sozialversicherungssystems. Nur wer in der Lage ist, selbst vorzusorgen, ist unabhängig und frei. Heute sind Arbeitnehmer und viele Selbstständige aber zwangsversichert in einem zentralistischen Kollektivsystem ohne Ausweg. Sie sind Gefangene der Politik und ihrer Willkür. Fällt der Regierung morgen oder übermorgen ein, dass das Renteneintrittsalter erhöht oder die Rente gesenkt werden muss, kann der Einzelne nichts dagegen machen.

Im bestehenden Kollektivsystem ist die Kritik von Andrea Nahles an der Rente mit 67 jedoch nicht ganz unberechtigt. Natürlich kann nicht jeder Arbeiter oder Handwerker bis 67 Jahren schwere körperliche Arbeit verrichten. Aber gleichzeitig ist die Kritik Nahles’ wiederum auch falsch. Selbstverständlich gibt es Menschen, die freiwillig bis 67 Jahre oder länger arbeiten wollen, weil es sie erfüllt und sie gerne arbeiten.

Zentrale Organisationen nehmen auf den Einzelfall keine Rücksicht. Es gibt aber nicht den Standardrentner, der mit 65 den Griffel fallen lässt und nur noch auf Urlaubsreisen geht oder seinen Garten hütet. Jeder ist anders. Jede berufliche Biographie ist anders. Selbstständigkeit, Erziehungszeiten, abhängige Beschäftigungsverhältnisse, Auslandsaufenthalte, körperliche und nichtkörperliche Arbeit wechseln sich ab. Deshalb sind auch die Wege zu einer ausreichenden Altersvorsorge individuell anders. Der eine zahlt ein Leben lang in die gesetzliche Rentenversicherung ein, ein anderer nur einige Jahre und sorgt anders vor.

Warum soll ein Rentenversicherungssystem beide daran hindern, bereits mit 60 die gesetzliche Rente zu beziehen? Warum soll ein Rentenversicherungssystem und ein Tarifsystem, das Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften geschaffen haben, Arbeitnehmer daran hindern, bis 69 oder sogar 70 zu arbeiten? Nur um das System der gesetzlichen Rente zu retten? Was macht das für einen Sinn? Es ist doch kein Selbstzweck. Die Regierung und der Staat müssen dem Bürger dienen und nicht umgekehrt.

Das Rentenversicherungsystem muss vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Jeder soll dann in Rente gehen können, wenn er oder sie das will. Die Probleme der Demographie müssen anders gelöst werden. Zum jeweiligen individuellen Renteneintritt müssen die Demographiefaktoren der Alterskohorte berücksichtigt werden, unabhängig davon, in welchem Alter der Einzelne in Rente gehen möchte. Das bedeutet: wer heute in Rente geht, hat durchschnittlich eine geringere Lebenserwartung als jemand der in 30 Jahren in Rente geht. Gleichzeitig bezieht er früher seine Altersrente. Auch können in 30 Jahren weniger junge Menschen die Rente des dann in Rente gehenden bezahlen. Dies muss alles zum jeweiligen Zeitpunkt des Rentenbeginns berücksichtigt werden. Das ist kein Hexenwerk, sondern Mathematik und kann individuell berechnet werden.

Wer dem Sozialstaat nicht zur Last fällt, sondern durch private, berufliche und gesetzliche Rente und Altersvorsorge ausreichend vorgesorgt hat, kann in diesem Modell zu jedem Zeitpunkt seine Rente beziehen. Er soll sogar unbegrenzt hinzuverdienen können, um seine künftige Rente entsprechend erhöhen zu können. Hände weg von der Einheitsrente für den Einheitsrentner im umfassenden Versorgungsstaat. Freie Rente für alle!

Erstmals veröffentlicht auf Tichys Einblick.

Photo: Open Knowledge Foundation from Flickr (CC BY 2.0)

Wirtschaftliche Zusammenhänge zu verstehen, hat nicht unbedingt etwas mit unverständlichen Zahlen- und Buchstaben-Salaten zu tun. Für eine funktionierende Demokratie und Marktwirtschaft sind freilich Grundkenntnisse über Ökonomie unerlässlich.

Wirtschaft ist nicht nur etwas für Spezialisten

„Ich bin fast 18 und hab keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen“, klagte vor anderthalb Jahren eine Schülerin auf Twitter und löste damit eine Diskussionslawine aus. Machen wir unsere Kinder in unserem Bildungssystem lebenstauglich genug? Brauchen wir mehr Wirtschaftsunterricht in der Schule? Und ganz speziell: Muss nicht vielleicht im Unterricht eine detaillierte und umfassende Vorbereitung auf die Herausforderungen der modernen Welt gewährleistet werden (Stichwort: „Steuern, Miete oder Versicherungen“)?

Gerade diese praktischen Fragen sind eigentlich mit einer Nachfrage bei den Eltern oder Freunden und im Zweifel fast immer mit einer Google-Suche zu lösen. Viel wichtiger und grundlegender als Steuererklärung und Mietvertrag sind aber eigentlich Grundkenntnisse darüber, wie der Markt funktioniert. Ist das nicht eher etwas für die Spezialisten, könnte man einwenden, für die Zeitungsleser und Politiker? Reicht es für den Normalbürger denn nicht, wenn er die Klippen des täglichen Lebens in Bürokratie und Geschäftswelt umschiffen kann? Nein, sicher nicht!

Wirtschaft: menschliches Handeln schlechthin

Beim Mietvertrag übers Ohr gehauen zu werden, kann sehr weh tun. Wochen mit der Steuererklärung zuzubringen, kann viele Nerven kosten. Die falsche Versicherung abgeschlossen zu haben, kann mitunter sogar ruinös sein. Sich in all diesen Fragen zu informieren und zu bilden, ist sehr wichtig. Aber es ist auch naheliegend. Gerade weil man unmittelbar von einer fehlerhaften Kaufvereinbarung betroffen sein kann, sehen viele Menschen da genau hin. Sie verwenden aber meist viel weniger Sorgfalt auf die Beurteilung wirtschaftlicher und politischer Zusammenhänge. Entweder aus einer grundfalschen Bescheidenheit heraus, aus Frustration oder schlicht aus Desinteresse.

Wirtschaft – das ist nicht eine Domäne, die nur von Großfürsten der DAX-Konzerne und ihren entsprechenden politischen Gegenspielern beherrscht wird. Wirtschaft – das ist auch nicht nur das, was schlaue Wissenschaftler sich ausdenken und in immer komplexere Formeln packen bis sie endlich den Nobelpreis in Händen halten. Wirtschaft – das ist zunächst einmal, wie der Ökonom Ludwig von Mises es formulierte, „menschliches Handeln schlechthin“. Unser ganzes Leben ist bestimmt von Handlungen, die wir mit einem bestimmten, von uns selbst gewählten Ziel ausführen. Die Logiken von Tausch, Arbeitsteilung und Unternehmertum bestimmen letztlich alle Bereiche unseres Lebens. Der Ökonomie-Nobelpreisträger Gary Becker hat in seinen Forschungen diese Logiken sogar auf Bereiche ausgedehnt, die mit Wirtschaft im Verständnis der meisten Menschen gar nichts zu tun haben wie etwa Familienstrukturen, Rassendiskriminierung und Drogenabhängigkeit.

Bildung schützt gegen Parolen und leere Versprechungen

So berechtigt die hochkomplexen Forschungen der Ökonomen auch sind, so kann man doch schon auf einem wesentlich einfacheren Niveau wirtschaftliches Geschehen verstehen. Der Verfasser selbst hat seine ersten ökonomischen Einsichten als Achtjähriger bei Bergwanderungen mit seinem Vater gewonnen, der ihm am Beispiel des Bonbonfabrikanten Tausch und Arbeitsteilung erklärte. Zentral ist das Verständnis für wirtschaftliche Zusammenhänge vor allem aus zwei Gründen: Wirtschaftliches Handeln bestimmt und prägt unser ganzes Leben vom Kindergarten bis ins Altenheim. Wer es besser versteht, wird die Potentiale und Möglichkeiten, die sich ihm bieten, besser nutzen können. Und insbesondere ist es auch unverzichtbar, um als verantwortlicher Bürger in einem demokratischen Gemeinwesen Entscheidungen treffen zu können.

Populismus verfängt, weil viele Bürger darauf verzichten, sich in Bezug auf Wirtschaft zu bilden und zu informieren: Der Protektionismus von Trump und LePen genauso wie die Freihandels-Feindlichkeit von Attac und Campact. Aber auch schon im weniger extremen politischen Spektrum können nachhaltig schädliche Entscheidungen vor allem deswegen getroffen werden, weil die Einsicht in wirtschaftliche Zusammenhänge nicht weit genug verbreitet ist: von der Rettung Griechenlands in der Euro-Krise bis zur Mietpreisbremse. Wir brauchen für das Funktionieren unserer freiheitlichen Demokratie zwar nicht mehr promovierte Volkswirte. Aber wir brauchen Menschen, die einfach nur ihren gesunden Menschenverstand bewusst einsetzen, um keinen Parolen und leeren Versprechungen zum Opfer zu fallen.

Prometheus bietet Wirtschafts-Kurs für Schüler an

Es hat im Laufe der Geschichte der modernen freiheitlichen Demokratien immer wieder Menschen gegeben, die es geschafft haben, diese wirtschaftlichen Zusammenhänge allgemeinverständlich zu formulieren: Etwa Frédéric Bastiat im 19. Jahrhundert, Henry Hazlitt und Milton Friedman im 20. Jahrhundert und Johan Norberg in unserer Zeit. Zu diesen Vermittlern gehört auch Leonard Read, der Gründer der Foundation for Economic Education (FEE). Er verfasste 1958 die berühmte Kurzgeschichte „I, pencil“ – „Ich, der Bleistift“. Hier bekommt der Leser einen Einblick darein, wie ein Bleistift hergestellt wird, und vor allem, welches Ausmaß an Kooperation und Zusammenarbeit hinter einem so einfachen Gegenstand steckt.

Die Geschichte des Bleistifts greift auch der Kurs „Unsere Wirtschaft. Verständlich erklärt an einem Tag“ auf, der jungen Menschen auf spielerische Weise wirtschaftliches Grundverständnis nahebringen kann. Dieser Kurs wird von Prometheus ab heute zum kostenlosen Download zur Verfügung gestellt und ist der Beginn einer Serie, die wir unter „Prometheus Akademie“ anbieten werden. Konzipiert von Mitarbeitern der FEE haben wir den Kurs ins Deutsche übersetzt und entsprechend angepasst. Wir laden alle unsere Leser herzlich ein, sich den Kurs einmal anzusehen (sie finden ihn hier: https://prometheusinstitut.de/akademie/). Und besonders freuen wir uns natürlich, wenn Sie ihn weiterempfehlen an Lehrer und andere Personen, die sich in der Jugendarbeit engagieren!

Photo: Abhijay Achatz from flickr (CC BY-SA 2.0)

Es läuft gut für den Staat. Der Finanzbericht des Bundesfinanzministers rechnet alleine im nächsten Jahr mit Steuereinnahmen von 723,9 Milliarden Euro. Für die gesamte Legislaturperiode (2013 bis 2017) betrachtet, werden Bund, Länder und Gemeinden über 104 Milliarden Euro zusätzlich an Steuern einnehmen. Die Finanzminister und Kämmerer schwimmen im Geld wie noch nie in der Geschichte dieses Landes. Trotz Geldschwemme, oder vielleicht gerade deshalb, findet eine schleichende Hellenisierung der öffentlichen Haushalte in Deutschland statt. Das hat eine gewisse Logik. Griechenland ist in erster Linie auch deshalb in seine aussichtslose Situation geraten, weil seit dem Eintritt in die Europäische Gemeinschaft 1982 Subventionen von über 100 Milliarden Euro in das Land geflossen sind. Mit der Einführung des Euro kam dann noch zusätzlich die Verbilligung des Zinses hinzu, der eine größere Verschuldung ermöglichte. Beides ließ den Staatsapparat aufblähen, bis es nicht mehr ging. Seitdem hängt Griechenland am Tropf der Euro-Staaten und wird es bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag auch bleiben.

In Deutschland findet die Hellenisierung der öffentlichen Haushalte ebenfalls statt. Der billige Zins und der relativ schwache Euro sind Subventionen, die der Exportindustrie helfen und damit in der Folge die Steuereinnahmen enorm ansteigen lassen. Gleichzeitig wendet der Bundesfinanzminister immer weniger für seine Schulden auf. Zahlte Schäuble 2008 noch über 40 Milliarden Euro an Zinsen, so werden es im nächsten Jahr gerade mal noch 19 Milliarden sein, obwohl die Schulden des Bundes im gleichen Zeitraum um 117 Milliarden Euro gestiegen sind.

Eigentlich müssten die öffentlichen Haushalte in Deutschland die komfortable Situation für eine Rückführung der Verschuldung nutzen. Relativ zur Wirtschaftsleistung geschieht dies zwar, jedoch nicht in absoluten Zahlen. Die Finanzminister in Deutschland stecken in einem Dilemma. Sparen sie, dann machen sie sich in vermeintlich guten Zeiten nicht nur bei ihren Ministerkollegen unbeliebt, weil diese immer mehr Geld für immer neue Aufgaben ausgeben wollen, sie verschärfen auch die Euro-Krise und müssen am Ende doch für die Schulden der anderen bezahlen. Denn im Euro-Raum sind inzwischen die Schulden des einen Landes auch die Schulden des anderen Landes.

Wenn also die öffentlichen Haushalte in Deutschland sparen und ihre Verschuldung zurückführen, aber in Spanien, Italien, Griechenland, Portugal und Frankreich immer neue Schulden gemacht werden, ist nichts gewonnen. Denn am bitteren Ende zahlt Deutschland die Schulden der Anderen. Schon schlägt die SPD vor, die Schuldenbremse im Grundgesetz wieder aufzuweichen, um verstärkt Investitionen in Infrastruktur, Bildung und mehr soziale Gerechtigkeit zu ermöglichen. So sinnvoll das im Einzelfall auch sein mag, so falsch ist es in der Wirkung. Nur weil sich einige Länder in Europa unmoralisch verhalten und sich zu Lasten anderer schadlos halten, heißt das umgekehrt nicht, dass man es diesen Ländern nachmachen muss.

Moralisch richtig wäre es, wenn der Staat und seine Regierung den Bürgern diese zu viel gezahlten Steuern zurückerstattet. Denn es sind in erster Linie die arbeitenden Bürger, die die Steuern bezahlt haben. Es wäre doch sinnvoller, wenn jeder Einzelne seine Wünsche und Pläne besser und schneller verwirklichen könnte, anstatt die Staatsausgaben immer weiter auszuweiten. Vielleicht schafft man es nicht auf Anhieb, die Steuermehreinnahmen zu 100 Prozent an die arbeitenden Bürger zurückzugeben, aber vielleicht zu 50 Prozent. Es wäre so eine Art Fifty-fifty-Regelung. Von jedem Euro, den der Staat mehr bekommt, werden die arbeitenden Bürger automatisch um 50 Cent entlastet. Als Beispiel sollten wir uns an Benjamin Constant orientieren, der über die Zermürbung der Moral durch zu hohe Steuereinnahmen des Staates einmal sagte: „Ein Übermaß an Steuern führt zur Unterminierung der Gerechtigkeit, zur Verschlechterung der Moral und zur Zerstörung der persönlichen Freiheit.“

Erstmals erschienen bei Tichys Einblick.

Photo: Marcus Holland-Moritz from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Von Prof. Dr. Justus Haucap, Gründungsdirektor des Düsseldorfer Instituts für Wettbewerbsökonomie (DICE) an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und Mitglied im Kuratorium von Prometheus.

Mit knapper Mehrheit haben die Briten am 23. Juni 2016 dafür gestimmt, die Europäische Union zu verlassen. Viele Beobachter waren sehr überrascht. Bisher war es noch immer gut gegangen. Selbst als die Franzosen und Niederländer 2005 gegen die Europäische Verfassung stimmten, tat das der Integration keinen Abbruch. „Vorwärts immer, rückwärts nimmer“, so das bisher gültige Motto der EU. Nun aber will zum ersten Mal ein Land die EU wieder verlassen. Es scheint doch nicht alles alternativlos zu sein.

Besonders die wirtschaftlichen Konsequenzen werden für die Briten furchtbar sein, meinen durchaus nicht wenige meiner Kollegen (etwa hier). Die EU hingegen werde den Austritt schon verkraften, aber für die Briten sei ein Brexit desaströs, so die wohl mehrheitliche Meinung. In einer teils doch hysterisch anmutenden Berichterstattung und Kommentierung in den Tagen direkt nach dem Referendum wurden immer wieder zwei Vermutungen geäußert: Zum einen, dass viele Leute (besonders die Engländer und Waliser) wohl einfach zu dumm und zu wenig aufgeklärt seien, um die Vorteile der EU zu verstehen, und zum anderen, dass die alten Bürger zu störrisch sind und den jungen Briten in einem Akt der Misanthropie die Zukunft verbauen wollten. Dabei haben sich sehr viele junge Wähler der Stimme enthalten, weil es ihnen wohl doch nicht so wichtig zu sein schien, ob Großbritannien nun zur EU gehört oder nicht. Von den 18- bis 24-jährigen haben anscheinend nur 36 Prozent ihre Stimme abgegeben. Und auch die These, dass es primär Dummheit, Nationalismus oder gar Rassismus sei, die zu einer Skepsis gegenüber Brüssel führe, zeugt von Hochmut und mangelnder Fähigkeit zu differenzieren. Die Brexiteers sind keine homogene Masse, sondern ein recht heterogener Haufen. Ja, zum einen sind dies britische Nationalisten, aber es sind auch libertäre Ökonomen dabei und Bürger, denen die EU zu zentralistisch, zu bevormundend und zu wenig subsidiär ist.

Ob nun die wirtschaftlichen Konsequenzen für Großbritannien wirklich so dramatisch sein werden, wie manchmal skizziert, ist gar nicht klar. Interessanterweise gab der FTSE100, der Aktienindex der 100 wichtigsten britischen Unternehmen am Tag nach dem Referendum bis zum Börsenende nur um 3,15 Prozent nach. Der DAX hingegen verlor 6,8 Prozent, der französische Index CAC40 8 Prozent und die EuroStoxx 50, die 50 wichtigsten europäischen Aktien, sogar 8,6 Prozent. Mit der Interpretation sollte man vorsichtig sein, aber sicher suggerieren die Zahlen nicht, dass Großbritannien schwer getroffen wird, während es für den Rest der EU kaum etwas ausmacht. Natürlich herrscht nun große Unsicherheit, wie es genau weitergehen wird. Kurzfristig wird es negative Folgen für die britische und europäische Wirtschaft geben. Aber mittelfristig kann der Brexit auch eine Chance sein, sowohl für Großbritannien als auch für die EU.

Vieles wird, sowohl für Großbritannien als auch die EU, letztlich davon abhängen, wie sich die Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien ausgestalten werden. Dass es etwa zu einem Handelsembargo kommen wird, ist schwer vorstellbar. Der Freihandel und der Binnenmarkt werden sehr wahrscheinlich bestehen bleiben und damit auch ein Großteil der wirtschaftlichen Vorteile. Dass Großbritannien sich nun möglicherweise nicht an das Verbot von Glühbirnen, Plastiktüten und leistungsstarken Staubsaugern wird halten müssen, dürfte hingegen kaum wirtschaftlich spürbar sein. Auch die Schweiz und Norwegen darben trotz fehlender EU-Mitgliedschaft nicht im Elend, obgleich auch die Freizügigkeit etwa zwischen der Schweiz und den EU-Staaten im Vergleich zur Freizügigkeit innerhalb der EU drastisch eingeschränkt ist (zum Beispiel weil tendenziell nur EU-Bürger mit einem festen Arbeitsplatz oder einem anderweitig ausreichendem Einkommen ihren Wohnsitz in die Schweiz verlegen können). Der Thinktank Open Europe hat dementsprechend im März letzten Jahres prognostiziert, dass die Auswirkungen des Brexits positiv oder negativ sein können – je nachdem, welche Politik ergriffen wird. Denkbar wäre etwa auch, dass die Briten beim transatlantischen Freihandel voranpreschen, während große Teile der verbleibenden EU hier wesentlich zögerlicher sind. Der Austritt der Briten wird in der EU die protektionistischen und fortschrittsfeindlichen Kräfte weiter stärken.

Es mag provokant sein, aber: Die jungen Briten mögen mit ihrer impliziten Einschätzung durchaus recht gehabt haben, dass es letztlich zumindest ökonomisch nicht so einen großen Unterschied macht, ob Großbritannien nun in der EU ist oder nicht. Der Verweis, dass Großbritannien in den vergangenen 40 Jahren seit dem Zutritt zur EU einen starken wirtschaftlichen Aufschwung erlebt hat, stimmt natürlich. Allerdings gilt das auch für die Schweiz und Norwegen und sogar für Australien und Südkorea. Wie viel von diesem Aufschwung etwa auf eine EU-Mitgliedschaft im Vergleich zu einer hypothetischen Beschränkung auf die Mitgliedschaft in der europäischen Freihandelszone (EFTA) zurückzuführen ist, ist völlig unklar.

Europäische und auch deutsche Politiker, die jetzt fordern, die Briten ob ihres demokratischen Ungehorsams besonders deutlich zu bestrafen, werden vor allem auch der deutschen und europäischen Wirtschaft selbst schaden. Vergeltung ist eine ziemlich schlechte Antwort auf eine demokratische Entscheidung. Die EU ist keine Sekte, aus welcher man nicht wieder ohne Androhung von Vergeltungsmaßnahmen austreten darf.

Überhaupt reflektieren die Granden der EU erstaunlich wenig, welcher Reformbedarf denn wohl in Brüssel bestehen könnte. Es ist sicher eine menschlich verständliche Reaktion, die Schuld für das empfundene Desaster bei anderen zu suchen. Daher überrascht es auch nicht wirklich, dass besonders europäische Politiker vor allem über die Briten schimpfen, bei der Europäischen Union und ihren Institutionen jedoch offenbar kein Versagen erkennen können. Dabei ist das Vertrauen vieler Bürger in die Brüsseler Entscheidungsprozesse schon lange erschüttert. Das wiederholte Brechen von Recht (etwa der sogenannten Maastricht-Kriterien oder der Dublin-Verordnung zur Aufnahme von Flüchtlingen) und Versprechen („Kein weiteres Hilfe-Paket/Bail-out für Griechenland“) trägt nicht zur Vertrauensbildung bei. Die Haltung der Brüsseler Eliten, den (etwa dummen) Bürgern einmal zu erklären, was gut für sie ist, stößt auf Skepsis bei vielen. Viele Bürger empfinden etwa die Flüchtlinge nicht als „ein Geschenk wertvoller als Gold“, wie Martin Schulz es im Juni in seiner Heidelberger Hochschulrede ausgedrückt hat. Vielmehr sehen viele die mit der Flüchtlingskrise verbundenen Kosten und Risiken. Die mangelnde Handlungsfähigkeit und -willigkeit der EU führt hier sicher nicht zu einem positiven Bild von der EU. Und es nimmt den Menschen auch nicht die Ängste, sie im Gegenzug als unverbesserliche Rassisten zu beschimpfen. Auch Behauptungen wie die, dass es nie einen Bail-out Griechenlands geben werde oder dass die Energiewende die Bürger nicht mehr als eine Tasse Cappuccino kosten werden, führen zu einer fundamentalen Erosion des Vertrauens in die Politik. Mit Hochmut und Beschimpfungen der Wählerschaft wird man das verloren gegangene Vertrauen nicht zurückgewinnen.

Wie weit die Brüsseler Führung inzwischen von den Bürgern entfernt ist, zeigt die Reaktion Jean-Claude Junckers, der nun nicht innehalten und reflektieren möchte, sondern mit noch mehr Tempo mehr Staaten zur Übernahme des Euro drängen will. Das erinnert an Erich Honeckers Realitätsverlust im August 1989 als er glaubte, den Sozialismus in seinem Lauf hielten weder Ochs noch Esel auf.

Nicht nur die Briten sind nun gefordert. Auch die Europäische Union muss sich grundlegende Gedanken machen, wie es weitergehen soll. Weniger Harmonisierung und weniger Zentralismus sind nicht das Ende der Europäischen Union, vielmehr läge in einer Rückkehr zu einem echten Subsidiaritätsprinzip eine echte Chance, einen europäischen Staatenverbund doch zu einem Erfolg werden zu lassen. Der Brexit kann ein Weckruf zur richtigen Zeit sein, wir benötigen nun eine sachliche und gesellschaftliche Debatte über die Zukunft der EU. Panikmache, Hysterie und Durchhalteparolen sind dagegen fehl am Platz.

Erstmals veröffentlicht auf Merton Magazin.

Photo: Hermann Auinger from flickr (CC BY-NC-ND 2.0)

Der legendäre britische Premier Winston Churchill galt als Genussmensch. Er rauchte dicke Zigarren und war dem Whisky nicht abgeneigt. Auch sein Körpermaß entsprach nicht einem ausgewogenen Body-Maß-Index. Dennoch wurde er 90 Jahre alt. Seine Gesundheitsphilosophie soll er mit den Worten „no sports“ umschrieben haben. Heute ist mangelnde Bewegung von Kindern wahrscheinlich die Hauptursache für Übergewicht. Jetzt hat die neue britische Regierung dieser Entwicklung den Kampf angesagt. Dabei hat sie nicht die Stundenzahl des Sportunterrichts verdoppelt, sondern sie will ab 2018 eine Strafsteuer auf zuckerhaltige Getränke einführen. Wahrscheinlich wird es nicht lange dauern, bis auch in Deutschland ähnliche Initiativen ergriffen werden. Es wäre eine typische Reaktion einer Regierung. Es wird ein Problem erkannt und durch eine Lenkungssteuer, starke Regulierung oder sanftes Nudging bekämpft. So ist es schon bei Zigaretten, Alkohol und anderen Genussmitteln. Die Regierung spielt den Oberlehrer. Sehr häufig spielen dabei Sachargumente gar keine Rolle. Es geht nur um das Unterstreichen von Handlungsfähigkeit. Beim Zucker gibt die Faktenlage eine Diskriminierung ohnehin nicht her.

Zwar steigt der Zuckerverbrauch weltweit, dies hat jedoch eher mit dem wirtschaftlichen Aufholen der Entwicklungsländer und ihrem steigenden Konsum zu tun. So schätzt die OECD einen Pro-Kopf-Anstieg des Zuckerkonsums von 24,3 Kilogramm auf 26,7 Kilogramm im Jahr 2024. In der EU und in den USA geht der Pro-Kopf-Verbrauch an Zucker jedoch zurück. Wahrscheinlich ist die Kalorienaufnahme für steigendes Übergewicht verantwortlich. Das hat nicht zwingend etwas mit Zucker zu tun. Doch selbst die Kalorienaufnahme ist seit vielen Jahren konstant und daher liegt die steigende Fettleibigkeit von Kindern eher am Bewegungsmangel als an zu viel Zucker.

Doch wer ist dafür verantwortlich? Die Regierung, die Krankenkassen, die Süßwarenindustrie, die Zuckerrübenanbauer? Und welches objektive Gremium stellt die Verantwortlichen fest? Etwa eine Regierungsmehrheit im Parlament? Werden die Strafsteuern dann christdemokratisch, sozialdemokratisch, ökologisch oder liberal festgelegt?

Nein, Lenkungssteuern sind falsch, sie wollen den Bürger erziehen und sein individuelles Verhalten verändern. Das steht keiner Regierung, keinem Parlament und keiner politischen Mehrheit zu. Denn wo soll diese Bevormundung enden, etwa bei der wöchentlichen Zuteilung von Genussmitteln wie bei George Orwells „1984“? Gegen dieses moderne Jakobinertum sollten wir uns schon in den Anfängen wehren. Freiheit setzt Verantwortung voraus, auch beim Konsum. Es ist aber eine individuelle Verantwortung, sie kann nicht kollektiviert werden, sonst stirbt die Freiheit.