Photo: galio from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Wer meint, der Sozialismus sei mit dem Tod von Fidel Castro endgültig untergegangen, dem muss man vehement widersprechen. Der Sozialismus lebt. Er lebt in einer neuen Spielart. Er blüht und gedeiht und verdrängt den Kapitalismus und seine Wirtschaftsordnung, die Marktwirtschaft, zunehmend. Nicht durch einen tiefen Einschnitt, wie es der Fall der Mauer für den DDR-Sozialismus war. Nein, der Sozialismus kommt auf Samtpfoten daher, schleichend und aus vielen unterschiedlichen Ecken. Die Saat, die Castro, Che Guevara und andere „Revolutionäre“ in den 1960er und 1970er Jahre in die Köpfe Millionen junger Menschen der westlichen Welt eingepflanzt haben, ist längst aufgegangen.

Vielleicht hat die neue Variante des Sozialismus sogar eine gesellschaftliche Akzeptanz. Heute traut die Mehrheit dem Einzelnen nicht zu oder will ihm nicht zugestehen, selbst über sein Schicksal oder sein Lebensglück zu bestimmen. Es gilt als modern, wenn der Staat nicht nur den Menschen in Existenznot hilft, sondern auch denjenigen, die sich bislang selbst geholfen haben. „Vätermonate“ oder „verpflichtende Kindergartenjahre“ zeigen das. Der Staat übernimmt einen Erziehungsauftrag, den bis dahin die Eltern gegenüber ihren Kindern wahrgenommen haben. Der Staat wird so zum Übervater mit Mutti als Kanzlerin.

Es ist eine Art Scheinmoderne, die uns hier vorgespielt wird. Nicht mehr die kleinste Einheit in der Gesellschaft, der Einzelne oder die Familie, werden vor den Übergriffen der Mehrheit geschützt, sondern unter dem Duktus einer Demokratisierung in allen Lebensbereichen werden die Rechte des Einzelnen immer mehr zurückgedrängt und einer politischen Mehrheitsentscheidung unterworfen.

Diese Entwicklung umfasst nicht nur den engsten Bereich der Familie, sondern hat längst auch die Wirtschaft erreicht. Auch hier wird der einzelne Unternehmer durch politische Mehrheiten im Parlament zum vermeintlichen Glück gezwungen. Auch hier findet letztlich ein Eingriff in die Privatautonomie und das Eigentum statt. Beide werden waidwund geschossen. Wenn Sigmar Gabriel die Übernahme eines heimischen Technologieunternehmens an einen chinesischen Investor verhindern kann und dabei ist, ein Gesetz zur Investitionsprüfung vorzubereiten, das Übernahmen ausländischer Investoren an deutschen Unternehmen unter Zustimmungsvorbehalt der Regierung stellt, ja dann verkommt das Eigentum nur noch zu einer leeren Hülle. Auch auf Kuba gibt es formal noch privates Eigentum.

Gabriels Agieren ist Teil einer Entwicklung, die die Wirtschaft, ihre Verbände und die Gewerkschaften längst erreicht hat. Eine „Verkumpelung“ der Akteure ist die Folge. Zwar sind nur noch etwa zwanzig Prozent der Arbeitnehmer Gewerkschaftsmitglieder, dennoch wird die Kungelei der Gewerkschaftsfunktionäre mit den Arbeitgeberverbänden zum Maßstab für alle Arbeitnehmer gemacht. Unternehmer werden mit dem goldenen Zügel in die Tarifbindung gezwungen, um die Existenz der Gewerkschaften trotz schwindender Akzeptanz zu sichern.

Wer sich brav dem Tarifvertrag unterwirft, wird durch Regelungen in der Zeitarbeit, bei der betrieblichen Altersvorsorge oder beim Lohngleichheitsgesetz großzügig belohnt. Den Mindestlohn handeln längst nicht mehr einzelne Unternehmer und Arbeitnehmer aus, sondern die BDA und Gewerkschaften schlagen ihn der Regierung vor. Mehr Korporatismus geht nicht.

Diese „Verkumpelung“ der großen Unternehmen mit den Gewerkschaften und der Regierung ist Kennzeichen dieser „neuen“ Wirtschaftspolitik. Sie passt zur großen Koalition, die Scheingefechte in der Öffentlichkeit führt, in Wirklichkeit sich aber in allen großen Fragen einig ist. Der schleichende Verfassungsbruch ist nicht ohne. Die „negative Koalitionsfreiheit“ ist von unserem Grundgesetz ebenso geschützt wie das Recht, sich als Arbeitgeber oder Arbeitnehmer aktiv zusammenzuschließen. Sich nicht in das Tarifkartell zu begeben, darf daher nicht diskriminiert werden. Mit Marktwirtschaft hat diese Kungelwirtschaft nur noch am Rande zu tun. Im 19. Jahrhundert nannte man diese Wirtschaftsform „Kathedersozialismus“. Sie war der Wegbereiter der verheerenden Sozialismen des 20. Jahrhunderts.

Die Ablehnung dieses Dirigismus und Korporatismus liegt auch dem Konzept der Sozialen Marktwirtschaft zugrunde. Der erste Wirtschaftsminister Ludwig Erhard sah in jeder korporativen Lenkung der Wirtschaft eine Einschränkung der Grundfreiheiten und eine Aushöhlung des Rechts auf freie Entfaltung. Er lehnte also diese Eingriffe prinzipiell ab. Sein Credo war: „Es gibt nur eine gerechte Verteilung und das ist die, die durch die Funktion des Marktes erreicht wird. Der Markt ist der einzig gerechte demokratische Richter, den es überhaupt in der modernen Wirtschaft gibt.“

Erstmals erschienen in Tichys Einblick.

Photo: DIE LINKE. Landesverband Baden-Württemberg from flickr.com (CC BY-ND 2.0)

Seit einiger Zeit treffen Wähler unerwartete, unkonventionelle und für manch einen unbequeme Entscheidungen. Politiker und Journalisten analysieren eine Vertrauenskrise des Establishments. Ist eine Ursache dieser Vertrauenskrise womöglich das mangelnde Vertrauen der Politiker in ihre Bürger?

Leben wir in einer Diktatur?

Die Politik ist in Verschiss – selbst bei den Bürgern, die nicht sofort mit Vorwürfen wie Lüge oder Betrug operieren. Die Einschätzung, dass sich der Abstand zwischen Politikern und Normalbürgern immer mehr vergrößert, wird inzwischen von vielen dieser Politiker selbst geteilt und kommuniziert (in der Regel mit der Floskel, man müsse Politik nun besser erklären). Das aufkommende Misstrauen hat allerdings auch relativ wenig mit der gesunden Politik- und Staatsskepsis zu tun, die aufgeklärten Bürgern gut zu Gesichte steht. Es ist oft an der Grenze zum pauschalen Hass auf „die da oben“. Der zivilisierte Diskurs, der eine freiheitliche Demokratie und eine Offene Gesellschaft ausmacht, gerät dadurch zunehmend in die Defensive. Doch liegt das an der Verrohung der Bevölkerung? Oder spielt vielleicht die Politik eine wesentlich größere Rolle als die Rede vom „Wutbürger“ vermuten ließe?

In der Staatsform der Demokratie, wo der Bürger der Souverän ist, ist es von zentraler Bedeutung, dass Politiker den Bürgern – ihren Wählern! – vertrauen. Schwindet dieses Vertrauen, besteht nicht nur die Gefahr, dass die Bürger ihrerseits das Vertrauen entziehen. Es wird letztlich auch an den Grundfesten unseres Gemeinwesens gerüttelt – ist es doch Kennzeichen despotischer und autoritärer Herrschaft, dass ein Herrscher den Untertanen misstraut. Natürlich ist keine der westlichen Demokratien eine Tyrannei oder Diktatur. Mit Blick auf Länder wie Nordkorea, Syrien oder Venezuela sind solche Vergleiche mehr als zynisch. Doch mangelndes Vertrauen der politischen Verantwortlichen in die Bürger löst bei manchem jenes Gefühl der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins aus, das auch der Untertan eines Gewaltherrschers empfindet. Drei Aspekte stehen exemplarisch für diesen Vertrauensverlust: die Terrorbekämpfung, die Eurokrise und der neue Paternalismus.

„Ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern.“

Deutschland ist erfreulicherweise eines der Länder, in dem Bürger am sensibelsten auf staatliche Überwachung reagieren, und in dem ein sehr waches Gespür für Fragen des Datenschutzes herrscht. Regierungen anderer Länder, wie etwa der USA oder Großbritanniens, sind da weniger zimperlich. Für die einen mögen Email- und Telefonüberwachung, unzählige Überwachungskameras und komplizierte Einreise-Formalitäten das Gefühl von Sicherheit hervorrufen. Viele aber fühlen sich als unbescholtene Bürger schikaniert und mitunter auch bedroht durch einen wachsenden Überwachungsstaat. Im Zweifel ist es, wie bei der NSA-Affäre, ja nicht einmal der eigene Staat, der das Privateste der Menschen durchschnüffelt. Wer liest unsere Daten? Wozu werden sie genutzt? Ist Terrorbekämpfung der einzige Grund für die Sammelwut?

Als 2010 die Eurokrise ausbrach, stand vor allem Beschwichtigung auf der Tagesordnung. Es bedurfte eines medialen Schwergewichts wie Hans-Werner Sinn, um die Risiken der Target-Salden aufzudecken. Haftungsmechanismen wurden verschleiert. Selbst viele Bundestagsabgeordnete waren ahnungslos, wieviel Geld wieder einmal für eine Rettung krisenbedrohter Staatshaushalte in der EU aufgewandt werden mussten. Und die Politik der EZB ist nicht nur für Laien kaum mehr nachvollziehbar. Während die verantwortlichen Politiker beschwichtigend behaupteten, sie hätten alles im Griff, wuchs unter den Bürgern das mulmige Gefühl, dass ihnen eine realistische Perspektive vorenthalten werde. Viele hatten damals schon den Eindruck, den Innenminister de Maizière im November 2015 mit seinem berühmten Diktum hervorrief: „Ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern.“

Eigenverantwortliche Bürger

Ein bereits länger anhaltender Trend des Misstrauens gegenüber der eigenen Bevölkerung findet sich in den mannigfaltigen Ausprägungen des Paternalismus. Immer mehr politische Maßnahmen werden ergriffen, um Bürger zum „verantwortlichen“ Konsum, zur „gesunden“ Ernährung oder zu „richtigen“ Entscheidungen hinzuführen. All diese Initiativen suggerieren, dass Politiker und Bürokraten den einfachen Bürgern an Wissen, Einsicht und eventuell auch moralischer Größe überlegen sind, was sie dazu prädestiniert, diese auf den rechten Weg zu weisen. Man hat nicht mehr das Gefühl, als selbstverantwortliches Individuum ernstgenommen zu werden. Die Botschaft, die durch den wachsenden Paternalismus bei vielen ankommt, lautet: „Wir vertrauen Dir eigentlich nicht …“

Unser freiheitlich-demokratisches Gemeinwesen wird gefährdet durch das mangelnde Vertrauen der Politik in den Bürger. Eine Kehrtwende in der politischen Kultur tut Not. Politiker können ihren Bürgern nicht nur bittere Wahrheiten zutrauen, sie müssen es auch – sie haben eine Rechenschaftspflicht gegenüber ihren Wählern. (In Frankreich erlebten wir vor kurzem bei der Wahl von François Fillon zum Präsidentschaftskandidaten der Republikaner, dass das funktionieren kann.) Unter Umständen gehört dazu auch bisweilen das Eingeständnis, selber nicht genau zu wissen, was die richtige Lösung ist. Alles ist besser, als sich in Nebel zu hüllen, um niemanden zu „verunsichern“. Die staatliche Überwachung muss immer wieder auf den Prüfstand und muss der Prämisse unterworfen sein, dass eine überwältigende Mehrheit der Menschen unbescholtene Bürger oder Gäste sind, deren Privatsphäre zu schützen zu den obersten Pflichten des Staates gehört.

Und schließlich müssen politische Entscheidungsträger wieder mehr Respekt vor den eigenverantwortlichen Entscheidungen ihrer Bürger haben. Ihre eigenen Ansichten darüber, was gut und richtig ist, dürfen nicht der Maßstab für politische Maßnahmen sein. Der Griff zur Zigarette, zum Schokoriegel oder zum Steak ist Teil der Privatsphäre der Menschen und zugleich Ausdruck ihrer eigenen Entscheidungsfähigkeit. Wer ihnen diese abspricht, sägt letztlich am eigenen Ast: denn in einer Demokratie ist diese Entscheidungsfähigkeit der Grund dafür, dass Politiker im Amt sind. Die Politik muss sich das Vertrauen der Bürger verdienen – der beste Weg dorthin besteht darin, wenn die Politik wieder den Bürgern vertraut. Es mag helfen, wenn sich Politiker wieder bewusstmachen, wer der Souverän ist.

Photo: Wendy from Flickr (CC BY-NC 2.0)

Von Prof. Roland Vaubel, emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre und Politische Ökonomie an der Universität Mannheim.

Im März nächsten Jahres will die EU-Kommission Vorschläge machen, wie die „Governance“ der Euro-Zone ausgebaut werden kann und sollte. Die deutsche Verhandlungsposition ist bereits erkennbar. Finanzminister Schäuble hat erklärt: „Wir müssen Europa unterhalb der Schwelle von EU-Vertragsänderungen handlungsfähiger machen. … Das Primärrecht müssten wir dafür nicht ändern. Das könnten wir in der Euro-Zone auch mit einer Änderung des ESM-Vertrages hinbekommen“ (Interview, Stuttgarter Zeitung, 15.10.16). Was will er „hinbekommen“? Schäuble will einen „Euro-Finanzminister“. Er will diesen Superminister sogar mit einem eigenen Haushalt ausstatten, der aus der Mehrwert- und Einkommensteuer gespeist werden soll. Lässt sich das mit einer Änderung des ESM-Vertrages bewerkstelligen? Soll der Geschäftsführende Direktor des Europäischen Stabilitätsmechanismus – ein Deutscher namens Klaus Regling – Euro-Finanzminister werden?

Bislang erhält der ESM keine laufenden Zahlungen aus Steuermitteln. Er hat drei Einnahmequellen. Erstens hat er Zinseinkünfte aus den Krediten, die er an überschuldete Euro-Staaten vergeben hat, und aus den Anleihen dieser Staaten, die er im Rahmen seiner Programme gekauft hat. Diese Zinsen sind etwas höher als die Zinsen, die er auf seine von den Mitgliedstaaten verbürgten Anleihen zahlt: „Bei der Gewährung von Stabilitätshilfe strebt der ESM die volle Deckung seiner Finanzierungs- und Betriebskosten an und kalkuliert eine angemessene Marge ein“ (Art. 20 Abs. 1 des ESM-Vertrags).

Zweitens erzielt der ESM Zinserträge, indem er das bei ihm eingezahlte Kapital (80 Mrd. Euro) im Kapitalmarkt investiert – zum Beispiel, indem er Staatsanleihen oder wie im Juli 2015 Anleihen des EU-Hilfsfonds EFSM erwirbt. (Der EFSM leitete das Geld an Griechenland weiter, dessen ESM-Programm abgelaufen war.) Der ESM „hat das Recht, einen Teil des Ertrags aus seinem Anlageportfolio zur Deckung seiner Betriebs- und Verwaltungskosten zu verwenden“ (Art. 22 Abs. 1). Nicht benötigte Anlageerträge können an die Mitgliedstaaten ausgeschüttet werden. Sie müssten sogar in voller Höhe ausgeschüttet werden, wenn der ESM einmal keine Finanzhilfen mehr gewähren würde (Art. 23).

Drittens kann der ESM Einnahmen aus finanziellen Sanktionen gegen seine Mitglieder erhalten (Art. 24 Abs.2). Dabei handelt es sich um Geldbußen in Rahmen des sogenannten „Sixpack“ von 2011, insbesondere die Verordnungen 1174 und 1176 über die Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte und die Verordnung 1177 bei übermäßigen Defiziten. Wenn die Verwaltungskosten – so wie es Schäuble vorschlägt – aus den Mehrwert- und Einkommensteuereinnahmen der Euro-Staaten finanziert würden, wäre der ESM nicht mehr ein „Kreditinstitut“ der Euro-Staaten, sondern eine Euro-Finanzbehörde, und an ihrer Spitze stünde ein „Finanzminister“.

Weshalb will Schäuble den ESM-Vertrag und nicht den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) ändern? Er sagt: weil das einfacher ist. Das ist wahr. Eine Änderung des AEUV müsste nicht nur von den Euro-Staaten, sondern auch von den anderen EU-Staaten – zum Beispiel Polen, Tschechien und vorerst auch Großbritannien – ratifiziert werden. Das könnte Schwierigkeiten bereiten und würde die Verhandlungsmacht dieser Länder stärken. Außerdem müssten – zum Beispiel in Irland – Mehrheiten in Volksabstimmungen gefunden werden.

Aber mindestens genau so wichtig ist, dass die Entscheidungen im ESM nur einstimmig getroffen werden können. Deutschland könnte den Vertrag sogar kündigen. Im Rat der EU dagegen genügt eine qualifizierte Mehrheit, und Schäuble könnte überstimmt werden. Außerdem redet in der EU das Europa-Parlament ein Wörtchen mit, im ESM hat das Europa-Parlament nichts zu sagen. Schäuble wird auch gefallen, dass die Letztentscheidung im ESM beim Gouverneursrat, d.h. bei den Finanzministern, liegt. Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch durchgesetzt, dass Schäuble bei Entscheidungen, die „die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages betreffen“, die Zustimmung des Bundestages braucht.

Schäuble will verhindern, dass der ESM – sein Werk – eines Tages vielleicht wieder abgeschafft wird oder zu wenig Einnahmen hat, wenn einmal keine Kreditforderungen mehr ausstehen. Deshalb versucht er, den ESM zu stärken, ihm zusätzliche Kompetenzen und Einnahmen zu verschaffen. Der ESM soll ein für alle mal unentbehrlich werden.

Wohin die Reise gehen soll, zeigen auch die Verlautbarungen der Deutschen Bundesbank. Schon im Februar haben sich Jens Weidmann und sein französischer Amtskollege Francois Villeroy de Galhau in einem gemeinsamen Zeitungsartikel ebenfalls für einen Finanzminister der Euro-Zone ausgesprochen (Süddeutsche Zeitung, 08.02.16). Die Bundesbank schreibt zu diesem Thema in ihrem Monatsbericht vom Juli 2016:

„Es könnte in diesem Zusammenhang daran gedacht werden, die Rolle des ESM grundsätzlich zu stärken. Mit dem Antrag eines Mitgliedstaates auf Finanzhilfen beim ESM wird die Einschätzung zur weiteren Wirtschaftsentwicklung, zur Schuldentragfähigkeit und zum Finanzbedarf derzeit durch die Europäische Kommission im Benehmen mit der EZB erstellt, und dies ist auch für die Überwachung der wirtschaftspolitischen Auflagen vorgesehen. Diese Aufgaben könnten künftig auf den ESM übertragen werden“ (S. 57).

„Im Falle einer Umschuldung … könnten Koordination und begleitende Aufgaben, wie etwa die Erfassung der bestehenden Ansprüche, auf den ESM übertragen werden, und dieser könnte auch mit der effektiven Abstimmung der Umschuldung mit einem Anpassungsprogramm und Finanzhilfen des ESM beauftragt werden. Mit Stärkung des Krisenbewältigungsmechanismus könnte darüber hinaus auch in Erwägung gezogen werden, dem ESM ergänzend die Funktion einer unabhängigen Fiskalbehörde zu übertragen. Dazu könnten ihm die bisher bei der Europäischen Kommission liegenden Aufgaben der Bewertung der Haushaltsentwicklungen und der Einhaltung der Fiskalregeln übertragen werden“ (S. 64).

Betrachten wir erstens die Überwachung der wirtschaftspolitischen Auflagen. Ist es günstiger, wenn nicht Kommission und EZB über die Einhaltung der Auflagen wachen, sondern der ESM? Aus der Geschichte des Internationalen Währungsfonds (IWF) lassen sich diesbezüglich wichtige Lehren ziehen. Auch der IWF vergibt ja subventionierte Kredite an überschuldete Mitgliedstaaten und verhängt dabei wirtschaftspolitische Auflagen. Der IWF hat im Zeitraum 1991-2012 insgesamt 41 Programme wegen Nichterfüllung seiner Auflagen abgebrochen (Urbaczka, Vaubel 2013). Das ist zwar mehr, als der ESM vorweisen kann – nämlich überhaupt keine Abbrüche, aber auf 21 dieser 41 abgebrochenen IWF-Programme folgte bereits am folgenden Tag ein neues Programm. Dreissig Staaten erhielten einen Anschlusskredit innerhalb eines Jahres. Nur fünf Staaten bekamen nach dem Abbruch ihres Programms vom IWF keinen Kredit mehr.

Weshalb vergibt der IWF immer wieder neue Kredite an Staaten, die nach seiner eigenen Einschätzung die Auflagen nicht eingehalten haben? Weil auch er sich über die Marge zwischen seinem Kreditzins und dem Zins, den er seinen Gläubigern zahlt, finanziert. Wenn er – wie zum Beispiel 2007 – nicht genug Kredite vergibt, kann er seine Verwaltungskosten nicht decken und muss Personal abbauen. Die Regierungen der Schuldnerländer wissen das und nehmen daher die Auflagen nicht ernst, denn sie bekommen ja doch wieder einen neuen Kredit.

Genau so könnte es dem ESM ergehen – bei der Überwachung der Auflagen, aber auch bei der Einschätzung der Schuldentragfähigkeit und des Finanzbedarfs. Um genug Kredite vergeben zu können, würde er die Schuldentragfähigkeit zu optimistisch beurteilen und den Finanzbedarf zu großzügig kalkulieren. Weniger verzerrte Einschätzungen erhält man, wenn man nicht die Kredit gebende Institution, sondern wie bisher die EU-Kommission und die EZB fragt. Die Kommission ist besser geeignet als die EZB, weil nicht alle EU-Staaten der Währungsunion angehören. Noch neutraler wäre zum Beispiel die OECD, weil die Euro-Staaten dort in der Minderheit sind. Ungeeignet wäre dagegen der IWF (obwohl er zum Beispiel die Schuldentragfähigkeit Griechenlands realistischer einschätzt als Kommission und EZB). Denn der IWF vergibt selbst Kredite und kann daher an verzerrten Einschätzungen interessiert sein.

Kann man die Anreizprobleme des ESM dadurch beseitigen, dass man ihn aus Steuermitteln finanziert? Sicher nicht, solange er bei seinen Ausleihungen weiterhin eine Zinsmarge erwirtschaftet. Aber selbst wenn das geändert würde, wäre auf den ESM kein Verlass. Denn die Hilfsprogramme sind für die ESM-Bürokratie nicht nur eine Einnahmequelle, sondern auch eine Quelle von Macht und Ansehen, und die Kosten der verfehlten Kreditvergabe tragen nicht die ESM-Beamten, sondern die Steuerzahler.

Ist es sinnvoll, wie die Bundesbank zweitens anregt, den ESM bei Umschuldungen einzuschalten? Als Gläubiger der umschuldenden Staaten sind die ESM-Beamten daran interessiert, dass sie selbst keine Forderungen abschreiben müssen und dass die anderen Gläubiger auf einen möglichst grossen Teil ihrer Forderungen verzichten. Auch im Fall der Umschuldung steht das Eigeninteresse des ESM-Personals daher einer vernünftigen Lösung im Weg. Effizient wäre die Einschaltung des Pariser bzw. Londoner Clubs, die ja auch sonst für Umschuldungen zuständig sind.

Sollte der ESM drittens im Rahmen des „Sixpack“ anstelle der Kommission die Haushaltsentwicklungen bewerten und die Einhaltung der Fiskalregeln überwachen, wie es die Bundesbank vorschlägt? Die Kommission hat leider wegen politischer Rücksichtnahmen immer wieder ein Auge zugedrückt. Aber wäre der ESM standhafter? Schäuble sagt: „Der ESM würde die Haushaltsentwürfe nicht politisch, sondern streng nach den Regeln beurteilen“ (Stuttgarter Zeitung, 15.10.16). Dafür könnte auf den ersten Blick sprechen, dass die Geldbußen, die die Euro-Staaten bei übermäßigen Haushaltsdefiziten zahlen müssten, dem ESM zufließen würden (EU 1177/2011, Art. 16). Dennoch ist das Gegenteil zu erwarten: Wir würden vom Regen in die Traufe kommen. Die EU-Kommissare werden zwar von den Regierungen der Mitgliedstaaten ausgewählt und beeinflusst, aber sie sind weisungsunabhängig. Im ESM dagegen würden letztlich die Finanzminister als Gouverneure selbst entscheiden – also diejenigen, die die Haushaltsdefizite höchstpersönlich zu verantworten haben. Sie haben keinen Anreiz, Geldbußen einzutreiben, die sie selbst bezahlen müssen. Wollen Schäuble und Weidmann die Böcke zu Gärtnern machen? Der Stabilitäts- und Wachstumspakt würde nur dann funktionieren, wenn die vorgesehenen Sanktionen automatisch greifen würden. Das ist aber nicht konsensfähig. Damit ist schon Theo Waigel 1996 gescheitert.

Erstmals erschienen bei Ökonomenstimmen.

Photo: ivabalk from Pixabay (CC 0)

Es gibt wohl fast keinen Wirtschaftsbereich, vom Finanzsektor einmal abgesehen, der so stark von staatlicher Lenkung beeinflusst ist wie der Energiesektor. Das hat auch diese Woche wieder gezeigt. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Atomausstieg zeigt glücklicherweise die Grenzen staatlicher Willkür. Der Staat darf eben nicht alles. Er muss auf Eigentumsrechte und Verträge – wie etwa vorher mit ihm vereinbarte Kraftwerkslaufzeiten – Rücksicht nehmen. Verstößt er dagegen, muss er die Unternehmen entschädigen. Ärgerlich ist nur, dass die Kanzlerin und ihr damaliger Umweltminister Peter Altmaier für diese rechtswidrigen Entscheidungen vom Steuerzahler nicht schadensersatzpflichtig gemacht werden können. Es wäre aber zumindest „des Schweißes der Edlen wert“, darüber nachzudenken.

Diese willkürlichen Eingriffe des Staates in den Energiesektor finden sich häufig und besonders ausgeprägt im Bereich der Erneuerbaren Energien. Im Jahr 2019 steigen die Ökostromumlage und die Kosten anderer Maßnahmen auf dann 28,5 Milliarden Euro pro Jahr. Dagegen war der Kohlepfennig, der ebenfalls über eine Umlage finanziert wurde, eine Petitesse. Sein Volumen betrug im Jahr 1989 lediglich 5,4 Milliarden DM. Als der damalige Wirtschaftsminister Jürgen Möllemann 1991 den Abbau von 10 Milliarden DM an Subventionen, unter anderem bei der Kohle, zur Bedingung für seinen Verbleib im Kabinett machte, demonstrierten 800 Kumpel gegen Möllemann und verbrannten eine Strohpuppe, die ihn darstellen sollte. Erst 1994 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass der Kohlepfennig nicht zu rechtfertigen sei, da er eine Allgemeinheit von Stromkunden belaste, die keine besondere Finanzierungsverantwortlichkeit für Steinkohle aus Deutschland habe. Diese Argumentation passt heute ebenfalls wie die Faust aufs Auge für die Erneuerbaren Energie.

Ähnlich wie bei der heimischen Steinkohle, deren Bergschäden noch heute weite Teile des Ruhrgebiets belasten, ist es auch mit den Erneuerbaren Energien. Sie führen zu Monokulturen in der Landwirtschaft und zu immer mehr Eingriffen des Staates. Allein die Herstellung von Biogasanlagen hat sich in den vergangenen zehn Jahren vervierfacht, die der installierten Leistung verzehnfacht. Wer so viel elektrische Leistung produzieren will, braucht Futter. Mais ist dafür der gängige Rohstoff. Inzwischen ist die Maisanbaufläche in Deutschland auf 2,6 Millionen Hektar angewachsen – das ist mehr als die Fläche Mecklenburg-Vorpommerns. Einer der Kollateralschäden dieser Entwicklung ist die massive Zunahme von Schwarzwild. Wildschweine können sich im Mais besser verstecken und haben eine auskömmliche Nahrungsquelle. Allein in Hessen hat sich in den vergangenen Jahren die Abschusszahl der Wildschweine versiebenfacht.

Jetzt hat die EU angekündigt, dass der Biodiesel, der überwiegend aus Raps gewonnen wird, bei der Zwangsbeimischung für Diesel und Benzin von derzeit 7 Prozent auf dann nur noch 3,8 Prozent anzupassen sei. Noch 2009 wurde genau umgekehrt argumentiert. Damals galt die Beimischung als wichtiger Beitrag für den Klimaschutz und gleichzeitig als langfristige Existenzsicherung für die Landwirtschaft.

2011 wurde sogar mit viel Tamtam der E10-Kraftstoff eingeführt, den viele Fahrzeuge dann ins Stottern brachte. Eine ganze Industrie im In- und Ausland lebt inzwischen von dem Glauben, dass hier etwas Gutes getan wird. Landwirte werden in Märkte und Produkte gedrängt und finanziell angeschubst. Sie investieren in neue Geräte und Anlage und plötzlich überlegt sich die Regierung etwas Anderes. Schon schreien und beschweren sich die Angeschubsten und betonen, wie wichtig Bioethanol für die Umwelt sei. Gleichzeitig erwähnen sie beiläufig, dass weniger Rapsanbau mehr Getreideanbau zur Folge hätte und damit die Getreidepreise ins Rutschen geraten würden. Und nicht nur das: die Reste des Rapsanbaus könnten auch nicht mehr an die Tiere verfüttert werden. Damit müsste der Sojaimport erhöht werden. Soja sei allerdings häufig genmanipuliert und der Anbau würde die Regenwälder in Südamerika vernichten. Kein Argument ist zu flach, um nicht für die Lobbyarbeit herhalten zu können.

Letztlich führt diese Art der Wirtschaftspolitik zur Entmündigung. Alle Unternehmer, erst recht die Landwirte, werden von der Regierung an die kurze Leine genommen. Sie sind abhängig von der Willkür der Regierenden. Sie schauen nur noch, welche kurz gültigen Entscheidungen die Politik trifft, versuchen darauf über ihre Verbände Einfluss zu nehmen, verstehen aber offensichtlich nicht, dass sie sich dadurch ihre unternehmerische Freiheit “nachhaltig” rauben lassen.

Erstmals erschienen auf Tichys Einblick.

Photo: Riccardo from Flickr (CC BY 2.0)

Lange Zeit wurde die Mär verbreitet, die Zukunft des Euro würde von Griechenland abhängen. Das war 2010 beim ersten Bail-Out so und dann auch in den Folgejahren. Scheitert der Euro in Griechenland, dann scheitert Europa, so das Credo. Heute ist klar, Griechenland ist ein Failed State, der durchgefüttert wird, aber bei dem allen Beteiligten klar ist, dass er dauerhaft am Tropf hängt, so lange er im Euro verbleibt. Seit dem Rettungsversuch Griechenlands hat sich die Krise jedoch wie ein Virus in das Zentrum Europas verbreitet. Die Mitte des Orkans ist inzwischen Italien. Italien steckt nicht erst seit dem gescheiterten Referendum vom vergangenen Sonntag in einer fundamentalen Strukturkrise. Doch das Scheitern Renzis bringt die Strukturprobleme deutlich ans Tageslicht.

Seit der Euro-Einführung 1999 hat sich die Staatsverschuldung Italiens um rund 1.000 Milliarden Euro erhöht. Nur in den Zwischenkriegsjahren war die relative Verschuldung zur Wirtschaftsleistung höher. Heute beträgt sie fast 135 Prozent. Die steigende staatliche Verschuldung geht einher mit einem Verlust von Wirtschaftskraft im Norden wie im Süden des Landes. Bis zur Einführung des Euros entwickelten sich der Norden und der Süden – natürlich von unterschiedlichen Ausgangsniveaus – im Gleichklang. Während der Norden seitdem seine Wirtschaftskraft zwar nicht steigern, aber zumindest halten konnte, verlor der Süden massiv an Wirtschaftskraft: im Vergleich zu 2001 sind es 11,2 Prozent.  Das lässt sich auch an einigen wichtigen Wirtschaftszweigen ablesen. Das produzierende Gewerbe ging gegenüber dem Hoch im Dezember 2006 um 27,8 Prozent zurück und verharrt seit über 3 Jahren auf diesem niedrigen Niveau. Die Automobilindustrie, eine der wichtigen Schlüsselindustrien Italiens, folgt einem stetigen Niedergang und produziert heute so viele Autos wie 1960. Im Vergleich zu den Hochzeiten Anfang der 1990er Jahre hat sie über 66 Prozent der Produktion eingebüßt. Auch andere Branchen wie die Stahlindustrie produzieren auf dem Mengenniveau der 1970er Jahre.

All das bleibt nicht ohne Folgen. Das Bankensystem ist durch die strukturelle Wachstumsschwäche überschuldet. Rund ein Drittel der faulen Kredite europäischer Banken sind in den Büchern der italienischen Institute. Insgesamt sind dies inzwischen über 360 Milliarden Euro, rund 200 Milliarden davon sind länger als 90 Tage im Zahlungsverzug. Über 22 Prozent aller Kredite in Italien sind damit im Feuer. Daher geht es in Italien nicht nur um die Existenz der Skandalbank, der Banca Monte dei Paschi die Siena, sondern um eine lang aufgestaute Strukturkrise des gesamten Bankensektors.

Die offizielle Arbeitslosigkeit verharrt auf fast 12 Prozent und die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei über 36 Prozent. Die tatsächlichen Zahlen liegen wahrscheinlich erheblich höher. Die Folge ist, dass die jungen Menschen das Land verlassen. Ausdruck des wirtschaftlichen Niedergangs ist der negative Target2-Saldo gegenüber anderen Ländern der Eurozone. Mit 358 Milliarden Euro ist die italienischen Notenbank in der Kreide. Wahrscheinlich ist nicht nur der wirtschaftliche Niedergang der italienischen Wirtschaft insbesondere im Export dafür verantwortlich, sondern auch eine steigende Kapitalflucht aus dem Land. Ein Indiz dafür ist der stetig ansteigende Banknotenumlauf. Seit der Einführung der Euro-Banknote 2002 ist dieser von rund 50 Milliarden Euro auf jetzt 177 Milliarden Euro gestiegen.

Umgekehrt sind die Target2-Salden auf Seiten der Deutschen Bundesbank mit 754 Milliarden Euro auf einem Allzeithoch. Auch dies drückt die Grundproblematik des Euros aus. Die Ökonomien im Euro-Club entwickeln sich immer weiter auseinander. Während Deutschland seine Industrieproduktion zum Vorkrisenjahr längst wieder erreicht hat, liegt Italien immer noch 20 Prozent darunter.

Italien wird immer mehr zum neuen Griechenland für die Euro-Zone. Derzeit rettet alleine der EZB-Präsident Mario Draghi sein Heimatland. Die Verlängerung seines Schuldenaufkaufprogrammes um weitere 540 Milliarden Euro auf dann 2.280 Milliarden Euro sichert für eine gewisse Zeit noch das niedrige Zinsniveau in Italien. Würde dies nicht geschehen, wäre Italien sofort zahlungsunfähig. Mitte der 1990er Jahre musste der italienische Staat bei 1.000 Milliarden Staatsverschuldung noch 14 Prozent Zinsen für 10-jährige Staatsanleihen bezahlen, heute sind es bei 2.200 Milliarden Euro nur noch 2 Prozent.

Wahrscheinlich muss Italien den Euro aufgeben, um ihn und sich zu retten. Das wird ein äußerst schmerzhafter Prozess. Aber der Euroraum ist zu inhomogen, um dauerhaft diese divergierenden Spannungskräfte auszuhalten. Daher ist es zwingend notwendig, dass die Eurostaaten sich endlich über eine geordnetes Ausstiegsverfahren aus dem Euro verständigen. Die Zeit dafür ist knapp. Die Eurogruppe hat viele Jahre vergeudet, um etwas künstlich zusammenzuhalten, was nicht zusammenpasst. Ein weiter so darf es nicht geben.