Photo: Fraktion DIE LINKE. im Bundestag from Flickr (CC BY 2.0)

Nicht erst seit den Wirtschaftssanktionen gegen Russland, die im Zuge der Krim-Annexion durch den Westen verhängt wurden, ist das Thema Protektionismus, Abschottung oder gar Handelskriege wieder aktuell. Die Sanktionen waren schon damals falsch, weil sie Putin eine billige Entschuldigung für die desolate ökonomische Lage in Russland geboten und ihn damit eher gestärkt haben. Außerdem wurde die Landwirtschaft in Deutschland und der EU vom wichtigen Russland-Markt abgeschnitten. Der Tiefstpreis für Milch in Deutschland ist zum großen Teil dieser Maßnahme geschuldet. Die Landwirte hierzulande mussten das bezahlen.

Die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten leitet jedoch eine völlig neue Stufe ein. Schon vor seiner Vereidigung am 20. Januar hat Trump per Twitter Toyota aufgefordert, das geplante Werk für die Produktion des Corolla nicht in Mexico, sondern in den USA zu bauen. Andernfalls drohte er den Japanern mit Strafzöllen. Gleiches hat er Fiat-Chrysler, Ford und General Motors ins Stammbuch geschrieben. Die klare Botschaft an alle in der Welt: nur wer in den USA produziert, geht ungeschoren davon. Wer „nur“ seine Waren in Amerika verkaufen will und anderswo „billig“ produziert, muss mit Strafzöllen rechnen. Was heute Toyota ist, kann morgen sehr schnell BWM, Siemens oder SAP sein.

Diese Wirtschaftspolitik bringt eine neue Qualität in die Handelsbeziehungen weltweit, die zugleich auch alt ist und in Realität und Theorie hundertfach widerlegt wurde. Im 16. bis zum 18. Jahrhundert nannte man diese Wirtschaftsform Merkantilismus. Die „eigene“ Wirtschaft sollte gegenüber der ausländischen Wirtschaft bevorteilt werden, um den Reichtum des Staates insgesamt zu mehren. Wirtschaft verstand man als Nullsummenspiel. Erst als die Idee des Freihandels langsam im 19. Jahrhundert Fuß fasste, begann eine Zeit des großen weltweiten Aufschwungs. Plötzlich sah man, dass die Wirtschaft kein Nullsummenspiel des einen zulasten des anderen ist, sondern eine win-win-Situation. Beide profitierten.

Sie profitierten nicht immer gleichzeitig und in gleichem Maße, aber beide profitieren. Der eine kann die Waren preiswerter kaufen als sonst und der andere findet neue Absatzmärkte, die er vorher nicht hatte und umgekehrt. Die Erfolge in der Bekämpfung der Armut in China und Südostasien in jüngster Zeit hätte es ohne den Freihandel nicht gegeben. Ohne den Freihandel hätte es den Aufstieg der osteuropäischen Länder nach dem Zusammenbruch des Kommunismus nicht geben. Und ohne Freihandel wären deutsche Unternehmen auf einen kleinen Markt mit 82 Millionen Menschen beschränkt. Ein Blick auf Venezuela kann verdeutlichen, wohin das führt. Millionen, wahrscheinlich Milliarden Menschen weltweit wurden und werden so aus bitterster Armut befreit.

Schon sind die Linken in diesem Land bemüht, ihre Fremdscham für ihren neuen Verbündeten schönzureden. Deren schlagkräftigste Truppe, „Campact“, ist schon peinlich berührt, dass sie jetzt im selben Boot sitzt wie Donald Trump. Nicht sie haben mit ihren Unterschriften und Protesten TTIP und CETA verhindert, sondern die Wahl von Trump verändert nun alles. Auf dem falschen Fuß erwischt, versuchen sie jetzt, kosmetische Unterschiede herauszuarbeiten. Sie seien, anders als Trump, für einen „fairen“ Handel. Dabei ist doch exakt das auch das Argument des neuen US-Präsidenten. Er glaubt, dass Unternehmen in China, Japan und anderswo ihre billigen Produkte lediglich durch eine manipulierte Währung auf den großen US-Markt werfen können. Das sei „unfair“, beklagte Trump bereits im Wahlkampf. Nein, Trump und „Campact“ sitzen im selben Boot.

Und nicht nur das. Auch in Deutschland ist es so, dass die Verbündeten beim Kampf gegen den Freihandel von links und rechts kommen. Sowohl Campact als auch Pegida lehnen TTIP und andere Freihandelsabkommen ab. 2015 traten stramme Pegida-Anhänger auf einer DGB-Demo vor dem Brandenburger Tor mit einem Galgen und einer Guillotine auf, an dem Sigmar Gabriel aufgehängt werden oder einen Kopf kürzer gemacht werden sollte. Abschottung führt zu Ressentiments und letztlich zu Hass. Auch bei den Parteien sitzen linke Parteien mit rechten im Boot. Es ist die gleiche Sauce. Morgens essen sie noch ihre Cornflakes zum Frühstück, mobilisieren anschließend über ihr I-Phone oder I-Pad die nächste Demo gegen den Freihandel und abends schlürfen sie dann den guten Rotwein aus Übersee.

Das erste Freihandelsabkommen wurde 1860 auf Anregung von Richard Cobden zwischen England und Frankreich formuliert. Es schaffte nicht alle Zölle und Handelsbeschränkungen auf einen Schlag ab, sondern reduzierte diese sukzessive. In dieser Tradition hat Ludwig Erhard 1959 das erste Freihandelsabkommen unterzeichnet – damals mit Pakistan. Er war wohl zu optimistisch, als er in seinem Buch „Wohlstand für alle“ formulierte: „Ich glaube, dass es der Denkkategorie einer hoffentlich überwundenen Vergangenheit angehört, die Handelspolitik als eine Dienerin der Außenpolitik oder gar als ein Instrument staatlicher Machtpolitik aufzufassen.“

Erstmals erschienen bei Tichys Einblick.

Photo: Roman Herzog Institut

Im Anschluss an diesen Artikel finden Sie noch etwas ausführlichere Zitate aus Reden Roman Herzogs, die mit den hier behandelten Themen zusammenhängen.

In der Geschichte der Bundesrepublik ragen zwei Persönlichkeiten hervor, die sich mit besonderer Integrität und Standhaftigkeit für die Freiheit und Selbstverantwortung der Bürger eingesetzt haben: der eine war Ludwig Erhard und der andere der in dieser Woche verstorbene Roman Herzog.

Immun gegen die Verlockungen der Macht

1993: Helmut Kohl schielt nach der vierten Amtszeit, das Land ist wiedervereinigt, läuft aber auf Stagnation und hohe Arbeitslosigkeit zu. Die Bundespräsidentenwahl steht im kommenden Jahr an und für die SPD will endlich Johannes Rau an seinen Traumjob kommen. Die CDU hingegen befindet sich im Kreuzfeuer der Kritik: Sie hat mit Steffen Heitmann zwar einen Kandidaten aus den neuen Bundesländern. Aber Heitmann ist ein profilierter Konservativer, der sich auch im Umfeld der damals gerade aufkommenden „Neuen Rechten“ bewegt. Er muss schließlich seine Kandidatur zurückziehen und Kohl entscheidet sich für den damaligen Präsidenten des Verfassungsgerichts als Kompromisskandidaten. Ähnlich wie einst Erhard von Adenauer nur mit Zähneknirschen akzeptiert wurde, wird auch Herzog nur mit wenig Begeisterung seitens des Kanzlers ins Amt gebracht.

Doch solche Männer und Frauen, die von den Mächtigen nicht gewünscht und gewiss nicht geliebt wurden, waren oft die wichtigsten Persönlichkeiten ihrer Ära. Denn in diesen seltenen Fällen, wo Menschen an Macht kamen, die sie nicht angestrebt hatten, zeigten sie oft eine erhebliche Immunität gegenüber deren Verlockungen. Sie waren und blieben Überzeugungstäter. Und so war die Wahl Herzogs zum Bundespräsidenten denn auch eine der wichtigsten Entscheidungen nach der Wiedervereinigung. Die meisten politischen Richtungsentscheidungen, die Deutschland und Europa in den letzten zwei Jahrzehnten positiv vorangebracht haben (oder voranbringen könnten), wurden von Herzog vorbereitet und inspiriert.

Der selbstverantwortliche Bürger

Auch nach seiner Amtszeit hat er noch nachhaltig Einfluss ausgeübt. Die Grundforderungen seiner Ruck-Rede arbeitete er 2003 im Rahmen der sogenannten Herzog-Kommission für seine Partei zu programmatischen Grundsätzen aus. Diese Forderungen bildeten die Grundlage für die Beschlüsse des Leipziger Parteitags, in dem die CDU ein Reformprogramm beschloss, das eine unerhörte Rosskur für den Wohlfahrtsstaat bedeutet hätte und noch weit über die späteren Agenda-Reformen Schröders hinausging. Herzogs unermüdliche mahnende Hinweise auf den Reformstau waren ein wichtiger Meilenstein hin zu den wegweisenden Entscheidungen der Regierung Schröder.

Drei Themen haben seine Amtszeit als Bundespräsident wesentlich bestimmt – drei Themen, die geradezu visionär jene Herausforderungen adressiert haben, vor die wir uns heute mehr denn je gestellt sehen: eine zeitgemäße Bildung, die Zukunft der Europäischen Union und insbesondere die grundlegenden Reformen, die sowohl in den Institutionen unseres Landes als auch in den Köpfen seiner Bürger dringend notwendig sind. Herzog hat niemals politisiert, war aber alles andere als unpolitisch. Er war meinungsstark, aber gerade deshalb am Dialog interessiert. Er provozierte nicht, weil er daran Spaß gehabt hätte, sondern, weil er es als seine Verantwortung begriff, auf Probleme hinzuweisen. Er war kein Grüß-August und hielt keine Sonntagsreden, weil er sich den Bürgern nicht überlegen wähnte, sondern überzeugt war, dass sie sich selber eine Meinung bilden und Entscheidungen treffen können.

Wider den Zentralismus

Kaum etwas hat einen so nachhaltigen Einfluss auf die Gesellschaft und das Selbstverständnis der Staatsbürger wie das Bildungssystem. Ein Einheitssystem unter politischer Steuerung kann die freie Bürgergesellschaft langfristig unterminieren. Und so plädierte Herzog in zahlreichen Reden und Aufsätzen immer wieder für ein wettbewerblich organisiertes System, in dem Schulen und Hochschulen weitgehende Autonomie besitzen. Warum, so der Präsident, hat „ein Schulleiter bei der Entscheidung über Sachmittel und Personal weniger Entscheidungsspielraum … als ein Sachbearbeiter in einer Schraubenfabrik?“ Leider hat die Politik in Ländern und Bund diese klugen Ratschläge ignoriert und mit Neuausrichtungen im Zwei-Jahres-Rhythmus nicht Wettbewerb, sondern zentral gesteuertes Chaos produziert.

Herzogs Vision von Europa war eines, das „mit polyzentraler Problem- und Entscheidungsfindung“ arbeitet: „Europäische Einigung macht … eine Revitalisierung der kleinen Einheit dringend notwendig. Die Regionen sind doch viel näher am Bürger als die fernen Zentren oder gar die supranationalen Einheiten.“ Und: „ihre Lernfähigkeit ist größer.“ Wie für viele seiner Generationsgenossen war auch für ihn Europa ein Herzensanliegen. Das verstellte ihm aber keineswegs den Blick für die Probleme, die schon vor zwanzig Jahren sehr offen zutage lagen. Vor allem aber versprach er sich nichts von „mehr Europa“. Er suchte nach dem besten Europa – und das lag seiner Überzeugung nach darin, dass es ein immer höheres Maß an „mehr Bürger“ ermöglicht.

Die Würde des Menschen liegt in seiner Selbstverantwortung

Das Wort vom „Ruck“ ist gerade auch in den letzten Tagen oft zitiert worden. Diese Aufforderung war aber mitnichten nur ein technischer Hinweis. Dahinter steht ein Menschenbild: Die Überzeugung, dass Angst ein schlechter Ratgeber ist und Bequemlichkeit eine schlechte Verhaltensmaxime. „Wir haben den Staat … jahrzehntelang unermüdlich an den Gitterstäben eines goldenen Käfigs bauen lassen.“ Aus diesem Käfig wollte er seine Mitbürger herausführen – hin zur Selbständigkeit. Nicht nur die materiellen Verhältnisse sollten wieder besser werden. Bei der 150-Jahr-Feier der Revolution von 1848 sagte er: „Vor uns liegt ein neues Zeitalter: In dem statt der Anonymität zentralistischer Großorganisationen zivilgesellschaftliches Engagement das Gemeinwesen mittragen muß. Das Freiräume schafft, indem der Staat seine Aufgaben auf das Wesentliche zurücknimmt und dadurch zugleich seine Handlungsfähigkeit zurückgewinnt.“

Als Roman Herzog vor einem Jahr den Ehrenpreis der Hayek-Stiftung in Freiburg erhielt, sagte Joachim Gauck in seiner Laudatio: „Sie haben immer Klartext geredet: die Idee der Freiheit, sie sei keine Garantie der Freiheit. Aber es ist eine eminent menschenfreundliche Idee, weil sie mit den gewaltigen Potenzialen rechnet, die in jedem Menschen – offenkundig oder verborgen – stecken, eine Idee, die ihm die Fähigkeit und Würde zuspricht, zum Herrn und Meister seines eigenen Schicksals zu werden.“ Dass die Würde des Menschen zuvorderst in seiner Befähigung liegt, für sein eigenes Leben Verantwortung zu übernehmen, war die zentrale Botschaft von Roman Herzog. Sie sollte dieses Land, seine politischen Verantwortlichen und vor allem seine Bürger auch in Zukunft begleiten, ermuntern und ermutigen.


Auszüge aus Reden von Bundespräsident Roman Herzog

Weihnachtsansprache 1995, 25. Dezember 1995

„Dem Frieden und der Mitmenschlichkeit wäre auch sehr gedient, wenn wir mit unserer Sprache sorgfältiger und menschlicher umgingen, als wir es gelegentlich tun. Wie leicht fällt es uns beispielsweise, andere kurzerhand als Lügner und Betrüger, als Verbrecher oder Mörder zu bezeichnen, nur weil wir die Lust zum Verletzen oder zumindest zum Übertreiben verspüren?“

Ansprache auf der Jahresversammlung der Arbeitsgemeinschaft Selbständiger Unternehmer e.V., 5. März 1997

„Wenn Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit verlorengehen – sei es durch den Staat, seine Bürokratie oder seine Gesetze, sei es, weil die Bürger aus Bequemlichkeit oder Unlust ihre Freiheit nicht mehr nutzen und gar nicht mehr nutzen wollen und immer mehr Menschen die ‚Sehnsucht nach Betreuung‘ überkommt: Dann sind nicht nur die Existenzbedingungen selbständiger Unternehmer in Deutschland gefährdet. Dann sind unsere marktwirtschaftliche Ordnung und unsere freiheitliche Gesellschaft insgesamt bedroht.

Diese Art der Unfreiheit kommt in den modernen Demokratien nicht mehr mit dem Polizeiknüppel. Der ist zum Glück gebändigt. Unfreiheit kann auch auf leisen Sohlen daherkommen, wie ein schleichendes Gift, das wir ohne das rechte Gefahrenbewußtsein freiwillig konsumieren, dessen Verschreibung manche sogar ausdrücklich fordern. Weil es so bequem ist, ist es besonders gefährlich.

Wir sind nicht nur hier in Deutschland, sondern auch in den meisten anderen europäischen Staaten mit zwei einander scheinbar widersprechenden Entwicklungen konfrontiert:

Noch nie haben so viele Menschen auf so engem Raum mit so großen individuellen Freiheitsräumen und in so beachtlichem Wohlstand zusammengelebt wie in den offenen, marktwirtschaftlich verfaßten Demokratien unserer Zeit.

Noch nie waren wir aber auch – und zwar freiwillig! – derart komplexen Regularien und Vorsorgemaßnahmen für immer neue, weitere Lebensbereiche unterworfen. Sie alle haben wir im demokratischen Verfahren selbst geschaffen, und zwar mit dem vermeintlichen Ziel, unsere Freiheitsräume gegen jedwedes Risiko abzusichern. In Wirklichkeit haben wir aber den Staat – mit unserem Mandat – jahrzehntelang unermüdlich an den Gitterstäben eines goldenen Käfigs bauen lassen. Darin büßen die Menschen in scheinbarem Wohlbefinden zunehmend ihre Freiheit ein und zugleich ihre Fähigkeit und Bereitschaft, die eigenen Kräfte zu mobilisieren.

Trotz aller guten Absichten ist damit oft das Gegenteil von dem erreicht worden, was wir angestrebt haben: Die Verantwortung des Staates ist weithin an die Stelle der Verantwortung des einzelnen Bürgers für sich und seinen Nächsten getreten. Diese Mentalität ist übrigens – entgegen allen anderslautenden Gerüchten – kein Spezifikum der Empfänger von sozialen Zuwendungen. Man findet sie im Subventionsbereich ebenso wie bei der zähen Verteidigung wettbewerbsbeschränkender Refugien, die es vielerorts ja auch noch gibt.

Ein Modell, das an die Stelle persönlicher Verantwortung des Einzelnen die umfassende Zuständigkeit staatlicher Einrichtungen für sämtliche denkbaren Wechselfälle des Lebens und für nahezu alle Bürger setzt, überfordert aber den Staat und nicht nur seine Finanzen. Es gefährdet damit gerade die Interessen derer, die sich wirklich nicht selber helfen können und für die es ursprünglich einmal geschaffen worden war. Außerdem kümmern wir selbst uns immer weniger um unseren Nachbarn, weil wir denken: ‚Das erledigt schon der Staat.‘“

Berliner Rede 1997, 26. April 1997

„Das ist ungeheuer gefährlich, denn nur zu leicht verführt Angst zu dem Reflex, alles Bestehende erhalten zu wollen, koste es was es wolle. Eine von Ängsten erfüllte Gesellschaft wird unfähig zu Reformen und damit zur Gestaltung der Zukunft. Angst lähmt den Erfindergeist, den Mut zur Selbständigkeit, die Hoffnung, mit den Problemen fertigzuwerden. Unser deutsches Wort ‚Angst‘ ist bereits als Symbol unserer Befindlichkeit in den Sprachschatz der Amerikaner und Franzosen eingeflossen. ‚Mut‘ oder ‚Selbstvertrauen‘ scheinen dagegen aus der Mode gekommen zu sein.

Unser eigentliches Problem ist also ein mentales: Es ist ja nicht so, als ob wir nicht wüssten, dass wir Wirtschaft und Gesellschaft dringend modernisieren müssen. Trotzdem geht es nur mit quälender Langsamkeit voran. Uns fehlt der Schwung zur Erneuerung, die Bereitschaft, Risiken einzugehen, eingefahrene Wege zu verlassen, Neues zu wagen. Ich behaupte: Wir haben kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem. Während die Auswirkungen des technischen Wandels auf dem Arbeitsmarkt und die Folgen der Demographie für die sozialen Netze auch andere Industrieländer, etwa Japan, heimsuchen, gibt es für den Modernisierungsstau in Deutschland keine mildernden Umstände. Er ist hausgemacht, und wir haben ihn uns selbst zuzurechnen.

Stattdessen gefallen wir uns in Angstszenarien. Kaum eine neue Entdeckung, bei der nicht zuerst nach den Risiken und Gefahren, keineswegs aber nach den Chancen gefragt wird. Kaum eine Anstrengung zur Reform, die nicht sofort als ‚Anschlag auf den Sozialstaat‘ unter Verdacht gerät. Ob Kernkraft, Gentechnik oder Digitalisierung: Wir leiden darunter, dass die Diskussionen bei uns bis zur Unkenntlichkeit verzerrt werden – teils ideologisiert, teils einfach ‚idiotisiert‘. Solche Debatten führen nicht mehr zu Entscheidungen, sondern sie münden in Rituale, die immer wieder nach dem gleichen Muster ablaufen, nach einer Art Sieben-Stufen-Programm:

Am Anfang steht ein Vorschlag, der irgendeiner Interessengruppe Opfer abverlangen würde.

Die Medien melden eine Welle ‚kollektiver Empörung‘.

Spätestens jetzt springen die politischen Parteien auf das Thema auf, die einen dafür, die anderen dagegen.

Die nächste Phase produziert ein Wirrwarr von Alternativvorschlägen und Aktionismen aller Art, bis hin zu Massendemonstrationen, Unterschriftensammlungen und zweifelhaften Blitzumfragen.

Es folgt allgemeine Unübersichtlichkeit, die Bürger werden verunsichert.

Nunmehr erschallen von allen Seiten Appelle zur ‚Besonnenheit‘.

Am Ende steht meist die Vertagung des Problems. Der Status quo setzt sich durch. Alle warten auf das nächste Thema.

Diese Rituale könnten belustigend wirken, wenn sie nicht die Fähigkeit, zu Entscheidungen zu kommen, gefährlich lähmen würden. Wir streiten uns um die unwichtigen Dinge, um den wichtigen nicht ins Auge sehen zu müssen. Erinnert man sich heute noch an den Streit über die Volkszählung, der vor ein paar Jahren die ganze Nation in Wallung brachte? Scheinsachverständige mit Doktortitel äußern sich zu beliebigen Themen, Hauptsache, es wird kräftig schwarzgemalt und Angst gemacht. Wissenschaftliche und politische Scheingefechte werden so lange geführt, bis der Bürger restlos verwirrt ist; ohnehin wird die Qualität der Argumente dabei oft durch verbale Härte, durch Kampfbegriffe und ‚Schlagabtausche‘ ersetzt. Und das in einer Zeit, in der die Menschen durch die großen Umbrüche ohnehin verunsichert sind, in einer Zeit, in der der Verlust von eigenem Erfahrungswissen durch äußere Orientierung ersetzt werden müsste. Ich mahne zu mehr Zurückhaltung: Worte können verletzen und Gemeinschaft zerstören. Das können wir uns nicht auf Dauer leisten, schon gar nicht in einer Zeit, in der wir mehr denn je auf Gemeinschaft angewiesen sind. […]

Wäre es nicht ein Ziel, eine Gesellschaft der Selbständigkeit anzustreben, in der der Einzelne mehr Verantwortung für sich und andere trägt, und in der er das nicht als Last, sondern als Chance begreift? Eine Gesellschaft, in der nicht alles vorgegeben ist, die Spielräume öffnet, in der auch dem, der Fehler macht, eine zweite Chance eingeräumt wird. Eine Gesellschaft, in der Freiheit der zentrale Wert ist und in der Freiheit sich nicht nur durch die Chance auf materielle Zuwächse begründet. […]

Wir müssen unsere Jugend auf die Freiheit vorbereiten, sie fähig machen, mit ihr umzugehen. Ich ermutige zur Selbstverantwortung, damit unsere jungen Menschen Freiheit als Gewinn und nicht als Last empfinden. Freiheit ist das Schwungrad für Dynamik und Veränderung. Wenn es uns gelingt, das zu vermitteln, haben wir den Schlüssel der Zukunft in der Hand. Ich bin überzeugt, dass die Idee der Freiheit die Kraftquelle ist, nach der wir suchen und die uns helfen wird, den Modernisierungsstau zu überwinden und unsere Wirtschaft und Gesellschaft zu dynamisieren. […]

Wir müssen jetzt an die Arbeit gehen. Ich rufe auf zu mehr Selbstverantwortung. Ich setze auf erneuerten Mut. Und ich vertraue auf unsere Gestaltungskraft. Glauben wir wieder an uns selber. Die besten Jahre liegen noch vor uns.“

Ansprache zum 40. Symposium der Ludwig-Erhard-Stiftung „Ludwig Erhards Soziale Marktwirtschaft: Erbe und Verpflichtung“, 11. Juni 1997

„Deshalb werden Systeme, die mit polyzentraler Problem- und Entscheidungsfindung arbeiten, in aller Regel besser bestehen. Ihre Fähigkeit, Probleme zu erkennen, Lösungen dafür zu suchen und zu finden und sie dann auch in die Realität umzusetzen, ist größer oder – einfacher ausgedrückt – ihre Lernfähigkeit ist größer. Der Erfolg ist zwar auch ihnen nicht sicher; denn das ist im menschlichen Leben überhaupt nichts. Aber er ist wahrscheinlicher als in jedem anderen System.

Hierin liegt die große Chance der offenen Gesellschaft. Man kann das – vorsichtig quantifizierend – auch so ausdrücken: Je mehr Personen, Einrichtungen und Unternehmen sich am Aufspüren neuer Probleme und Bedürfnisse beteiligen und je mehr sich an ihrer Lösung bzw. Befriedigung versuchen, desto größer wird auch die Wahrscheinlichkeit, daß beides wirklich erreicht wird.“

Rede auf dem Berliner Bildungsforum im Schauspielhaus am Gendarmenmarkt, 5. November 1997

„Wenn wir mehr Spitzenleistungen wollen, müssen wir Unterschiede in den Leistungen sichtbarer machen. Das beginnt schon bei den Schulen: Geben wir ihnen wieder mehr Verantwortung zurück! Was spricht etwa dagegen, sie bei der Auswahl des Kollegiums zu beteiligen? Ich habe auch nie verstanden, warum Lehrer und Professoren unbedingt Beamte sein müssen, warum die Verwaltung in das Korsett einer kameralistischen Haushaltsführung gepreßt werden muß, warum ein Schulleiter bei der Entscheidung über Sachmittel und Personal weniger Entscheidungsspielraum hat als der Sachbearbeiter in einer Schraubenfabrik.

Und warum haben wir uns bislang gescheut, unsere Schulen in einen Vergleich treten zu lassen, der den Wettbewerb fördert? In den USA ist Präsident Clinton gerade dabei, einen ‚national achievement test‘ für Schüler einzuführen, damit Eltern im ganzen Land wissen, welche Schulen gut und welche weniger gut sind. Wäre das nicht auch ein Modell für uns? Könnten dann nicht die guten Schulen das Vorbild und den Ansporn für andere geben, die eigenen Angebote zu verbessern? […]

Bei dieser Gelegenheit sollten wir nicht zuletzt auch das förderalistische Einstimmigkeitsprinzip unserer Bildungspolitik zum Gegenstand öffentlicher Diskussionen machen. Der Sinn des Föderalismus ist doch gerade, unterschiedliche Lösungen möglich zu machen. Was ist wichtiger – die ‚Einheitlichkeit der Bildungsverhältnisse‘ (was immer das sein mag) oder der Wettbewerb um den besten Weg aus der Sackgasse, in dem sich unser Bildungswesen befindet? Wäre es nicht besser, die bundesweiten Festlegungen so weit irgendmöglich zu beseitigen und stattdessen sowohl die Länder wie auch die einzelnen Bildungseinrichtungen experimentieren zu lassen? Reicht nicht eine Verständigung auf sorgfältig festzulegende Mindeststandards? Natürlich muß auch weiterhin ein Wechsel von Kiel nach Passau möglich sein. Aber vergessen wir nicht: In Zukunft wird auch ein Wechsel von Freiburg nach Straßburg oder von Bologna nach München auf der Tagesordnung stehen, und darauf sind wir wenig vorbereitet.“

Rede anlässlich der Veranstaltung „150 Jahre Revolution von 1848/49“ in der Paulskirche zu Frankfurt am Main, 18. Mai 1998

„Wo scheinbar alle Verantwortung tragen, trägt in Wirklichkeit niemand die Verantwortung. Ein undurchsichtiges Geflecht von Kompetenzen und Finanzierungen entsteht, die Erpreßbarkeit des Gesamtstaats durch in Lobbies organisierte Gruppen nimmt zu. Ergebnis: Man handelt zwar, aber man handelt wie auf einem Basar. Deswegen sage ich: Wir brauchen nicht nur eine Steuerreform mit weniger Ausnahmen und niedrigeren Tarifen; wir müssen auch im Verhältnis von Bund und Ländern zu einer Entflechtung von Aufgaben, Ausgaben und Einnahmen kommen. Finanzentscheidungen und Sachverantwortung müssen wieder zusammengeführt werden, oder, mit einfachen Worten: Wer bestellt, der soll – jedenfalls im Prinzip – auch bezahlen. […]

Föderalismus ist nicht nur die vertikale Teilung der Gewalten. Richtig praktiziert, wird er ständig eine Vielzahl von möglichen Modellen und Lösungen hervorbringen, die in einen friedlichen Wettstreit der Ideen einmünden. Der Föderalismus setzt im politischen Bereich die Kreativität einer offenen Gesellschaft frei und er schafft zugleich dort Übereinstimmung, wo diese im Interesse des Gemeinwesens nötig ist. Das Prinzip stimmt also. Was fehlt, ist eine neue Verständigung darüber, was wirklich bundesweit geregelt sein muß und was der freien Entscheidung der Länder, ihrer Phantasie und ihrem Erprobungswillen gehören soll. Manche Einheitlichkeit wird darüber verlorengehen, aber auch manche Phantasielosigkeit. Wenn die Länder mehr Spielraum zum mutigen Experiment bekommen, werden auch neue Ideen Spielraum bekommen. […]

Vor uns liegt ein neues Zeitalter:

– in dem statt der Anonymität zentralistischer Großorganisationen zivilgesellschaftliches Engagement das Gemeinwesen mittragen muß,

– das Freiräume schafft, indem der Staat seine Aufgaben auf das Wesentliche zurücknimmt und dadurch zugleich seine Handlungsfähigkeit zurückgewinnt,

– ein europäisches Zeitalter, in dem die neuen Institutionen in den Köpfen und Herzen der Bürger verankert sein müssen.“

Rede beim Festakt zum Tag der Deutschen Einheit in Hannover, 3. Oktober 1998

„Vor allem warne ich davor, zur Einheit gleich noch die Einheitsdeutschen zu fordern. Solche Standardgeschöpfe hat es in deutschen Landen – Gott sei Dank! – nie gegeben. Im Gegenteil: Seit eh und je pflegen die Stämme und Regionen ihre Besonderheiten. Diese selbstbewußte Vielfalt hat unserem Lande nie geschadet, sie hat es politisch und kulturell bereichert! Und ich füge hinzu: Unsere offene und weltoffene Gesellschaft muß solche Unterschiede auch in Zukunft aushalten können.“

Weihnachtsansprache 1998, 25. Dezember 1998

„Entscheidend für die Zukunft ist, wie wir menschlich miteinander umgehen. Ich habe gesehen, wie viele Bürgerinnen und Bürger sich für andere einsetzen, ich habe mir unzählige Aktionen, Initiativen und Projekte ansehen können. Viele haben mir darüber geschrieben. Ich habe sehen können, daß wir nicht nur eine Ellenbogengesellschaft sind, wie so oft behauptet wird. Viele sorgen dafür, daß wir auch eine Gesellschaft der gebenden Hände sind.

Aus kaum einem anderen Land kommen so viele Spenden für die Fernen und Fernsten. Kaum ein anderes Land nimmt so viel Fremde und Flüchtlinge auf wie Deutschland. Auch das stimmt mich für die Zukunft optimistisch.

Es gibt einen alten Spruch: Die ganze Dunkelheit der Welt reicht nicht aus, das Licht einer einzigen Kerze zu löschen.“

Eröffnungsansprache zum Weltwirtschaftsforum Davos „Außenpolitik im 21. Jahrhundert“, 28. Januar 1999

„Besonders am Herzen liegt mir die Intensivierung des Dialogs zwischen den Kulturen, um dem oft beschworenen Szenario eines ‚clash of civilizations‘ vorzubeugen. Wie in der Zeit der ideologischen Konfrontation zwischen Ost und West der Rüstungskontrolle kommt heute dem Dialog zwischen den Kulturen eine vertrauensbildende und damit friedenssichernde Rolle zu. Die Globalisierung, aber auch die immer neuen technischen Durchbrüche und die Verstärkerrolle der Medien haben zur Folge, daß die verschiedenen Kulturen schneller und intensiver aufeinander einwirken als jemals zuvor in der Geschichte der Welt. Darin liegen Chancen: Die Freiheit des Informationsaustausches macht es den Kulturen möglich, sich gegenseitig zu bereichern. Das hält sie lebendig und bewahrt sie vor musealer Erstarrung. Mehr Transparenz würde im übrigen auch mehr Wahrheit ermöglichen.

Ich will aber nicht verschweigen, daß das Ziel nicht eine globale Massenkultur sein kann. Diese provoziert auch Widersprüche, allerdings weniger zwischen den großen Weltkulturen, als innerhalb der Kulturen zwischen den Kräften der Moderne und den Kräften der Tradition. Unsere ‚entgrenzte‘ Welt führt nicht immer zu nützlicher Integration, sondern sie kann auch zu schmerzlichen Verlusten an Identität und Geborgenheit führen. Wir Menschen brauchen aber die gelassene Verwurzelung in Geschichte und Kultur. Aus Ressentiments und trotziger Selbstbehauptung können dagegen Intoleranz und Abweisung entstehen.“

Rede auf dem Deutschen Bildungskongress in Bonn, 13. April 1999

„Geben wir vor allem unseren Bildungsinstitutionen die Möglichkeit, ihre jeweils eigenen Wege und Lösungsmodelle zu finden und auszuprobieren. Diesem Prinzip des ‚Trial and Errors‘ müssen wir uns schon deshalb stellen, weil Schulen und Hochschulen unsere Kinder in Zukunft auf ein Leben vorbereiten müssen, das wir selbst noch gar nicht kennen, auf eine Welt, die noch erkundet und zum Teil noch erfunden werden muß, und auf eine Welt, in der Ungewißheit zum bestimmenden Merkmal geworden ist. […]

Unser Bildungssystem braucht mehr Wettbewerb und Effizienz, mehr Eigenständigkeit und Selbstverantwortung, mehr Transparenz und eine bessere Vergleichbarkeit der Bildungsinstitutionen. […]

Wettbewerb entsteht nicht durch theoretische Einsicht oder per Dekret. Er stellt sich ein, wenn den beteiligten Menschen und Institutionen Eigenständigkeit und Selbstverantwortung gegeben wird. Und wo Leistung belohnt wird, setzen sich die besten Ideen automatisch durch.“

Ansprache zur Eröffnung des Symposiums „Demokratische Legitimation in Europa in den Nationalstaaten in den Regionen“ an der Universität Freiburg, 28. April 1999

„Europäische Einigung macht deshalb eine Revitalisierung der kleinen Einheiten dringend notwendig. Die Regionen sind doch viel näher am Bürger als die fernen nationalen Zentren oder gar die supranationalen Institutionen. […] Auf subnationaler und regionaler Ebene ist in vielen Ländern, übrigens nicht nur bei Angehörigen der Europäischen Gemeinschaft, die Demokratie besser eingespielt als auf nationaler Ebene.“

Photo: Robyn Edge from Flickr (CC BY 2.0)

Von Maximilian Wirth, Ökonom, arbeitet in Washington D.C. im Bereich Handelspolitik und internationale Entwicklung.

Die Schlagzeilen im letzten Jahr waren schockierend: Terror von Berlin bis Bangkok, der Syrienkrieg, Flüchtlinge, die im Mittelmeer ertrinken, und die weiterhin ungelöste Eurokrise. Die zunehmende gesellschaftliche Polarisierung und erstarkende Populisten auf der ganzen Welt kommen somit wenig überraschend. Viele waren dementsprechend froh, 2016 endlich hinter sich zu lassen. Und dennoch: 2016 war das beste Jahr in der Menschheitsgeschichte.

Wir sind reicher als jemals zuvor. Einkommen steigen und Waren werden zunehmend erschwinglich. Anfang des 19. Jahrhunderts musste der durchschnittliche Arbeiter noch 6 Stunden arbeiten, um das Sesamöl zu kaufen, welches er für eine Stunde Leselicht benötigte. Die Kerosinlampe senkte diese Kosten bis 1880 auf 15 Minuten Arbeit pro Stunde Licht. Heute wird weniger als eine halbe Sekunde Arbeitszeit benötigt, um eine Stunde zu lesen.

Armut sinkt auf der ganzen Welt. Der Anteil der Weltbevölkerung, die von weniger als 1,90 US$ pro Tag leben muss, ist seit 1980 von 40 auf 10 Prozent gesunken. Das Ende der absoluten Armut ist somit kein Traum mehr, sondern könnte noch zu unseren Lebzeiten Wirklichkeit werden.

Dieser Fortschritt wird möglich durch Innovation: Leute erzielen höhere Einkommen, weil Maschinen ihre Arbeit unterstützen und somit die Produktivität steigern. Wir leben länger und gesünder, weil Krankheiten, die in der Vergangenheit den sicheren Tod bedeutet hätten, heute durch Impfung verhindert oder einfach geheilt werden können. Milliarden Menschen, die einmal am Rande des Verhungerns gelebt haben, konnten sich selbst aus der Armut befreien, als vor allem asiatische Länder Teil der globalen Wirtschaft wurden.

Menschen haben die beeindruckende Fähigkeit, ihr Leben durch Innovationen zu verbessern und 2016 war da keine Ausnahme. Die Verbesserungen von Prothesen durch den Gebrauch von 3D-Druckern hätte man vor wenigen Jahren noch als Science Fiction bezeichnet. Inzwischen werden diese zunehmend zum Massenprodukt. Selbstfahrende Autos könnten unsere Gesellschaft so tiefgreifend verändern wie das Fahrzeug selbst vor hundert Jahren. Von künstlicher Intelligenz über die Sharing Economy bis zu Nano-Sensoren: die Liste der technologischen Verbesserungen letztes Jahr war so lang wie begeisternd.

Technischer Fortschritt und steigende Lebensstandards sollten allerdings nicht als selbstverständlich angesehen werden. Beides entsteht nur in einer Gesellschaft mit freiem Handel und gesicherten Eigentumsrechten. Eigentumsrechte erlauben dem Erfinder, einen Teil der Gewinne zu behalten, was ihn antreibt, ständig nach Verbesserungen zu streben. Profit und Verlust sind nötig, damit er weiß ob seine Eingebungen tatsächlich so genial sind wie er dachte. Nur wenn wir mit weit mehr Leuten als unseren direkten Nachbarn handeln können, haben wir die Möglichkeit, von den Ideen von Milliarden von Menschen anstatt nur einer Handvoll zu profitieren. Nur wenn Waren und Dienstleistungen Grenzen überqueren dürfen, können Soldaten zu Hause bleiben.

Freihandel und Kapitalismus haben unsere Welt zu einem besseren Ort gemacht. Aber sie ist weiterhin alles andere als perfekt. Bei aller Freude über die Verbesserungen sollte man die weiterhin bestehenden Probleme nicht aus den Augen verlieren. Ganze demographische Gruppen haben das Gefühl, in einer Gesellschaft zu leben, in der jeder außer ihnen seinen Lebensstandard erhöht. Vor allem wenn der Eindruck entsteht, dass einem Migranten den Job wegnehmen, oder dass der Arbeitslatz ins Ausland ausgelagert wurde, wirkt Globalisierung, der Motor unserer Wirtschaft, dann schnell wie eine Attacke auf Identität und Wohlstand. Besonders ältere Generationen wollen zudem ihre Kultur bewahren in einer Welt, die einem Wandel unterworfen ist, den sie so nie gewollt geschweige denn gewählt haben. Fast jeder ist besorgt wegen der Aggressionen innerhalb der Staaten und zwischen ihnen.  Und so steigt der Unmut über das politische „Establishment“ und die „Eliten“ aus Wirtschaft und Medien, welche unfähig scheinen, die Probleme zu adressieren.

Lösungen dafür werden dringend benötigt. Nur sollten wir uns bei der Suche danach immer die Prinzipien vor Augen halten,die unsere Gesellschaft groß gemacht haben.  Problemlösung darf nicht zur Panikmache verkommen. Globale Herausforderungen erfordern mehr internationale Kooperation, nicht weniger. Mit sinkender globaler Nachfrage sollte Handel, nicht Protektionismus auf der politischen Agenda stehen. Die Welt ist kein Nullsummenspiel. Wir können alle davon profitieren, enger zusammenzuarbeiten anstatt uns zu isolieren. Nur dann können diejenigen, die im Wandel zurückbleiben, angemessen unterstützt werden. Nur dann ist eine friedvolle Koexistenz mit unseren Mitmenschen auf Dauer möglich. Wenn diese Prinzipien bedacht werden, dann kann auch 2017 das beste Jahr in der Menschheitsgeschichte werden.

Photo: LumpiLou from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Die Menschen hierzulande sind oft skeptisch, wenn neue Entwicklungen auf die etablierte Wirklichkeit treffen. Der Innovationsgeist in Deutschland konzentriert sich meist auf rein technische Fertigkeiten im Maschinenbau, in der Anlagetechnik oder in der Automobilfertigung. Digitale Innovationen finden dagegen anderswo statt – in Nordamerika oder Südostasien. Das hat viel mit der Staatsgläubigkeit der Deutschen zu tun. Sie glauben, dass Innovationen vom Staat angestoßen, reguliert und überwacht werden müssen. Die Förderung der Elektroautos, das faktische Verbot von Gentechnik oder die drohenden Kartellverfahren gegen Google und Facebook sind prominente Beispiele dafür. Viele sehen in diesem Land im Neuen erst die Gefahr anstatt die Chance für Wohlstand.

Diese Innovationsfeindlichkeit hört beim Geld nicht auf, obwohl die Cyber-Währung Bitcoin derzeit immer neue Kursrekorde erklimmt und Investoren weltweit Millionen in die weitere Anwendung der Blockchain-Technologie investieren. Von Geld zu sprechen, ist bei Bitcoin eigentlich noch zu früh. Geld ist ein allgemein akzeptiertes Zahlungsmittel. Davon ist Bitcoin noch weit entfernt. Ob es sich jemals dazu entwickelt, ist ebenfalls fraglich. Es ist eher vergleichbar mit Gold. Es ist digitales Gold, weil es nicht beliebig vermehrbar ist und keiner staatlichen Kontrolle unterliegt.

Am Mittwoch war ein Bitcoin über 1.000 Euro wert. Vor einem Jahr waren es noch 400 Euro, ein Plus von 150 Prozent. Wer vor drei Jahren bei 736 Euro eingestiegen ist, hat dennoch ein sattes Plus erlebt. Wahrscheinlich war die Anlage in Bitcoins im zurückliegenden Jahr die erfolgreichste Anlageklasse weltweit. Diese Schwankungsbreite wird oft kritisiert, ist aber für eine so fundamentale Innovation nicht ungewöhnlich. Schon rufen die ersten Mahner nach einer staatlichen Regulierung. Die Regierungen und Notenbanken sehen ihren Einfluss schwinden. Wenn in Indien das Bargeld von einem Tag auf den anderen ungültig, in China die Währung immer weniger Wert wird, in Griechenland und Zypern die Banken schließen, dann suchen Menschen Alternativen, mit denen sie ihr Vermögen, ohne eine Bank kontaktieren zu müssen, schnell von A nach B grenzüberschreitend transferieren können. Das ist mit Bitcoins innerhalb weniger Minuten möglich, ohne dass es hier Kurswechselrisiken gibt. Dieser entscheidende Vorteil wird die Bankenwelt in ihrer Substanz verändern, so wie das Auto, die Eisenbahn oder das Flugzeug im letzten Jahrtausend das Reisen verändert hat. Man kann versuchen, sich dem als Land, als Volkswirtschaft oder als Wirtschaftsraum entgegen zu stellen, den Zug der Zeit kann man dadurch aber nicht aufhalten. Bitcoin ist ein weltweit genutztes Zahlungssystem, das nicht an staatlichen Grenzen haltmacht.

Auch die zugrundeliegende Technologie der Blockchain ist davon nur schwer zu trennen. Bitcoin ist an die Blockchain gekoppelt und umgekehrt. Natürlich gibt es auch weitere Cyber-Währungen wie Ehtereum, Ripple oder Litecoin, die ebenfalls auf einem Peer-to-Peer-Verfahren beruhen, in einem öffentlichen Datenprotokoll dargestellt werden und daher auch geeignet sind, das Zahlungssystem oder die generelle Abwicklung von grenzüberschreitenden Verträgen zu revolutionieren. All diesen Cyber-Währungen ist jedoch gemein, dass sie von ganz vielen genutzt werden – und jede Transaktion dezentral von den Teilnehmern auf ihre Richtigkeit überprüft wird. Innerhalb dieser Community werden Bitcoin und andere zu einem Standard, der nicht durch eine staatliche Kontrolle ersetzt werden muss und kann. Kurz: es entsteht – wie beim staatlichen Grundbuch – ein öffentlicher Glaube, der aber nicht durch den Staat garantiert ist, sondern durch die Community.

Will Deutschland den Zug der Zeit nicht verpassen, müssen die Rahmenbedingungen für Cyberwährungen hierzulande verbessert werden. Derzeit finden Entwicklung nur selten in Deutschland statt oder werden in das Ausland verlagert. Der Grund: BaFin und Bundesbank fassen alles rund um Bitcoin nur mit Samthandschuhen an. Daher finden die Entwicklungen in Großbritannien, China oder den USA statt. Innerhalb des EU-Binnenmarktes werden die Unternehmenssitze nach Malta, Luxemburg oder Dublin verlagert. Dabei hat die deutsche Regierung viele Fragen auch sehr schnell und klar beantwortet. Bereits 2013 wurde Bitcoin als privates Geld vom Finanzminister anerkannt. Auch steuerliche Fragen wurden frühzeitig im Sinne der Anleger geklärt. So sind Veräußerungsgewinne nach einem Jahr steuerfrei. Jetzt wäre die Zeit, einen weiteren Innovationsschub in Deutschland zuzulassen. Dazu braucht es politischen Mut und Entschlossenheit.

Anmerkung: Der Autor ist stellvertretender Verwaltungsratsvorsitzender der Bitcoin Group SE.

Erstmals erschienen bei Tichys Eindruck.

Photo: Blue Mountains Local Studies from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Am Arbeitsmarkt läuft es rund: 43,4 Millionen Erwerbstätige gab es im vergangenen Jahr. So viele wie seit vielen Jahren nicht mehr. Davon waren alleine 39,1 Millionen Arbeitnehmer in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis. Die von der BA ausgewiesene Arbeitslosenzahl beträgt nur noch 2,5 Millionen Menschen – 2005 waren es noch 4,9 Millionen. Die offizielle Arbeitslosenzahl ist daher um fast 50 Prozent zurückgegangen. Daher steigen auch die Überschüsse, die die Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg vorweisen kann: Sie betragen stolze 4,9 Milliarden Euro. Die Reserven steigen damit auf 11 Milliarden Euro. Der Beitragssatz beträgt 3 Prozentpunkt und ist seit 2011 konstant auf diesem Niveau. Soweit die Fakten.

Was völlig aus dem Blick gerät, ist der Umfang, in dem hierzulande durch den Staat Arbeitsvermittlung und Qualifizierung betrieben wird. Allein im letzten veröffentlichen Geschäftsbericht 2015 der BA sind 96.300 Vollzeitstellen ausgewiesen. Das sind 700 mehr als im Vorjahr. Wahrscheinlich arbeiten weit mehr als 100.000 Menschen für die Arbeitsagentur. An ihrem Personalbestand hat sich in den letzten 20 Jahren nicht viel getan, im Zweifel ging es nur nach oben, obwohl ihre Kernaufgabe, Arbeitslose in ein Beschäftigungsverhältnis zu bringen, summarisch eine immer kleinere Rolle spielt.

Es ist eigentlich ein Grundgesetz der Bürokratie, dass einmal geschaffenen Strukturen des Staates, bei einem Wegfall oder einer Abnahme der Aufgabe, nicht aufgegeben oder angepasst werden. Bürokratie sucht sich neue Aufgaben. Ganz wie es Ralf Dahrendorf einmal formuliert hat: „Wir brauchen Bürokratie, um unsere Probleme zu lösen. Aber wenn wir sie erst haben, hindert sie uns, das zu tun, wofür wir sie brauchen.“

So ist es jetzt auch wieder. Die Arbeitsministerin Nahles schlägt nun vor, dass die örtlichen Arbeitsagenturen sogenannte Weiterbildungsagenturen aufbauen sollen, um das lebenslange Lernen kontinuierlich durch die Arbeitsagentur begleiten zu lassen. Es soll so eine Art Lebensberatung durch den Staat werden, was sich die Regierung hier vorstellt. Das passt zum Bild des Nanny State, das die Regierung auch sonst beispielsweise in Verbraucherfragen pflegt. Von der Kinderkrippe über die Schule und Hochschule und nun auch in der Arbeitswelt bis zum Pflegeheim wird der Einzelne gehegt und gepflegt.

Nahles steckt jedoch in einem Dilemma. Der Weiterbildungssektor ist fest in der Hand des Tarifkartells aus Gewerkschaften und Arbeitgebern. Will sie verstärkt in diesen Markt eindringen, gerät sie mit dem Tarifkartell aus DGB-Gewerkschaften und der BDA in Konflikt. Bisher waren sich diese im Hintergrund immer einig, wenn es darauf ankam.

Die gute Arbeitsmarktsituation müsste jetzt eigentlich zum Anlass genommen werden, die BA zu verschlanken. Der Staat und seine Regierung haben keine natürlichen Anreize, zu sparen. Denn die Einnahmen steigen meist. Eine Krise wird schon heraufbeschworen, wenn die Einnahmen mal in einem Jahr stagnieren. Jetzt sprudeln sie und keiner denkt an das Sparen. Doch in vermeintlich guten Zeiten muss die Grundlage gelegt werden für schwierige Jahre. Auch diese werden auf dem Arbeitsmarkt wiederkommen. Dann braucht es eine schlanke Arbeitsagentur, und die Möglichkeit, dass  Aufgaben, die Dritte gleich gut oder besser machen können, von diesen erledigt werden. Das erfordert, dass der Personalbestand ab- und nicht weiter aufgebaut wird – im Zweifel mit dem Rasenmäher.