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Von Gottfried Heller, Vermögensverwalter und Autor des Buches „Der einfache Weg zum Wohlstand„.

Angela Merkel ist sauer. Mal wieder. Hat es doch der DGB gewagt, so kurz vor der Bundestagswahl auf die Krise der Rentenversicherung aufmerksam zu machen. Das befördere, klagte die Kanzlerin, ohne Not die Angst vor Altersarmut. Und  das nutze der AfD. Mit diesem Totschlagargument kann sie aber nicht jedes Problem unter den Teppich kehren. Vor allem dann nicht, wenn es so himmelschreiend ist wie bei der Altersvorsorge.

Die Kanzlerin hätte nur ihre Sozialministerin Andrea Nahles fragen müssen. Die hatte Ende September alarmierende Ergebnisse vorgestellt: Wenn alles bleibt wie es ist, wird das gesetzliche Rentenniveau von 47,8%bis 2030 auf 44% und bis 2045 auf 41,6% fallen. 2001 waren es noch 52,6% des Durchschnittslohns. Trotzdem von drohender Altersarmut keine Spur, meint Merkel. Was nicht sein darf, kann auch nicht sein.

Dabei sind die neuen Zahlen von der Tendenz her längst bekannt. 2012 hatte die damalige Sozialministerin von der Leyen vorgerechnet, 2030 müssten Arbeitnehmer, die weniger als 2500 Euro verdienen, „mit dem Tag des Renteneintritts den Gang zum Sozialamt“ antreten. Dabei fangen die Probleme ab 2030 erst richtig an, weil dann die geburtenstärksten Jahrgänge in Rente gehen.

Aber statt überfällige Reformen –auch schmerzhafte – durchzuführen, die von Schwarz-Rot mit 80% Stimmenmehrheit leicht umsetzbar gewesen wären, hat Kanzlerin Merkel die Chance leichtfertig vertan und das Thema „Rente“ in der Schublade versenkt. Mit ihrem üblichen Aussitzen hat sie wertvolle Zeit vergeudet, Zeit, die eine Reform der Alterssicherung nicht hat. Stattdessen verteilte die „GroKo“ mit abschlagfreier Rente mit 63 und Mütterrente neue Wohltaten, die bis 2030 zusätzlich 130 Milliarden Euro kosten.

Falls Frau Nahles in ihrem für November angekündigten neuen Rentenkonzept die Forderung ihres Parteichefs Sigmar Gabriel und des DGB erfüllt, das Rentenniveau auf dem jetzigen Stand einzufrieren, wird alles noch viel teurer – 2030 entstünden Mehrkosten von jährlich 19 Milliarden Euro und 2045 von sage und schreibe 40 Milliarden Euro. Finanziert werden müsste das mit einem Sprung des Beitragssatzes von 18,7% auf 26,4%. Nahles hat die Schleusen schon geöffnet und erklärt, die Beiträge blieben „nicht bei den 22% stehen“, die als Höchstgrenze bis 2030 festgeschrieben sind.

Wie man es dreht und wendet, die Regierung hat nur drei Stellschrauben: die Rentenhöhe, den Beitragssatz und das Renteneintrittsalter. Mal ist die Lösung zu teuer, mal menschlich nicht zumutbar oder ideologisch nicht akzeptabel. Die Rechenakrobaten im Sozialministerium mühen sich vergeblich: Der frühere SPD-Arbeitsminister Franz Müntefering hat es auf den Punkt gebracht: „Weniger Kinder, später in den Beruf, früher raus, länger leben, länger Rente beziehen: Wenn man das nebeneinander legt, muss man kein Mathematiker sein, da reicht Volksschule Sauerland, um zu wissen: Das kann nicht gehen!“ Recht hat er, der Sauerländer Müntefering. Er wollte bildhaft klarmachen, dass ein späterer Rentenbeginn und Abstriche bei der Rentenhöhe unvermeidbar sind. Nahles und Merkel hätten wohl Volksschule Sauerland nicht geschafft. Aber für die Bundesregierung hat es allemal gereicht.

Um wachsende Altersarmut zu vermeiden, muss schnellstens eine Stärkung der betrieblichen und privaten Altersvorsorge erfolgen. Das hat die Koalition zwar vor – aber mit den Mitteln, die schon in der Vergangenheit versagt haben, nämlich solchen, die auf Lebensversicherungen basieren. Die setzen  fast nur auf Zinsanlagen und verzichten weitgehend auf Aktien. Ausgerechnet  die langfristig ertragreichste Anlageform wird mit 4 % Anteil sträflich vernachlässigt.

Die heftig gescholtene Riester-Rente, die betrieblichen Pensionskassen und neue Lebensversicherungsverträge werfen deswegen lächerliche Renditen ab. Mit deutscher Gründlichkeit, mit Regulierungswut, teuren Garantieversprechen, Risikoscheu und Aktienfeindlichkeit ist das System der Altersvorsorge deshalb zur Zeitbombe geworden.

Schon in biblischen Zeiten gab es eine Regel, wie das Vermögen am besten aufzuteilen sei: Ein Drittel im Beutel, ein Drittel in Häusern, ein Drittel in Geschäften. Übersetzt heißt das: Ein Drittel in Festgeld und Festverzinslichen, ein Drittel in Immobilien und ein Drittel in Aktien. Die Deutschen dagegen sind in Geschäften – also Aktien mit 8 % Anteil am Gesamtvermögen – total unterinvestiert. Wollten sie bibeltreu anlegen, müssten sie den Aktienanteil vervierfachen. Das würde sich lohnen.

Aktien sind langfristig die mit Abstand ertragreichste Anlageform. Einschließlich wieder angelegten Dividenden betrugen die durchschnittlichen jährlichen Renditen in den 45 Jahren bis 2015 an den wichtigsten Börsen 10 bis 11 Prozent. Davon können die von Albträumen geplagten Zinssparer nur träumen.

Für die private und betriebliche Altersvorsorge ist deshalb ein viel höherer Aktienanteil unverzichtbar. Anstatt aber das Rad neu zu erfinden, würde ein Blick ins Ausland helfen, um bewährte Lösungen zu finden und zu übernehmen.

In der Schweiz können Einzahlungen in die „gebundene Vorsorge“ bis zu bestimmten Höchstbeträgen vom zu versteuernden Einkommen abgezogen werden, und die Kapitalzuwächse bei Aktien, Anleihen, Fonds, etc. sind in der Ansparphase steuerfrei. Der Maximalbetrag beläuft sich 2016 bei Personen ohne betriebliche Vorsorge auf 20% des Nettoeinkommens, maximal umgerechnet rund

31 000 Euro, bei Personen mit beruflicher Vorsorge – die in der Schweiz üblich ist – auf gut 6200 Euro. Nach der Auszahlung werden die Erträge  zu vergünstigten Sätzen besteuert.

In Frankreich gibt es den Aktiensparplan PEA (Plan d Épargne en Actions), in den Jeder bis zu 150 000 Euro in Aktien, Fonds und Zinsanlagen investieren kann. Voraussetzung: 75 % der Aktien sind von Unternehmen aus der EU. Die Erträge sind steuerfrei, ab fünf Jahren  Haltedauer auch die Kursgewinne. 2014hat die Regierung zusätzlich einen PEA für kleine und mittlere Unternehmen eingerichtet, in den weitere 75 000 Euro angespart werden können. Ein Ehepaar kann zusammen also bis zu 450 000 Euro in renditestarken Aktien und Fonds investieren. Im Vergleich dazu sind die Riester-Höchstbeträge ein Witz.

Die USA sind ein Musterbeispiel betrieblicher und privater Altersvorsorge. Da dort die Beitragssätze zur Rentenversicherung mit 12,4 % um 6,3 Prozentpunkte niedriger sind als in Deutschland – und seit über 30 Jahren unverändert – haben Arbeitnehmer netto mehr von ihren Löhnen übrig, und Unternehmen müssen weniger einzahlen. Dieses „eingesparte“ Geld fließt seit 1978 vielfach in die betriebliche Vorsorge, die mit dem 401(k) Plan eine rentable und flexible Lösung bietet. Viele Arbeitgeber beteiligen sich mit 50 bis 100% an den Beiträgen. Die Arbeitnehmer können bis zu 18 000 Dollar (2016) jährlich einzahlen, über 60-jährige zusätzlich 6000 Dollar. Die Beiträge fließen überwiegend in Aktien- und gemischte Fonds, bei denen die Anlagestrategie auf das erwartete Rentenalter abgestimmt wird. Sie sind für Arbeitnehmer steuerfrei, der Arbeitgeber kann seinen Anteil als Betriebsausgaben absetzen. Zusätzlich gibt es den Roth-IRA, mit dem aus versteuertem Einkommen Vorsorgevermögen bis zu jährlich 5500 Dollar gebildet werden kann. Kapitalwachstum, Dividenden und Zinsen sind nach fünf Jahren steuerfrei.

Die unkomplizierte, flexible und renditestarke Art der Altersvorsorge bewirkt, dass US-Bürger kurz vor Renteneintritt im Durchschnitt 360 000 Dollar auf ihren Vorsorge-Konten angespart haben.  Die Amerikaner besitzen laut dem Allianz Global Wealth Report über 202 000 Euro Durchschnittsvermögen, die Deutschen mit 68 000 Euro nur ein Drittel davon. Deutschland ist in der Industrie Weltklasse, bei Vermögensbildung und Altersvorsorge Provinzklasse. Das lässt sich leicht ändern.

Das Rad in der Altersvorsorge ist andernorts schon erfunden und läuft rund. Unsere überforderten Gesetzesgeber könnten es einfach kostenlos und zollfrei importieren.

 

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Am Montag wird vor dem Verwaltungsgericht Frankfurt die mündliche Verhandlung des Streitverfahrens zwischen dem Journalisten Norbert Häring und dem Hessischen Rundfunk verhandelt. Wir finanzieren diese Klage auch mit ihrer finanziellen Unterstützung. Dafür herzlichen Dank und lassen Sie darin bitte nicht nach!

Im Verfahren geht es um die Frage, ob der Hessische Rundfunk in seiner Satzung die Barzahlung des Rundfunkbeitrages ausschließen darf. Diese Frage ist aus unterschiedlichen Blickwinkeln von Bedeutung. Immerhin haben die Sendeanstalten von ARD und ZDF einen öffentlich-rechtlichen Status, der auf Landesrecht beruht. Der Euro basiert auf Bundes- und Europarecht. In Paragraph 14, Absatz 1, Satz 2 des Bundesbankgesetzes heißt es dazu: „Auf Euro lautende Banknoten sind das einzige unbeschränkte gesetzliche Zahlungsmittel.“ Die Banknote ist der Geldschein in unserem Portemonnaie. Eine Banknote ist nicht alles Geld, das im Umlauf ist, also zum Beispiel nicht das Geld, das auf unseren Konten als so genanntes Giralgeld liegt und das dann überwiesen oder per Lastschrift eingezogen werden kann.

Kann also eine auf Landesrecht beruhende Rundfunkanstalt von ihren Zwangszahlern verlangen, dass diese ihren Rundfunkbeitrag von monatlich 17,50 Euro unbar bezahlen müssen, obwohl das übergeordnete Bundesrecht etwas anderes vorsieht? Wir meinen, dass das nicht möglich ist. Bundesrecht schlägt Landesrecht.

Es ist aber auch noch aus einem anderen Grund von Bedeutung. Das Bargeld und sein Gebrauch werden immer stärker diskriminiert. Es ist ein allgemeiner Trend, der im Zuge der Finanzkrise in der Wissenschaft, den Notenbanken und Finanzministerien an Popularität gewinnt. Die Verschuldung nicht nur im Euro-Club nimmt enorm zu. Die Zinsvernichtungspolitik der EZB und anderer Notenbanken läßt die Höhe für die Schuldner erträglich erscheinen, enteignet aber die Sparer und belastet die Unternehmen. Die Reaktion der Geldhalter ist ein verstärktes Horten von Bargeld. Wenn es auf der Bank durch Negativzinsen immer weniger wert wird, ist es vielfach besser, es unter das Kopfkissen oder in den Tresor zu legen. Das Horten von Geld läuft der Strategie der Notenbanken entgegen, die Geldhalter durch Negativzinsen an der Überschuldung von Staaten und Banken zu beteiligen. Deshalb muss das Bargeld immer weiter diskriminiert und eingeschränkt werden. Bargeldhöchstgrenzen werden bald europaweit eingeführt, der 500-Euro-Schein läuft demnächst aus und staatliche Leistungen können immer öfter nur noch unbar entrichtet werden. Die Bargeldeinschränkung wird mit der Verbrechensbekämpfung begründet. Geldwäsche und die Bekämpfung der Schwarzarbeit dienen als Hilfsargument. Sie sind aber nur vorgeschoben, sagt selbst die Deutsche Bundesbank.

Vielleicht trägt eine mögliche positive Entscheidung des Verwaltungsgerichts in Frankfurt dazu bei, dass für eine grundlegende Reform des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Deutschland der Boden bereitet wird. Das ist dringend notwendig. Wir haben mit über 8 Milliarden Euro Beitragseinnahmen den teuersten öffentlichen Rundfunk der Welt. Über 80 Radio- und Fernsehprogramme werden damit finanziert. Immer weniger junge Menschen schauen ARD und ZDF. Mondgehälter für Moderatoren, Megapensionen für Intendanten und fehlende Kontrollmöglichkeiten durch die Beitragszahler führen inzwischen zu einer breiten gesellschaftlichen Ablehnungsfront gegen die Öffentlich-Rechtlichen. Allein in 2014 befanden sich über 4,5 Millionen Beitragszahler im Mahnstatus des so genannten Beitragsservice von ARD und ZDF und 900.000 Vollstreckungsersuchen bei Städten und Gemeinden wurden von ARD und ZDF veranlasst, um Beitragsforderungen einzutreiben. So viel Ablehnung gab es noch nie.

Eine innere Reform kann nicht von ARD und ZDF erwartet werden. Die Frösche legen ihren Teich nicht selbst trocken. Daher ist der kommende Montag von Bedeutung. Wenn das Verbot der Barzahlung in der Satzung des Hessischen Rundfunks gegen Bundesrecht verstößt, dann ist vielleicht auch die Satzung in Gänze nichtig und es käme etwas Gewaltiges ins Rollen…

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Deutschland ist auch ein bisschen Griechenland. Zumindest was die kollektive Verantwortungslosigkeit im deutschen Föderalismus angeht. So trägt jeder Bremer die Schuldenlast seines Landes in Höhe von 32.735 Euro. Das ist mehr als jeder Grieche für sein Land. Dort beträgt die Schuldenlast pro Einwohner 28.500 Euro. Jeder Vergleich hinkt, so auch dieser. Es ist sicherlich nicht vermessen, wenn man behauptet, dass in den aktuellen griechischen Zahlen nicht alle Verbindlichkeiten enthalten sind, aber dies gilt auch für Bremen. Die Schuldenlast des Bundes von 1.100 Milliarden Euro müsste in diesem Vergleich auch anteilig auf jeden Bremer verteilt werden.

Wie in Griechenland ist auch in Bremen die Schuldenlast erdrückend und nicht mehr durch reines Wirtschaftswachstum nennenswert zurückzuführen. Und wie in Griechenland durch die EU und die EU-Mitgliedsstaaten erhält Bremen regelmäßig Transferzahlungen vom Bund und von den übrigen Bundesländern. Vom Bund kamen 2015 563 Millionen Euro Sonderzuweisungen und im Rahmen des Länderfinanzausgleichs über 600 Millionen Euro von den Ländern. Mit letzterem ist jetzt bald Schluss. Der Länderfinanzausgleich wird abgeschafft. Darauf haben sich der Bund und die Länder geeinigt. Das ist gut und richtig so. Er war schon immer leistungsfeindlich, weil nur wenige Geberländer eine große Mehrheit von Nehmerländern gegenüberstanden. Aktuell zahlen nur noch Hamburg, Hessen, Baden-Württemberg und Bayern ein. In 2015 waren es 9,5 Milliarden Euro. Das hört sich viel an, am gesamten Steueraufkommen von 620 Milliarden Euro sind es aber lediglich 1,5 Prozent.

Daher ist die Einigung nur ein Reförmchen. Eigentlich müsste eine viel grundlegendere Veränderung des Föderalismus stattfinden. Der deutsche Föderalismus schafft falsche Anreize. Er bestraft gute Politik und belohnt schlechte. Kommen Bremen oder auch das Saarland mit ihren Ausgaben nicht zurecht und steigt daher die Verschuldung immer weiter an, dann hilft der Bund in unregelmäßigen Abständen mit Sonderzahlungen – jetzt wieder. Damit die beiden Länder der Neuordnung des Finanzausgleichs ab 2020 zustimmen, erhalten sie erneut Sanierungshilfen von 800 Millionen Euro.

Geändert hat sich in den letzten Jahrzehnten an der grundsätzlichen Finanzsituation der beiden Schuldenländer dennoch nichts. Dabei ist die Größe der Bundesländer nicht das Problem. Das sieht man schon daran, dass das kleine Hamburg in den Länderfinanzausgleich bislang eingezahlt und das große Nordrhein-Westfalen Leistungen daraus bezogen hat.

Das Problem ist, wie in Griechenland auch, das Auseinanderfallen von Risiko und Haftung. Werden falsche Strukturentscheidungen der Länder getroffen, zu viele Beamte eingestellt oder zu viele Prestigeprojekte errichtet, haften nicht das Land Bremen und seine Bürger dafür, sondern alle Bürger in Deutschland. Es gibt in Deutschland keine Insolvenz von Kommunen und Ländern. Im Zweifel muss der Bund einspringen.

Das muss nicht so sein. Ein funktionierender Wettbewerbsföderalismus lässt die Verantwortung für die Entscheidungen auf der jeweiligen politischen Ebene. Leben eine Kommune oder ein Land über ihre Verhältnisse, dann müssen sie sich selbst um eine Konsolidierung bemühen. Gelingt dies nicht, dann muss mit den Gläubigern über eine Lösung verhandelt werden. Das ist nicht ungewöhnlich. Kann der Bundesstaat Kalifornien seine Beamten nicht mehr bezahlen, dann schickt er sie in den Zwangsurlaub. Die Zentralregierung in Washington käme nicht auf die Idee einzuspringen.

Und auch in unserem Nachbarland Schweiz kennt man nicht die Kollektivhaftung für das Versagen auf kommunaler oder kantonaler Ebene. Als 1998 die Gemeinde Leukerbad im Kanton Wallis zahlungsunfähig wurde, wollten sich die Gläubiger anschließend beim Kanton und bei der Zentralregierung schadlos halten. Diese verweigerten die Zahlung. Am Ende verzichteten die Gläubiger auf 78 Prozent ihrer Forderungen. Seitdem differieren die Finanzierungskonditionen zwischen Gemeinden, Kantonen und dem Bund in der Schweiz je nach Solidität. Dieser Wettbewerbsföderalismus funktioniert in der Schweiz auch deshalb, weil die jeweilige Ebene nicht nur über die Ausgaben in einem viel größeren Ausmaß als hierzulande bestimmen kann, sondern auch über die Einnahmen. Kantone und Gemeinden haben eine umfangreiche Steuerautonomie, die 80 Prozent des Steueraufkommens bei ihnen belässt. In Deutschland sind es nur rund 50 Prozent und das eigene Steuererhebungsrecht ist, von einigen Bagatellsteuern abgesehen, nicht vorhanden. Mehr Wettbewerbsföderalismus wäre daher auch für Deutschland gut.

Erstmals erschienen am 22. Oktober 2016 in der Fuldaer Zeitung.

Photo: Berit Watkin from Flickr (CC BY 2.0)

Von  Prof. Dr. Stefan Kooths, Leiter des Prognosezentrums im Institut für Weltwirtschaft an der Universität Kiel und Professor für Volkswirtschaftslehre an der Business and Information Technology School (BiTS) in Berlin.

Nach dem Brexit-Votum und der harten Haltung von Theresa May auf dem Tory-Parteitag sinnt mancher in Brüssel darauf, an den Briten ein abschreckendes Exempel zu statuieren. Nichts wäre falscher. Nötig ist ein maximal kooperativer Geist, der den Briten Brücken für eine spätere Rückkehr baut.

Der politische Handlungsdruck ist hoch. Ohne rasche Klarheit über die künftigen Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU drohen wirtschaftliche Vorteile auf beiden Seiten einem politisch bedingten Attentismus zum Opfer zu fallen. Die Neuordnung des Verhältnisses ist ein komplexes und in den Details zeitraubendes Unterfangen. Umso wichtiger ist eine rasche Entscheidung in den Grundsatzfragen.

Es wäre viel gewonnen, wenn diese Entscheidung zugunsten einer maximal kooperativen Haltung der EU gegenüber dem Vereinigten Königreich ausfiele. Ein solches Signal würde noch weit vor dem Abschluss der Verhandlungen bereits einen Großteil der Unsicherheit aus der Welt schaffen. Nicht nur die Sorgen um konjunkturelle Effekte sprechen für eine solche Strategie. Diese käme auch der EU-Stabilität zugute, die sich langfristig nur aus ihren genuinen Club-Vorteilen speisen kann, nicht aber aus den Drohgebärden einer Großmachtpolitik. Nicht zuletzt sollten auch deshalb möglichst viele ökonomische Brücken über den Kanal erhalten bleiben, damit auf ihnen die nächste Generation der Briten vielleicht den Weg zurück in die EU finden kann.

EU-Stabilität durch Subsidiarität, nicht durch Abschreckung

Am Vereinigten Königreich wegen des EU-Austritts ein abschreckendes Exempel zu statuieren wäre ein Armutszeugnis für die Europäische Union. Ein Club ist attraktiv, wenn er den Mitgliedern Möglichkeiten eröffnet, die ihrer Natur nach nur gemeinschaftlich erreichbar sind, nicht aber dadurch, dass bei einem Austritt harte Sanktionen drohen. Je konsequenter sich die EU auf echte unionsweite Kollektivgüter konzentriert, desto klarer treten die Vorteile einer Mitgliedschaft hervor. Dem dient unmittelbar das Subsidiaritätsprinzip als Grundpfeiler der EU-Architektur (Artikel 5 Absatz 3 EU-Vertrag). Es stabilisiert die Gemeinschaft, weil so dem andernfalls zutreffenden Eindruck vorgebeugt wird, in Brüssel würden Dinge entschieden, die sich ebenso gut oder besser auf nationaler Ebene behandeln ließen. Es ist daher an der Zeit, nicht länger diejenigen, die auf die Beachtung des Subsidiaritätsprinzips dringen, als „europafeindlich“ zu schmähen. Dieses Prinzip ist keine Bremse der „EU-Skeptiker“, sondern ein seit langem bewährtes Verfahren zur Stabilisierung vertikal strukturierter Gemeinwesen.

Schiefe Bilder, schiefes Denken: Merkantilismus ist ein schlechter Ratgeber

Die Absicht der britischen Regierung, die Arbeitnehmerfreizügigkeit für EU-Bürger zu beschränken, ohne den Zugang zum Binnenmarkt für Güter und Kapital aufzugeben, wird gemeinhin als „Rosinenpickerei“ kritisiert. Dieses Bild ist populär, aber schief. Kommunikativ erweist es dem Integrationsgedanken einen Bärendienst: Wer freien Güter- und Kapitalverkehr als „Rosinen“ und die Arbeitnehmerfreizügigkeit als die dafür zu schluckende Kröte verkauft, darf sich nicht wundern, wenn sich Ressentiments gegenüber Wirtschaftsmigranten verstärken. Ökonomisch besteht ohnehin kein zwingender Nexus zwischen freiem Arbeitsmarktzugang und dem übrigen Binnenmarkt.

Auch die Vorstellung, Freihandel sei eine Rosine, lässt tief blicken in eine Haltung, die immer noch von merkantilistischen Irrtümern durchsetzt ist. Freihandel ist kein Zugeständnis, sondern liegt im allseitigen Gemeinwohlinteresse. Daran ändert sich auch nichts, nur weil die EU als Handelspartner für Großbritannien relativ bedeutsamer ist als umgekehrt. Ebenso wenig taugt indes das Argument, die EU-27 solle wegen des Exportüberschusses gegenüber dem Vereinigten Königreich schonend mit den Briten umgehen. Auch darin äußert sich merkantilistisches Denken, das ebenso zwangsläufig wie überflüssigerweise zwischenstaatliche Konflikte schürt. An Exportüberschüssen lässt sich die Vorteilhaftigkeit des Handels nicht messen, weil Handelsströme in beiden Richtungen für alle Beteiligten nützlich sind. Freier Kapitalverkehr ermöglicht zudem, dass sie auch zeitlich auseinanderfallen können, was einen weiteren Vorteil – wiederum für alle Beteiligten – bewirkt.

Über die Innensicht des Binnenmarktes hinausdenken

So wichtig der Abbau von Handelshemmnissen innerhalb des EU-Binnenmarktes auch ist, die Vorteile des freien Güteraustauschs hören nicht an der EU-Außengrenze auf. Die Binnensicht sollte nicht blind machen für das, was die übrige Welt zu bieten hat. Leider ist es mit dieser emanzipierten Weltoffenheit in der EU nicht allzu weit her. Während Freihandel im Binnenverhältnis mittlerweile weitgehend unstrittig ist, gilt Freihandel mit der übrigen Welt vielen immer noch als suspekt. Das öffnet protektionistischen Partikularinteressen Tür und Tor.

Sichtbar wird dies in der EU-Agrarpolitik und den Akzeptanzproblemen bei neuen Freihandelsabkommen. Auch würde sonst nicht nur zu Recht die Industriepolitik einzelner Mitgliedsländer zugunsten „nationaler Champions“ unterbunden, sondern auch „europäischen Champions“ nicht das Wort geredet. Wettbewerbsdruck durch Marktöffnung statt Flankenschutz durch Industriepolitik wäre die generell richtige Devise – auch auf EU-Ebene. Insgesamt steht man sich somit in den Außenbeziehungen allzu oft mit merkantilistischem Denken selbst im Weg, und genau das droht den Beteiligten jetzt im Brexit-Prozess auf die Füße zu fallen.

Freien Marktzugang als Privileg zu betrachten, um es in dominanter Weise als Druckmittel auszuspielen, wäre primitives Großmachtgehabe und schadete allen. Freier Zugang zum Binnenmarkt für Güter und Kapital bedingt natürlich auch im Sinne von Nicht-Diskriminierung die Akzeptanz der Regeln, die dort für alle Akteure unabhängig von ihrer Nationalität gelten. Über diese Regeln mitentscheiden zu können ist ein genuiner Club-Vorteil, den die EU-Mitgliedschaft bietet. Allein deshalb nimmt Großbritannien mit dem Austritt bereits einen hohen Preis in Kauf, der sich von selbst einstellt. Mit jedem Anschein von zusätzlichen Sanktionen würde sich die EU selbst klein machen, indem sie den Wert ihrer Club-Güter ohne Not geringschätzt.

Gemeinsame Handelspolitik stärken, nicht schwächen

Der kurz nach dem Brexit-Votum erfolgte Schwenk der EU-Kommission, den Ceta-Freihandelsvertrag mit Kanada als gemischtes Abkommen einzustufen, schmälert den Wert der Club-Mitgliedschaft zusätzlich. Da nun eine Beteiligung sämtlicher nationaler und sogar einiger regionaler Parlamente erforderlich wird, dürften nicht nur die Erfolgsaussichten für Ceta merklich sinken, sondern die EU fortan auch als Verhandlungspartner für andere Weltregionen unattraktiver sein. Damit verliert sie in einer wohlbegründeten Gemeinschaftskompetenz an Gewicht, das andernfalls für die internationale Marktöffnung hätte eingesetzt werden können. Die wohl zur Besänftigung EU-kritischer Strömungen gedachte Ceta-Entscheidung verwässert ebenfalls das Subsidiaritätsprinzip, nun aber in umgekehrter Richtung, weil sie die gemeinsame Außenhandelspolitik als Kernaufgabe einer Wirtschaftsunion durchlöchert und so allgemeine Handelsregeln wieder dem Einfluss national-protektionistischer Interessen aussetzt.

Freihandel: Grenzüberwinder mit eingebauter Kooperationsprämie

Wer die EU für schwach hält, solange sie „nur“ den wirtschaftlichen Austausch fördert, verkennt die überragende Rolle, die wirtschaftliche Beziehungen für die friedliche Entwicklung spielen. Es war kein Zufall, die innere Befriedung des freien, westlichen Teils des europäischen Kontinents nach 1945 über die wirtschaftliche Schiene zu suchen (in den Vorläufern der EU wie auch in der Efta). Die Gründe, die dafür damals richtig waren, sind es auch heute noch. Durch ökonomische Interaktion – also Tauschprozesse in allen Varianten – erfahren Menschen in ihrem jeweiligen Kontraktpartner einen Förderer des eigenen Wohlergehens. Tausch ist immer freiwillig, weil er nur zustande kommt, wenn beide Seiten einen Vorteil darin sehen. Kaum eine andere menschliche Interaktionsform hat die Belohnungsprämie für kooperatives Verhalten so sichtbar eingebaut wie die Tauschhandlung; nicht umsonst spricht man von Tauschpartnern und nicht von Tauschgegnern. Aus demselben Grund bedanken sich nach einem Geschäftsabschluss stets beide Parteien gegenseitig.

Damit liefert der Freihandel eine zutiefst befriedende Basis für das Zusammenleben der Menschen über Ländergrenzen hinweg. Letztlich entstehen so friedliche Gesellschaften als Netzwerke massenhafter individueller Beziehungen. Gesellschaftlicher Zusammenhalt lässt sich nicht verordnen, sondern kann sich nur evolutionär einstellen. Freier wirtschaftlicher Austausch ist die beste Grundlage dafür, weil die gemeinsamen Vorteile die Menschen zueinander führen und auf Dauer verbinden. Auf der Basis der sich dann herausbildenden Konsense können – als Abkürzung zur weiteren Verringerung von Transaktionskosten – formale Institutionen entstehen. Diese Institutionen müssen aber dem Konsens folgen, nicht umgekehrt.

Konfliktreiche Nachwirkungen des Protektionismus

Wird freier wirtschaftlicher Austausch indes für längere Zeit blockiert, so richten sich die Preis- und Produktionsstrukturen an diesen Gegebenheiten aus. Hierzu zählen nicht zuletzt die Arbeitsmärkte und Lohnstrukturen. Trotz des Wohlfahrtsverlusts im Allgemeinen gedeihen im Schatten von Zoll- und Migrationsbarrieren auch Renten von Protektionismusgewinnern. Für diese wirkt ein schlagartiger Übergang zu freien Formen des Wirtschaftens disruptiv, weil ihre protegierten Markt- und Einkommenspositionen nahezu über Nacht erodieren. Diese Form von Ad-hoc-Liberalisierung kann daher neben neuen grenzüberschreitenden Kooperationsformen auf Jahre hinaus auch massive innerstaatliche Konflikte schüren. Ursächlich dafür ist indes nicht der freie Markt, sondern es sind die vorausgegangenen Hemmnisse.

Wie eine Staumauer haben sie den ansonsten graduell ablaufenden Anpassungsprozess über lange Zeit aufgehalten. Wenn diese Mauer nun bricht, bleibt für die Betroffenen typischerweise zu wenig Zeit, um sich an die neuen Bedingungen anzupassen. Massive Verteilungskämpfe zwischen Gewinnern und Verlierern bleiben dann nicht aus – sie sind so etwas wie das letzte soziale Gift, das der Protektionismus aus seiner modernden Gruft noch eine Zeitlang verströmt. Beim Übergang zu einem freien gemeinsamen Markt kann daher auch die Geschwindigkeit eine Rolle für die breite Akzeptanz in der Bevölkerung spielen.

Multiple Geschwindigkeiten als Chance für den Integrationsprozess

Mit der EU haben sich die Mitgliedsländer eine Instanz geschaffen, mit der sie ihre gemeinsamen wohlverstandenen Gemeinschaftsinteressen wahren können. In den vier Grundfreiheiten des Binnenmarktes kommen wichtige Gemeinwohlinteressen zum Ausdruck. Dies gilt auch für die Personenfreizügigkeit. Es ist für jeden Bürger eines Mitgliedslandes abstrakt vorteilhaft, die ökonomische Wirkungsstätte innerhalb der EU frei wählen zu können – und nur solche abstrakten Vorteile können überhaupt ein Gemeinwohlinteresse begründen. Die konkrete Ausübung dieser Wahlfreiheit ändert zwangsläufig Knappheitsrelationen, andernfalls lägen gar keine Vorteile durch größere Wahlmöglichkeiten vor. Dies bedeutet aber zugleich, dass es trotz des anonymen Nettovorteils zu Gewinnern und Verlierern kommen kann. Trägt der Grundkonsens in einem Mitgliedsland nicht so weit, dass diese Effekte akzeptiert oder durch Kompensationszahlungen gemildert werden, so entstehen die erwähnten post-protektionistischen Spannungen im politischen Raum.

Im Falle Großbritanniens haben daher wohl vor allem jene für den EU-Austritt gestimmt, die sich – zutreffend oder nicht – als Verlierer der Arbeitnehmerfreizügigkeit betrachten, sei es durch höhere Wohnungspreise oder niedrigere Löhne. Dieses Votum spricht dagegen, die freie Arbeitsmigration auf Biegen und Brechen herbeiverhandeln zu wollen – es würde nur dazu führen, hinter sonst mögliche Kooperationsergebnisse zurückzufallen. Wenn man hingegen konstruktiv alles miteinander vereinbart, was diesseits und jenseits des Kanals konsensfähig ist, wird eine Menge dabei herauskommen. Folgt man behelfsmäßig dem Prinzip der Reziprozität, dann werden sich mit der Zeit auch im Vereinigten Königreich diejenigen durchsetzen, die den Wiedereinstieg in die Arbeitnehmerfreizügigkeit anstreben. Denn diese liegt im wohlverstandenen Gemeinwohlinteresse auch der britischen Bürger. Wenn dies eine Mehrheit der Wähler in einem Mitgliedsland vorübergehend anders sieht, dann braucht dieser Teil des Integrationsprozesses offensichtlich mehr Zeit.

Das wäre nicht der Untergang der EU, auch nicht, wenn einige Mitgliedsländer als Reaktion auf ein maximal kooperatives Brexit-Abkommen ihrerseits die Arbeitnehmerfreizügigkeit beschränken würden. Politisch wird manches gemacht, was Ökonomen für falsch halten. Dagegen hilft nur Einsicht durch überzeugende Argumente, aber kein Druck und schon gar kein Alles-oder-nichts-Ultimatum. Multiple Geschwindigkeiten sind ein probates Mittel, um Integrationsprozesse in Gang zu bringen. Die Langsameren können von den Schnelleren allmählich lernen, wie sich abstrakte Gemeinwohlinteressen konkret in eine bessere ökonomische Entwicklung übersetzen. Solche Einsichten entstehen nicht über Nacht. Aber sobald sie sich einstellen, wird der Integrationsdrang unwiderstehlich. Und genau das macht einen erfolgreichen Club aus: Unwiderstehlichkeit durch Einsicht in den gegenseitigen Vorteil.

Geringfügig geänderte Fassung eines Gastkommentars, der in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) vom 19. September 2016 in der Rubrik „Der Volkswirt“ erschienen ist, online erstmals erschienen beim Kieler Institut für Weltwirtschaft.

Photo: Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0 DE)

Mario Draghis Zinsvernichtungspolitik verhindert derzeit die Insolvenz von Staaten und Banken in Europa. Um diesen Zustand zu konservieren, muss der Italiener immer stärker in das Preissystem der Marktwirtschaft eingreifen. Der Ökonom Ludwig von Mises bezeichnete diese Entwicklung als Interventionsspirale. Je größer der Eingriff ist, desto umfangreicher sind die Kollateralschäden, auf die dann mit neuen, noch größeren Interventionen reagiert wird. Einer dieser Kollateralschäden ist die Enteignung der Sparer, die in Anleihen und Lebensversicherungen investieren. Sie werden kalt enteignet. Ein weiterer ist die Entstehung von Blasen an den Immobilien- und Aktienmärkten, die Mondpreise erzeugen, die bei Lichte betrachtet, nur heiße Luft sind.

Der wachsende Protektionismus ist ein weiterer Kollateralschaden. Wenn Notenbanken den Wert ihrer Währung manipulieren, um für „ihre“ Exportindustrie Wettbewerbsvorteile zu erzielen, ist das letztlich nichts anderes als eine Subvention. Manipulieren Sie den Kapitalmarktzins, dann erleichtern sie die Finanzierungsfähigkeit „ihrer“ Unternehmen. Übernahmen von Wettbewerbern oder Zukäufe sind so leichter möglich.

Die Gegenreaktionen der betroffenen Staaten sind meist Handelsbeschränkungen bis hin zu Investitionsbeschränkungen ausländischer Unternehmen. Auch bei uns droht dies nun. Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel bereitet gerade ein Gesetz zur Investitionsprüfung vor, das Übernahmen ausländischer Investoren an deutschen Unternehmen unter Zustimmungsvorbehalt der Regierung stellt. Es wäre einer der größten Eingriffe ins Eigentum und in die Vertragsfreiheit seit langem. Er wird mit der Gegenseitigkeit begründet. Andere Länder machten das schließlich auch. Das stimmt zwar, hilft den Eigentümern hierzulande aber wenig. Sie werden in ihrem Handeln beschränkt.

Gabriel trifft mit seinem Vorschlag eine Grundstimmung, die sich in den Vorstandsetagen der DAX-Konzerne ebenfalls etabliert. Sie fürchten um ihre eigenen Jobs, daher wollen sie das alte Modell der „Deutschland AG“ aus dem letzten Jahrhundert wiederbeleben. Unliebsame Übernahmen aus dem Ausland sollen verhindern werden, indem die großen Unternehmen Überkreuzbeteiligungen eingehen und sich damit gegenseitig gehören. Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) ist vorne mit dabei und koordiniert bereits das Vorgehen.

Aufgeschreckt wurden sie durch die Übernahmen des Roboterherstellers Kuka und jüngst auch durch den Verkauf des Aachener Spezialmaschinenbauers Aixtron an chinesische Investoren. Vom Ausverkauf von deutschem Know-How ist dabei die Rede, als ob dieses Know-how der Bundesregierung, den DAX-Konzernen oder allen Deutschen gehören würde.

Wären beide Unternehmen derart wichtig für die deutsche Industrie oder einzelne Unternehmen in Deutschland, hätten sich wohl auch andere Investoren gemeldet. Beides ist aber nicht geschehen oder die Angebote waren zu schlecht. Es gibt keine zwingende Logik für diese Entwicklung. Daher gilt: wehret den Anfängen, insbesondere dann, wenn plötzlich Argumente angeführt werden, die dem Investitionsstandort Deutschland und seinen Menschen schaden.

Natürlich wollen Investoren das Know-How des zu übernehmenden Unternehmens nutzen. Es ist ein wesentlicher Grund, wieso Übernahmen überhaupt stattfinden. Der deutsche Chemieriese Bayer wird den amerikanischen Agrarkonzern Monsanto nicht nur deshalb übernehmen wollen, weil deren Hauptsitz St. Louis im US-Bundesstaat Missouri so eine schöne Stadt ist und sich daher für eine Dienstreise des Bayer-Vorstandes besonders gut eignet. Der Bayer-Konzern will selbstverständlich auch das Wissen Monsantos nutzen und dadurch Wettbewerbsvorteile generieren. Daran ist nichts Verwerfliches. Problematisch ist jedoch, wenn der deutsche Wirtschaftsminister die Investitionsfreiheit und das Eigentum beschränkt und die führende Industrievertreter sich zum gegenseitigen Kartell verabreden. Ludwig Erhard würde sich in beiden Fällen im Grabe umdrehen. Beides hat Erhard Zeit seines Lebens bekämpft.

Die Entwicklung führt weg von der Marktwirtschaft und führt zu einer immer stärkeren „Verkumpelung“ von Regierung, Großindustrie und Banken. Es fördert eine Kungelwirtschaft, die nicht auf Befehl der Konsumenten wirtschaftet, sondern auf Befehl der Bürokraten. Wer weit weg ist von den Mächtigen, bleibt auf der Strecke oder schließt sich zu größeren Einheiten zusammen, um ebenfalls den Mächtigen nahe zu sein. Abschottung und Diskriminierung von ausländischen Investoren ist daher höchst problematisch.

Man muss dabei nicht nur die hohe Exportorientierung der deutschen Volkswirtschaft anführen, sondern kann generell die Freihandelsidee ins Feld führen. Nichts hat dem Wohlstand in Deutschland, in Europa und in der Welt so sehr gedient wie der Freihandel. Dafür im eigenen Land, in Europa und in der Welt zu kämpfen, wäre der eigentliche Auftrag eines wahren Nachfolgers Ludwig Erhards.

Erstmals erschienen auf Tichys Einblick am 20. Oktober 2016.