Photo: ActuaLitté from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Heute wird die „Internationale Grüne Woche“ in Berlin eröffnet. Greenpeace hat vor einigen Tagen schon den Aufschlag gemacht und ein „Kursbuch Agrarwende 2050“ vorgeschlagen. Darin fordern sie nichts anderes als die postume Umsetzung des Morgenthau-Plans vom August 1944. Damals wollte der amerikanische Finanzminister Henry Morgenthaus Deutschland nach Kriegsende zu einem Agrarstaat machen.

In einer „großen Ernährungswende“ setzten sie auf eine Umwandlung Deutschlands zum autarken Agrarstaat bis 2050. Voraussetzung dafür sei, dass sich 30 Prozent der Bevölkerung vegetarisch oder vegan, 45 Prozent flexitarisch und 25 Prozent fleischbetont, ernähren würden. Heute ernähren sich wenige Prozent der Bevölkerung vegan oder vegetarisch. Umsetzen wollen es die „Aktivisten“ durch die „konsequente Nutzung und Umsetzung des bestehenden und einzuführenden Ordnungsrechts.“ Solche Planungshorizonte hat sich nicht mal die untergegangene Sowjetunion getraut. Damals hatte man schon große Mühe, den Fünfjahresplan einzuhalten. Doch wenn erst einmal ein neu einzuführendes Ordnungsrechts kommt, gelingt dies vielleicht dennoch. Auch in Goerge Orwells „1984“ schaffte das die Innere Partei. Sie führte als Neusprech den „Doppeldenk“ ein. Die Bürger wurden so lange manipuliert, bis sie Lügen für Wahrheit hielten. Wenn dann die Schokoladenration in Ozeanien auf 25 Gramm „heraufgesetzt“ wurde, obwohl sie eigentlich herabgesetzt wurde, wurden alle Dokumente der Vergangenheit, die das Gegenteil beweisen konnten, vernichtet oder umgeschrieben.

Was ist falsch am Vorschlag einer „großen Ernährungswende“? Es ist ihr konstruktivistischer Ansatz. Er basiert auf der Fiktion, dass alle relevanten Tatsachen irgendeinem einzelnen Geist bekannt seien und dass es möglich sei, aus diesem Wissen die Einzelheiten einer erstrebenswerten Gesellschaftsordnung abzuleiten. Ob durch den Umbau der Landwirtschaft in Deutschland das Klima der Welt gerettet werden kann, darf berechtigt bezweifelt werden. In Deutschland werden lediglich 2 Prozent des weltweiten CO²-Ausstoßes emittiert. Glaubt man an den menschgemachten Klimawandel, dann ist es fast irrelevant, wie stark in Deutschland die CO²-Emissionen reduziert werden. Länder wie China, USA oder Russland sind hier entscheidend. Ob die „biologische Vielfalt“ nicht einfacher durch andere Maßnahmen erreicht werden kann, bleibt ebenfalls offen.

Und ob es besser ist, wenn die Futtermittel zu 100 Prozent aus heimischem Anbau stammen, ist ebenfalls fraglich. Die Verfechter der „großen Ernährungswende“ unterliegen einer Planungsillusion, die bestenfalls naiv ist, denn wir leben nicht auf einer einsamen Insel, sondern mitten in Europa. Die Ernährung vieler Menschen, der Anbau, die Produktion und der Verkauf von Nahrungsmitteln ist derart komplex, dass dies niemals zentral von einem großen Ernährungsplaner im Rahmen einer „großen Ernährungswende“ vorgedacht werden kann. Greenpeace und andere blenden viel zu viele Daten und Einflussfaktoren einfach aus, die sie nicht kennen, oder nicht kennen wollen, um das Modell so anschaulich und so leicht verständlich zu machen. Damit beginnt der Orwellsche Doppeldenk.

Was Greenpeace aber erreicht, ist, dass die Politik darauf reagiert. Nicht in einem großen Plan, sondern in kleinen Schritten. Ernährungsminister Christian Schmidt ist so einer. Er will jetzt ein Label „Tierwohl“ einführen. Was für die Tiere gut ist, entscheidet hier die Politik, nicht der Konsument. Dieser wird an die Hand genommen, weil er über Jahre zu einem unwissenden „Fleischfresser“ degeneriert ist. Er muss sich von jetzt an um nichts mehr kümmern, sondern andere übernehmen für ihn die Arbeit. Ein anderer Fall ist die Kennzeichnungsorgie der Politik. Schmidt schlägt aktuell vor, dass der Gesetzgeber die Kennzeichnung dessen, was Fleisch oder Wurst ist, regeln muss. Vegetarische Wurst oder Schnitzel, darf nicht Wurst oder Schnitzel heißen, sondern „vegetarische Brotauflage“ oder „panierte Bratlinge“.  Muss das die Politik regeln, ist das ein ernsthaftes Problem? Muss nicht der Konsument durch seine Kaufentscheidungen die Hersteller dazu bringen, Vertrauen beim Kunden zu schaffen?

Es ist nicht Aufgabe des Gesetzgebers, 30-Jahrespläne aufzustellen oder Bürger zu informieren, wie ein Tier vor seiner Schlachtung gelebt hat. Natürlich braucht es in einer Gesellschaft auch Regeln. Diese gibt es in jeder Gesellschaft. Es sind Verhaltensregeln, die darin bestehen, dass sie im Handeln befolgt werden, ohne dass sie dem handelnden in schriftlicher oder artikulierter Form bekannt sind. Solche Regeln kommen deshalb in einer Gesellschaft zur Geltung, weil sie die Gruppe in der sie eingehalten werden, faktisch stärker machen. Dadurch finden diese Regeln eine allgemeine Anerkennung. Diese Regeln verändern sich von Zeit zu Zeit, weil sich der kulturelle Hintergrund in einer offenen Gesellschaft verändert. Menschen essen mal mehr und mal weniger Fleisch, trinken mal mehr oder weniger Alkohol. Eine offene Gesellschaft lässt dies zu. Inzwischen achten immer mehr Menschen auf artgerechte Haltung und ressourcenschonende Ernährung. Aber sie tun es aus freien Stücken, und nicht wegen eines neuen „Ordnungsrechts“ oder der Verordnung eines Ministers. So funktionieren offene Gesellschaften. Nur in einer Gesellschaft orwellscher Prägung hat der Doppeldenk eine Chance.

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Von Prof. Dr. Frank Daumann, Professor für Sportökonomie und Gesundheitsökonomie an der Universität Jena.

„ARD und ZDF werden nicht von den Olympischen Spielen 2018 bis 2024 berichten. Das US-Unternehmen Discovery und die öffentlich-rechtlichen Sender konnten sich nicht auf den Verkauf von Sub-Lizenzen einigen…“ (Bericht der Tagesschau am 28.11.2016).

Aus Sicht der sportinteressierten Gebührenzahler ist das natürlich eine eher schlechte Nachricht, da sie nun eventuell, um in den Genuss einer Live-Übertragung interessanter Wettkämpfe der Olympischen Spiele zu kommen, zusätzliche Aufwendungen auf sich nehmen müssen. Den Rundfunkbeitrag müssen sie ja trotzdem entrichten.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach der Rechtfertigung der Existenz des öffentlich-rechtlichen Rundfunks.

Bevor wir dieser Frage nachgehen, wollen wir uns kurz die Struktur des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Deutschland anschauen: In Deutschland existieren neun Landesrundfunkanstalten (BR, HR, MDR, NDR, Radio Bremen, RBB, SR, SWR und WDR), die für einzelne oder mehrere Bundesländer Hörfunk und Fernsehen anbieten. Daneben offerieren das ZDF und das Deutschlandradio Programme für die gesamte Republik. Die Landesrundfunkanstalten sind in der ARD („Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland“) zusammengeschlossen. Die ARD wiederum bietet ebenfalls deutschlandweite Programme wie etwa „Das Erste“ an.

Finanziert wird der öffentlich-rechtliche Rundfunk durch den Rundfunkbeitrag und durch Werbeeinnahmen („duale Finanzierung“), wobei sich das Gesamtbudget auf etwa 9 Mrd. Euro pro Jahr beläuft. Den Rundfunkbeitrag müssen zum einen natürliche Personen (hier ist er an den Haushalt geknüpft) und zum anderen Unternehmen und Institutionen sowie Einrichtungen des Gemeinwohls zahlen (hier ist er im wesentlichen an die Anzahl der Beschäftigten geknüpft). Der Beitrag ist unabhängig davon zu zahlen, ob der Beitragspflichtige selbst Empfangsgeräte vorhält oder ob er tatsächlich das Programmangebot der öffentlich-rechtlichen Sender nutzt. Die Festlegung des Beitrags erfolgt durch Staatsvertrag der Bundesländer, wobei hier idR. den Empfehlungen der Kommission zur Überprüfung und Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten (KEF) – eines unabhängige Sachverständigengremiums – gefolgt wird.

Um die Frage nach der Notwendigkeit der Existenz des öffentlichen-rechtlichen Rundfunks aus ökonomischer Sicht zu prüfen, wird regelmäßig die Marktversagenstheorie ins Feld geführt: Existiert in diesem Bereich ein Marktversagenstatbestand, der eine staatliche Intervention rechtfertigt? Im wesentlichen wäre demzufolge zu untersuchen, ob ein öffentliches Gut oder ein natürliches Monopol vorliegen.

Ein öffentliches Gut zeichnet sich dadurch aus, dass Nutzer nicht von der Nutzung ausgeschlossen werden können und bei der Nutzung keine Rivalitäten auftreten. Tatsache ist, dass durch entsprechende Verschlüsselungstechniken, wie sie etwa von Pay-TV-Sendern angewandt werden, Nutzer problemlos ausgeschlossen werden können. Nicht-Rivalität besteht jedoch weitgehend – zumindest solange bei der Nutzung der Verbindungswege keine Überfüllungsexternalitäten auftreten (durch zu viele Nutzer werden die Übertragungszeiten länger). Insgesamt liegt demnach hier kein öffentliches Gut vor.

Das Vorliegen eines natürlichen Monopols hätte insofern Auswirkungen, da es im unregulierten Falle nicht nur zu einer monopolistischen Ausbeutung etwa in dem Sinne käme, dass die Preise auf Monopolpreise angehoben würden, sondern es würde auch Konsequenzen dergestalt zeitigen, dass sich mit dem einzigen Anbieter zugleich ein Informationsmonopol mit erheblichen negativen Folgen für den politischen Entscheidungsprozeß etablieren würde. Beim natürlichen Monopol setzt sich aufgrund der Kostenstruktur (steigende Skaleneffekte) und der Nachfragesituation nur ein einziger Anbieter durch. Sicherlich lassen sich in diesem Bereich erhebliche Skaleneffekte nachweisen, aber offenbar sind die Angebote unter qualitativen Gesichtspunkten so heterogen, dass auch Anbieter mit ungünstigeren Kostenstrukturen erfolgreich am Markt agieren können, da sie höhere Preise erzielen können, wie sich eindrucksvoll auf vielen ausländischen Märkten zeigt. Auch in der Bundesrepublik Deutschland sind wir weit davon entfernt, dass bei einem freien Wettbewerb etwa die öffentlich-rechtlichen Sender die privaten aus dem Markt drängen würden. Die realen Marktgegebenheiten sprechen also eindeutig gegen die Existenz eines natürlichen Monopols. Zudem wäre das damit verbundene Argument des fehlenden Außenpluralismus nicht zutreffend, da es unzählige Möglichkeiten gibt, an entsprechende Informationen zu kommen; Meinungsvielfalt wäre selbst dann gewährleistet, wenn bspw. im linearen Fernsehen sich ein natürliches Monopol durchsetzen würde. Insofern fällt auch dieses Argument als Rechtfertigung weg.

Neben der Marktversagenstheorie, deren Tatbestände hier nicht vorliegen, werden zwei weitere Argumentationslinien für die Begründung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ins Feld geführt:

1. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk würde als einziger entsprechende Qualitätsstandards auf diesem Markt gewährleisten. Die Beseitigung desselben würde demzufolge zu einem Absinken der Qualität führen.

2. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk stellt sicher, dass bestimmte qualitativ hochwertige Sendungen produziert und gezeigt würden, was ansonsten mangels Nachfrage nicht geschähe.

Beide Aspekte gehen von einem paternalistischen Menschenbild aus: das Individuum hat „falsche“ Präferenzen, die es veranlassen, Sendungen minderer Qualität zu bevorzugen und sich von Sendungen höchster und hoher Qualität abzuwenden. Teilt man ein derartiges Menschenbild, dann ist die Bevormundung des Konsumenten folgerichtig. Geht man jedoch von selbstbestimmten und mündigen Individuen aus, dann sind diese beiden Argumente zurückzuweisen. Wenn der Konsument Sendungen mit hoher Qualität (hier stellt sich freilich gleich die Frage, was ist „hohe Qualität“? Muss Qualität nicht zwangsläufig kundenorientiert sein?) möchte, dann wird er diese nachfragen. So zeigt der amerikanische TV-Markt eindrucksvoll, dass Anbieter mit qualitativ hochwertigen Produktionen ohne Probleme am Markt existieren können.

Es gibt also in einer Marktwirtschaft, die von dem Menschenbild des mündigen Bürgers ausgeht, keine Rechtfertigung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks.

Lässt man einmal die rechtlichen Rahmenbedingungen, also die Gesetzeslage und die höchstrichterliche Rechtsprechung außen vor, die eine Absicherung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks garantieren, so wäre es einer Überlegung wert, die Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks von einem Rundfunkbeitrag auf ein klassisches Nutzerentgelt umzustellen, wie dies etwa bei Sky Deutschland der Fall ist. Damit würde der öffentlich-rechtlichen Rundfunk in einem Wettbewerb ohne Rettungsanker mit den privaten Anbietern eintreten, der sowohl Anreize zur Innovation als auch entsprechende Sanktionen etwa in Form des erzwungenen Marktaustritts bereithält.

Erstmals erschienen bei Wirtschaftliche Freiheit.

Photo: Wikimedia Commons

Eigentlich ist es eine stolze Bilanz, die Finanzminister Wolfgang Schäuble zum Ende dieser Legislaturperiode präsentieren kann. Seit drei Jahren „erwirtschaftet“ der Staat „Überschüsse“. Im vergangenen Jahr waren es 19,2 Milliarden Euro. Im Bundeshaushalt sind es allein 6,2 Milliarden Euro. Das Erwirtschaften von Überschüssen ist eigentlich eine Verballhornung des Bürgers. Sie beruht letztlich auf dem Verzicht der Bürger. Denn jede Ausgabe des Staates basiert darauf, dass die Bürger sie bezahlt haben. Deshalb bleibt spannend, worauf die Koalitionäre aus Union und SPD sich verständigen, was damit geschehen soll.

Schäuble will die Gelder zur Schuldentilgung nutzen. Die Kanzlerin ließ über ihren Regierungssprecher schnell erklären, dass sie diesen Vorschlag unterstütze und sie brachte ein klassisches Argument mit. Wenn die Konjunktur schwach sei, müsse der Staat mit schuldenfinanzierten Investitionsprogrammen die Wirtschaft ankurbeln. Wenn diese wieder läuft, dann würde der Staat Überschüsse erzielen, die zur Schuldenreduzierung genutzt werden müssten. Genau das sei jetzt diese Situation. Nun läuft es wieder, und daher müssten die Schulden zurückgeführt werden. Diese Konjunkturtheorie aus dem letzten Jahrhundert, die insbesondere in den 1970er-Jahren unter dem sozialdemokratischen Kanzler Helmut Schmidt besonders beliebt war, fußt auf den Lehren von John Maynard Keynes. Aus diesem Grund ist die Begründung des Kanzlersprechers etwas vergiftet.

Denn unter sozialdemokratischer Kanzlerschaft hat es damals nicht funktioniert. Was an schuldenfinanzierten Konjunkturprogrammen aufgelegt wurde, war nur ein Strohfeuer und führte Ende der 1970er-Jahre dazu, dass sich die Staatsverschuldung innerhalb von zehn Jahren verdreieinhalbfacht hatte und die Arbeitslosigkeit dennoch auf einen damaligen Höchstwert stieg. Dennoch übt das „deficit spending“ immer noch eine Faszination auf die Sozialdemokratie aus.

SPD-Chef Gabriel passt das jedoch aktuell nicht in den Kram. Er will mit Geldausgeben punkten. Er hat daher sofort vorgeschlagen, die Mittel für die Schulsanierung zu nutzen. Sein Argument ist, dass es in Zeiten faktischen Nullzinses für den Bund keinen Sinn machen würde, Schulden zu tilgen. Schon heute zahlt der Bund über 22 Milliarden Euro weniger Zinsen pro Jahr als zum Höhepunkt der Finanzkrise 2008. Hält das Niedrigzinsumfeld in Europa an, wovon auszugehen ist, dann schmilzt die Zinsbelastung des Staates weiter. Was ist nun sinnvoll in dieser für jeden Finanzminister komfortablen Situation?

Erstens: Ein Staat der immer mehr Geld hat, findet auch immer neue Ausgabenmöglichkeiten. Er wird immer größer und fetter. Im vergangenen Jahr sind seine Ausgaben um 4,2 Prozent gewachsen, die Wirtschaftsleistung lediglich um 1,9 Prozent. Dieses Verhältnis muss umgedreht werden. Die Staatsausgaben müssen künftig wieder langsamer wachsen als die Wirtschaftsleistung.

Zweitens: Schuldentilgung ist gut. Deutschlands Staatsschuldenquote liegt bei rund 70 Prozent der Wirtschaftsleistung und hat nach wie vor ein historisch sehr hohes Niveau. Dieses abzubauen, ist richtig und notwendig.

Drittens: Investitionen anzuregen, ist ebenfalls notwendig. Sie müssen aber nicht zwingend staatlicherseits erfolgen. Privates Investitionskapital sucht Anlagemöglichkeiten in Deutschland. Es für Infrastrukturmaßnahmen wie den Ausbau von Straßen, Schulen, Schienen und Breitbandnetz stärker zu öffnen, ist daher nicht eine Frage des Staatshaushaltes, sondern der Rahmenbedingungen für private Investoren.

Viertens: Über die Entlastung der Bürger wird von den Berliner Koalitionspartnern nicht gesprochen. Sie werden auf den Sankt-Nimmerleins-Tag vertröstet. Dabei steigt die Steuerquote immer weiter an. Sie erreicht in diesem Jahr fast 23 Prozent, den höchsten Wert seit der Deutschen Einheit. Das Geld muss an die Bürger zurück. Der Solidaritätszuschlag stünde dazu bereit, endlich abgeschafft zu werden. Noch nie war es so einfach wie heute.

Photo: Fraktion DIE LINKE. im Bundestag from Flickr (CC BY 2.0)

Nicht erst seit den Wirtschaftssanktionen gegen Russland, die im Zuge der Krim-Annexion durch den Westen verhängt wurden, ist das Thema Protektionismus, Abschottung oder gar Handelskriege wieder aktuell. Die Sanktionen waren schon damals falsch, weil sie Putin eine billige Entschuldigung für die desolate ökonomische Lage in Russland geboten und ihn damit eher gestärkt haben. Außerdem wurde die Landwirtschaft in Deutschland und der EU vom wichtigen Russland-Markt abgeschnitten. Der Tiefstpreis für Milch in Deutschland ist zum großen Teil dieser Maßnahme geschuldet. Die Landwirte hierzulande mussten das bezahlen.

Die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten leitet jedoch eine völlig neue Stufe ein. Schon vor seiner Vereidigung am 20. Januar hat Trump per Twitter Toyota aufgefordert, das geplante Werk für die Produktion des Corolla nicht in Mexico, sondern in den USA zu bauen. Andernfalls drohte er den Japanern mit Strafzöllen. Gleiches hat er Fiat-Chrysler, Ford und General Motors ins Stammbuch geschrieben. Die klare Botschaft an alle in der Welt: nur wer in den USA produziert, geht ungeschoren davon. Wer „nur“ seine Waren in Amerika verkaufen will und anderswo „billig“ produziert, muss mit Strafzöllen rechnen. Was heute Toyota ist, kann morgen sehr schnell BWM, Siemens oder SAP sein.

Diese Wirtschaftspolitik bringt eine neue Qualität in die Handelsbeziehungen weltweit, die zugleich auch alt ist und in Realität und Theorie hundertfach widerlegt wurde. Im 16. bis zum 18. Jahrhundert nannte man diese Wirtschaftsform Merkantilismus. Die „eigene“ Wirtschaft sollte gegenüber der ausländischen Wirtschaft bevorteilt werden, um den Reichtum des Staates insgesamt zu mehren. Wirtschaft verstand man als Nullsummenspiel. Erst als die Idee des Freihandels langsam im 19. Jahrhundert Fuß fasste, begann eine Zeit des großen weltweiten Aufschwungs. Plötzlich sah man, dass die Wirtschaft kein Nullsummenspiel des einen zulasten des anderen ist, sondern eine win-win-Situation. Beide profitierten.

Sie profitierten nicht immer gleichzeitig und in gleichem Maße, aber beide profitieren. Der eine kann die Waren preiswerter kaufen als sonst und der andere findet neue Absatzmärkte, die er vorher nicht hatte und umgekehrt. Die Erfolge in der Bekämpfung der Armut in China und Südostasien in jüngster Zeit hätte es ohne den Freihandel nicht gegeben. Ohne den Freihandel hätte es den Aufstieg der osteuropäischen Länder nach dem Zusammenbruch des Kommunismus nicht geben. Und ohne Freihandel wären deutsche Unternehmen auf einen kleinen Markt mit 82 Millionen Menschen beschränkt. Ein Blick auf Venezuela kann verdeutlichen, wohin das führt. Millionen, wahrscheinlich Milliarden Menschen weltweit wurden und werden so aus bitterster Armut befreit.

Schon sind die Linken in diesem Land bemüht, ihre Fremdscham für ihren neuen Verbündeten schönzureden. Deren schlagkräftigste Truppe, „Campact“, ist schon peinlich berührt, dass sie jetzt im selben Boot sitzt wie Donald Trump. Nicht sie haben mit ihren Unterschriften und Protesten TTIP und CETA verhindert, sondern die Wahl von Trump verändert nun alles. Auf dem falschen Fuß erwischt, versuchen sie jetzt, kosmetische Unterschiede herauszuarbeiten. Sie seien, anders als Trump, für einen „fairen“ Handel. Dabei ist doch exakt das auch das Argument des neuen US-Präsidenten. Er glaubt, dass Unternehmen in China, Japan und anderswo ihre billigen Produkte lediglich durch eine manipulierte Währung auf den großen US-Markt werfen können. Das sei „unfair“, beklagte Trump bereits im Wahlkampf. Nein, Trump und „Campact“ sitzen im selben Boot.

Und nicht nur das. Auch in Deutschland ist es so, dass die Verbündeten beim Kampf gegen den Freihandel von links und rechts kommen. Sowohl Campact als auch Pegida lehnen TTIP und andere Freihandelsabkommen ab. 2015 traten stramme Pegida-Anhänger auf einer DGB-Demo vor dem Brandenburger Tor mit einem Galgen und einer Guillotine auf, an dem Sigmar Gabriel aufgehängt werden oder einen Kopf kürzer gemacht werden sollte. Abschottung führt zu Ressentiments und letztlich zu Hass. Auch bei den Parteien sitzen linke Parteien mit rechten im Boot. Es ist die gleiche Sauce. Morgens essen sie noch ihre Cornflakes zum Frühstück, mobilisieren anschließend über ihr I-Phone oder I-Pad die nächste Demo gegen den Freihandel und abends schlürfen sie dann den guten Rotwein aus Übersee.

Das erste Freihandelsabkommen wurde 1860 auf Anregung von Richard Cobden zwischen England und Frankreich formuliert. Es schaffte nicht alle Zölle und Handelsbeschränkungen auf einen Schlag ab, sondern reduzierte diese sukzessive. In dieser Tradition hat Ludwig Erhard 1959 das erste Freihandelsabkommen unterzeichnet – damals mit Pakistan. Er war wohl zu optimistisch, als er in seinem Buch „Wohlstand für alle“ formulierte: „Ich glaube, dass es der Denkkategorie einer hoffentlich überwundenen Vergangenheit angehört, die Handelspolitik als eine Dienerin der Außenpolitik oder gar als ein Instrument staatlicher Machtpolitik aufzufassen.“

Erstmals erschienen bei Tichys Einblick.

Photo: Roman Herzog Institut

Im Anschluss an diesen Artikel finden Sie noch etwas ausführlichere Zitate aus Reden Roman Herzogs, die mit den hier behandelten Themen zusammenhängen.

In der Geschichte der Bundesrepublik ragen zwei Persönlichkeiten hervor, die sich mit besonderer Integrität und Standhaftigkeit für die Freiheit und Selbstverantwortung der Bürger eingesetzt haben: der eine war Ludwig Erhard und der andere der in dieser Woche verstorbene Roman Herzog.

Immun gegen die Verlockungen der Macht

1993: Helmut Kohl schielt nach der vierten Amtszeit, das Land ist wiedervereinigt, läuft aber auf Stagnation und hohe Arbeitslosigkeit zu. Die Bundespräsidentenwahl steht im kommenden Jahr an und für die SPD will endlich Johannes Rau an seinen Traumjob kommen. Die CDU hingegen befindet sich im Kreuzfeuer der Kritik: Sie hat mit Steffen Heitmann zwar einen Kandidaten aus den neuen Bundesländern. Aber Heitmann ist ein profilierter Konservativer, der sich auch im Umfeld der damals gerade aufkommenden „Neuen Rechten“ bewegt. Er muss schließlich seine Kandidatur zurückziehen und Kohl entscheidet sich für den damaligen Präsidenten des Verfassungsgerichts als Kompromisskandidaten. Ähnlich wie einst Erhard von Adenauer nur mit Zähneknirschen akzeptiert wurde, wird auch Herzog nur mit wenig Begeisterung seitens des Kanzlers ins Amt gebracht.

Doch solche Männer und Frauen, die von den Mächtigen nicht gewünscht und gewiss nicht geliebt wurden, waren oft die wichtigsten Persönlichkeiten ihrer Ära. Denn in diesen seltenen Fällen, wo Menschen an Macht kamen, die sie nicht angestrebt hatten, zeigten sie oft eine erhebliche Immunität gegenüber deren Verlockungen. Sie waren und blieben Überzeugungstäter. Und so war die Wahl Herzogs zum Bundespräsidenten denn auch eine der wichtigsten Entscheidungen nach der Wiedervereinigung. Die meisten politischen Richtungsentscheidungen, die Deutschland und Europa in den letzten zwei Jahrzehnten positiv vorangebracht haben (oder voranbringen könnten), wurden von Herzog vorbereitet und inspiriert.

Der selbstverantwortliche Bürger

Auch nach seiner Amtszeit hat er noch nachhaltig Einfluss ausgeübt. Die Grundforderungen seiner Ruck-Rede arbeitete er 2003 im Rahmen der sogenannten Herzog-Kommission für seine Partei zu programmatischen Grundsätzen aus. Diese Forderungen bildeten die Grundlage für die Beschlüsse des Leipziger Parteitags, in dem die CDU ein Reformprogramm beschloss, das eine unerhörte Rosskur für den Wohlfahrtsstaat bedeutet hätte und noch weit über die späteren Agenda-Reformen Schröders hinausging. Herzogs unermüdliche mahnende Hinweise auf den Reformstau waren ein wichtiger Meilenstein hin zu den wegweisenden Entscheidungen der Regierung Schröder.

Drei Themen haben seine Amtszeit als Bundespräsident wesentlich bestimmt – drei Themen, die geradezu visionär jene Herausforderungen adressiert haben, vor die wir uns heute mehr denn je gestellt sehen: eine zeitgemäße Bildung, die Zukunft der Europäischen Union und insbesondere die grundlegenden Reformen, die sowohl in den Institutionen unseres Landes als auch in den Köpfen seiner Bürger dringend notwendig sind. Herzog hat niemals politisiert, war aber alles andere als unpolitisch. Er war meinungsstark, aber gerade deshalb am Dialog interessiert. Er provozierte nicht, weil er daran Spaß gehabt hätte, sondern, weil er es als seine Verantwortung begriff, auf Probleme hinzuweisen. Er war kein Grüß-August und hielt keine Sonntagsreden, weil er sich den Bürgern nicht überlegen wähnte, sondern überzeugt war, dass sie sich selber eine Meinung bilden und Entscheidungen treffen können.

Wider den Zentralismus

Kaum etwas hat einen so nachhaltigen Einfluss auf die Gesellschaft und das Selbstverständnis der Staatsbürger wie das Bildungssystem. Ein Einheitssystem unter politischer Steuerung kann die freie Bürgergesellschaft langfristig unterminieren. Und so plädierte Herzog in zahlreichen Reden und Aufsätzen immer wieder für ein wettbewerblich organisiertes System, in dem Schulen und Hochschulen weitgehende Autonomie besitzen. Warum, so der Präsident, hat „ein Schulleiter bei der Entscheidung über Sachmittel und Personal weniger Entscheidungsspielraum … als ein Sachbearbeiter in einer Schraubenfabrik?“ Leider hat die Politik in Ländern und Bund diese klugen Ratschläge ignoriert und mit Neuausrichtungen im Zwei-Jahres-Rhythmus nicht Wettbewerb, sondern zentral gesteuertes Chaos produziert.

Herzogs Vision von Europa war eines, das „mit polyzentraler Problem- und Entscheidungsfindung“ arbeitet: „Europäische Einigung macht … eine Revitalisierung der kleinen Einheit dringend notwendig. Die Regionen sind doch viel näher am Bürger als die fernen Zentren oder gar die supranationalen Einheiten.“ Und: „ihre Lernfähigkeit ist größer.“ Wie für viele seiner Generationsgenossen war auch für ihn Europa ein Herzensanliegen. Das verstellte ihm aber keineswegs den Blick für die Probleme, die schon vor zwanzig Jahren sehr offen zutage lagen. Vor allem aber versprach er sich nichts von „mehr Europa“. Er suchte nach dem besten Europa – und das lag seiner Überzeugung nach darin, dass es ein immer höheres Maß an „mehr Bürger“ ermöglicht.

Die Würde des Menschen liegt in seiner Selbstverantwortung

Das Wort vom „Ruck“ ist gerade auch in den letzten Tagen oft zitiert worden. Diese Aufforderung war aber mitnichten nur ein technischer Hinweis. Dahinter steht ein Menschenbild: Die Überzeugung, dass Angst ein schlechter Ratgeber ist und Bequemlichkeit eine schlechte Verhaltensmaxime. „Wir haben den Staat … jahrzehntelang unermüdlich an den Gitterstäben eines goldenen Käfigs bauen lassen.“ Aus diesem Käfig wollte er seine Mitbürger herausführen – hin zur Selbständigkeit. Nicht nur die materiellen Verhältnisse sollten wieder besser werden. Bei der 150-Jahr-Feier der Revolution von 1848 sagte er: „Vor uns liegt ein neues Zeitalter: In dem statt der Anonymität zentralistischer Großorganisationen zivilgesellschaftliches Engagement das Gemeinwesen mittragen muß. Das Freiräume schafft, indem der Staat seine Aufgaben auf das Wesentliche zurücknimmt und dadurch zugleich seine Handlungsfähigkeit zurückgewinnt.“

Als Roman Herzog vor einem Jahr den Ehrenpreis der Hayek-Stiftung in Freiburg erhielt, sagte Joachim Gauck in seiner Laudatio: „Sie haben immer Klartext geredet: die Idee der Freiheit, sie sei keine Garantie der Freiheit. Aber es ist eine eminent menschenfreundliche Idee, weil sie mit den gewaltigen Potenzialen rechnet, die in jedem Menschen – offenkundig oder verborgen – stecken, eine Idee, die ihm die Fähigkeit und Würde zuspricht, zum Herrn und Meister seines eigenen Schicksals zu werden.“ Dass die Würde des Menschen zuvorderst in seiner Befähigung liegt, für sein eigenes Leben Verantwortung zu übernehmen, war die zentrale Botschaft von Roman Herzog. Sie sollte dieses Land, seine politischen Verantwortlichen und vor allem seine Bürger auch in Zukunft begleiten, ermuntern und ermutigen.


Auszüge aus Reden von Bundespräsident Roman Herzog

Weihnachtsansprache 1995, 25. Dezember 1995

„Dem Frieden und der Mitmenschlichkeit wäre auch sehr gedient, wenn wir mit unserer Sprache sorgfältiger und menschlicher umgingen, als wir es gelegentlich tun. Wie leicht fällt es uns beispielsweise, andere kurzerhand als Lügner und Betrüger, als Verbrecher oder Mörder zu bezeichnen, nur weil wir die Lust zum Verletzen oder zumindest zum Übertreiben verspüren?“

Ansprache auf der Jahresversammlung der Arbeitsgemeinschaft Selbständiger Unternehmer e.V., 5. März 1997

„Wenn Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit verlorengehen – sei es durch den Staat, seine Bürokratie oder seine Gesetze, sei es, weil die Bürger aus Bequemlichkeit oder Unlust ihre Freiheit nicht mehr nutzen und gar nicht mehr nutzen wollen und immer mehr Menschen die ‚Sehnsucht nach Betreuung‘ überkommt: Dann sind nicht nur die Existenzbedingungen selbständiger Unternehmer in Deutschland gefährdet. Dann sind unsere marktwirtschaftliche Ordnung und unsere freiheitliche Gesellschaft insgesamt bedroht.

Diese Art der Unfreiheit kommt in den modernen Demokratien nicht mehr mit dem Polizeiknüppel. Der ist zum Glück gebändigt. Unfreiheit kann auch auf leisen Sohlen daherkommen, wie ein schleichendes Gift, das wir ohne das rechte Gefahrenbewußtsein freiwillig konsumieren, dessen Verschreibung manche sogar ausdrücklich fordern. Weil es so bequem ist, ist es besonders gefährlich.

Wir sind nicht nur hier in Deutschland, sondern auch in den meisten anderen europäischen Staaten mit zwei einander scheinbar widersprechenden Entwicklungen konfrontiert:

Noch nie haben so viele Menschen auf so engem Raum mit so großen individuellen Freiheitsräumen und in so beachtlichem Wohlstand zusammengelebt wie in den offenen, marktwirtschaftlich verfaßten Demokratien unserer Zeit.

Noch nie waren wir aber auch – und zwar freiwillig! – derart komplexen Regularien und Vorsorgemaßnahmen für immer neue, weitere Lebensbereiche unterworfen. Sie alle haben wir im demokratischen Verfahren selbst geschaffen, und zwar mit dem vermeintlichen Ziel, unsere Freiheitsräume gegen jedwedes Risiko abzusichern. In Wirklichkeit haben wir aber den Staat – mit unserem Mandat – jahrzehntelang unermüdlich an den Gitterstäben eines goldenen Käfigs bauen lassen. Darin büßen die Menschen in scheinbarem Wohlbefinden zunehmend ihre Freiheit ein und zugleich ihre Fähigkeit und Bereitschaft, die eigenen Kräfte zu mobilisieren.

Trotz aller guten Absichten ist damit oft das Gegenteil von dem erreicht worden, was wir angestrebt haben: Die Verantwortung des Staates ist weithin an die Stelle der Verantwortung des einzelnen Bürgers für sich und seinen Nächsten getreten. Diese Mentalität ist übrigens – entgegen allen anderslautenden Gerüchten – kein Spezifikum der Empfänger von sozialen Zuwendungen. Man findet sie im Subventionsbereich ebenso wie bei der zähen Verteidigung wettbewerbsbeschränkender Refugien, die es vielerorts ja auch noch gibt.

Ein Modell, das an die Stelle persönlicher Verantwortung des Einzelnen die umfassende Zuständigkeit staatlicher Einrichtungen für sämtliche denkbaren Wechselfälle des Lebens und für nahezu alle Bürger setzt, überfordert aber den Staat und nicht nur seine Finanzen. Es gefährdet damit gerade die Interessen derer, die sich wirklich nicht selber helfen können und für die es ursprünglich einmal geschaffen worden war. Außerdem kümmern wir selbst uns immer weniger um unseren Nachbarn, weil wir denken: ‚Das erledigt schon der Staat.‘“

Berliner Rede 1997, 26. April 1997

„Das ist ungeheuer gefährlich, denn nur zu leicht verführt Angst zu dem Reflex, alles Bestehende erhalten zu wollen, koste es was es wolle. Eine von Ängsten erfüllte Gesellschaft wird unfähig zu Reformen und damit zur Gestaltung der Zukunft. Angst lähmt den Erfindergeist, den Mut zur Selbständigkeit, die Hoffnung, mit den Problemen fertigzuwerden. Unser deutsches Wort ‚Angst‘ ist bereits als Symbol unserer Befindlichkeit in den Sprachschatz der Amerikaner und Franzosen eingeflossen. ‚Mut‘ oder ‚Selbstvertrauen‘ scheinen dagegen aus der Mode gekommen zu sein.

Unser eigentliches Problem ist also ein mentales: Es ist ja nicht so, als ob wir nicht wüssten, dass wir Wirtschaft und Gesellschaft dringend modernisieren müssen. Trotzdem geht es nur mit quälender Langsamkeit voran. Uns fehlt der Schwung zur Erneuerung, die Bereitschaft, Risiken einzugehen, eingefahrene Wege zu verlassen, Neues zu wagen. Ich behaupte: Wir haben kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem. Während die Auswirkungen des technischen Wandels auf dem Arbeitsmarkt und die Folgen der Demographie für die sozialen Netze auch andere Industrieländer, etwa Japan, heimsuchen, gibt es für den Modernisierungsstau in Deutschland keine mildernden Umstände. Er ist hausgemacht, und wir haben ihn uns selbst zuzurechnen.

Stattdessen gefallen wir uns in Angstszenarien. Kaum eine neue Entdeckung, bei der nicht zuerst nach den Risiken und Gefahren, keineswegs aber nach den Chancen gefragt wird. Kaum eine Anstrengung zur Reform, die nicht sofort als ‚Anschlag auf den Sozialstaat‘ unter Verdacht gerät. Ob Kernkraft, Gentechnik oder Digitalisierung: Wir leiden darunter, dass die Diskussionen bei uns bis zur Unkenntlichkeit verzerrt werden – teils ideologisiert, teils einfach ‚idiotisiert‘. Solche Debatten führen nicht mehr zu Entscheidungen, sondern sie münden in Rituale, die immer wieder nach dem gleichen Muster ablaufen, nach einer Art Sieben-Stufen-Programm:

Am Anfang steht ein Vorschlag, der irgendeiner Interessengruppe Opfer abverlangen würde.

Die Medien melden eine Welle ‚kollektiver Empörung‘.

Spätestens jetzt springen die politischen Parteien auf das Thema auf, die einen dafür, die anderen dagegen.

Die nächste Phase produziert ein Wirrwarr von Alternativvorschlägen und Aktionismen aller Art, bis hin zu Massendemonstrationen, Unterschriftensammlungen und zweifelhaften Blitzumfragen.

Es folgt allgemeine Unübersichtlichkeit, die Bürger werden verunsichert.

Nunmehr erschallen von allen Seiten Appelle zur ‚Besonnenheit‘.

Am Ende steht meist die Vertagung des Problems. Der Status quo setzt sich durch. Alle warten auf das nächste Thema.

Diese Rituale könnten belustigend wirken, wenn sie nicht die Fähigkeit, zu Entscheidungen zu kommen, gefährlich lähmen würden. Wir streiten uns um die unwichtigen Dinge, um den wichtigen nicht ins Auge sehen zu müssen. Erinnert man sich heute noch an den Streit über die Volkszählung, der vor ein paar Jahren die ganze Nation in Wallung brachte? Scheinsachverständige mit Doktortitel äußern sich zu beliebigen Themen, Hauptsache, es wird kräftig schwarzgemalt und Angst gemacht. Wissenschaftliche und politische Scheingefechte werden so lange geführt, bis der Bürger restlos verwirrt ist; ohnehin wird die Qualität der Argumente dabei oft durch verbale Härte, durch Kampfbegriffe und ‚Schlagabtausche‘ ersetzt. Und das in einer Zeit, in der die Menschen durch die großen Umbrüche ohnehin verunsichert sind, in einer Zeit, in der der Verlust von eigenem Erfahrungswissen durch äußere Orientierung ersetzt werden müsste. Ich mahne zu mehr Zurückhaltung: Worte können verletzen und Gemeinschaft zerstören. Das können wir uns nicht auf Dauer leisten, schon gar nicht in einer Zeit, in der wir mehr denn je auf Gemeinschaft angewiesen sind. […]

Wäre es nicht ein Ziel, eine Gesellschaft der Selbständigkeit anzustreben, in der der Einzelne mehr Verantwortung für sich und andere trägt, und in der er das nicht als Last, sondern als Chance begreift? Eine Gesellschaft, in der nicht alles vorgegeben ist, die Spielräume öffnet, in der auch dem, der Fehler macht, eine zweite Chance eingeräumt wird. Eine Gesellschaft, in der Freiheit der zentrale Wert ist und in der Freiheit sich nicht nur durch die Chance auf materielle Zuwächse begründet. […]

Wir müssen unsere Jugend auf die Freiheit vorbereiten, sie fähig machen, mit ihr umzugehen. Ich ermutige zur Selbstverantwortung, damit unsere jungen Menschen Freiheit als Gewinn und nicht als Last empfinden. Freiheit ist das Schwungrad für Dynamik und Veränderung. Wenn es uns gelingt, das zu vermitteln, haben wir den Schlüssel der Zukunft in der Hand. Ich bin überzeugt, dass die Idee der Freiheit die Kraftquelle ist, nach der wir suchen und die uns helfen wird, den Modernisierungsstau zu überwinden und unsere Wirtschaft und Gesellschaft zu dynamisieren. […]

Wir müssen jetzt an die Arbeit gehen. Ich rufe auf zu mehr Selbstverantwortung. Ich setze auf erneuerten Mut. Und ich vertraue auf unsere Gestaltungskraft. Glauben wir wieder an uns selber. Die besten Jahre liegen noch vor uns.“

Ansprache zum 40. Symposium der Ludwig-Erhard-Stiftung „Ludwig Erhards Soziale Marktwirtschaft: Erbe und Verpflichtung“, 11. Juni 1997

„Deshalb werden Systeme, die mit polyzentraler Problem- und Entscheidungsfindung arbeiten, in aller Regel besser bestehen. Ihre Fähigkeit, Probleme zu erkennen, Lösungen dafür zu suchen und zu finden und sie dann auch in die Realität umzusetzen, ist größer oder – einfacher ausgedrückt – ihre Lernfähigkeit ist größer. Der Erfolg ist zwar auch ihnen nicht sicher; denn das ist im menschlichen Leben überhaupt nichts. Aber er ist wahrscheinlicher als in jedem anderen System.

Hierin liegt die große Chance der offenen Gesellschaft. Man kann das – vorsichtig quantifizierend – auch so ausdrücken: Je mehr Personen, Einrichtungen und Unternehmen sich am Aufspüren neuer Probleme und Bedürfnisse beteiligen und je mehr sich an ihrer Lösung bzw. Befriedigung versuchen, desto größer wird auch die Wahrscheinlichkeit, daß beides wirklich erreicht wird.“

Rede auf dem Berliner Bildungsforum im Schauspielhaus am Gendarmenmarkt, 5. November 1997

„Wenn wir mehr Spitzenleistungen wollen, müssen wir Unterschiede in den Leistungen sichtbarer machen. Das beginnt schon bei den Schulen: Geben wir ihnen wieder mehr Verantwortung zurück! Was spricht etwa dagegen, sie bei der Auswahl des Kollegiums zu beteiligen? Ich habe auch nie verstanden, warum Lehrer und Professoren unbedingt Beamte sein müssen, warum die Verwaltung in das Korsett einer kameralistischen Haushaltsführung gepreßt werden muß, warum ein Schulleiter bei der Entscheidung über Sachmittel und Personal weniger Entscheidungsspielraum hat als der Sachbearbeiter in einer Schraubenfabrik.

Und warum haben wir uns bislang gescheut, unsere Schulen in einen Vergleich treten zu lassen, der den Wettbewerb fördert? In den USA ist Präsident Clinton gerade dabei, einen ‚national achievement test‘ für Schüler einzuführen, damit Eltern im ganzen Land wissen, welche Schulen gut und welche weniger gut sind. Wäre das nicht auch ein Modell für uns? Könnten dann nicht die guten Schulen das Vorbild und den Ansporn für andere geben, die eigenen Angebote zu verbessern? […]

Bei dieser Gelegenheit sollten wir nicht zuletzt auch das förderalistische Einstimmigkeitsprinzip unserer Bildungspolitik zum Gegenstand öffentlicher Diskussionen machen. Der Sinn des Föderalismus ist doch gerade, unterschiedliche Lösungen möglich zu machen. Was ist wichtiger – die ‚Einheitlichkeit der Bildungsverhältnisse‘ (was immer das sein mag) oder der Wettbewerb um den besten Weg aus der Sackgasse, in dem sich unser Bildungswesen befindet? Wäre es nicht besser, die bundesweiten Festlegungen so weit irgendmöglich zu beseitigen und stattdessen sowohl die Länder wie auch die einzelnen Bildungseinrichtungen experimentieren zu lassen? Reicht nicht eine Verständigung auf sorgfältig festzulegende Mindeststandards? Natürlich muß auch weiterhin ein Wechsel von Kiel nach Passau möglich sein. Aber vergessen wir nicht: In Zukunft wird auch ein Wechsel von Freiburg nach Straßburg oder von Bologna nach München auf der Tagesordnung stehen, und darauf sind wir wenig vorbereitet.“

Rede anlässlich der Veranstaltung „150 Jahre Revolution von 1848/49“ in der Paulskirche zu Frankfurt am Main, 18. Mai 1998

„Wo scheinbar alle Verantwortung tragen, trägt in Wirklichkeit niemand die Verantwortung. Ein undurchsichtiges Geflecht von Kompetenzen und Finanzierungen entsteht, die Erpreßbarkeit des Gesamtstaats durch in Lobbies organisierte Gruppen nimmt zu. Ergebnis: Man handelt zwar, aber man handelt wie auf einem Basar. Deswegen sage ich: Wir brauchen nicht nur eine Steuerreform mit weniger Ausnahmen und niedrigeren Tarifen; wir müssen auch im Verhältnis von Bund und Ländern zu einer Entflechtung von Aufgaben, Ausgaben und Einnahmen kommen. Finanzentscheidungen und Sachverantwortung müssen wieder zusammengeführt werden, oder, mit einfachen Worten: Wer bestellt, der soll – jedenfalls im Prinzip – auch bezahlen. […]

Föderalismus ist nicht nur die vertikale Teilung der Gewalten. Richtig praktiziert, wird er ständig eine Vielzahl von möglichen Modellen und Lösungen hervorbringen, die in einen friedlichen Wettstreit der Ideen einmünden. Der Föderalismus setzt im politischen Bereich die Kreativität einer offenen Gesellschaft frei und er schafft zugleich dort Übereinstimmung, wo diese im Interesse des Gemeinwesens nötig ist. Das Prinzip stimmt also. Was fehlt, ist eine neue Verständigung darüber, was wirklich bundesweit geregelt sein muß und was der freien Entscheidung der Länder, ihrer Phantasie und ihrem Erprobungswillen gehören soll. Manche Einheitlichkeit wird darüber verlorengehen, aber auch manche Phantasielosigkeit. Wenn die Länder mehr Spielraum zum mutigen Experiment bekommen, werden auch neue Ideen Spielraum bekommen. […]

Vor uns liegt ein neues Zeitalter:

– in dem statt der Anonymität zentralistischer Großorganisationen zivilgesellschaftliches Engagement das Gemeinwesen mittragen muß,

– das Freiräume schafft, indem der Staat seine Aufgaben auf das Wesentliche zurücknimmt und dadurch zugleich seine Handlungsfähigkeit zurückgewinnt,

– ein europäisches Zeitalter, in dem die neuen Institutionen in den Köpfen und Herzen der Bürger verankert sein müssen.“

Rede beim Festakt zum Tag der Deutschen Einheit in Hannover, 3. Oktober 1998

„Vor allem warne ich davor, zur Einheit gleich noch die Einheitsdeutschen zu fordern. Solche Standardgeschöpfe hat es in deutschen Landen – Gott sei Dank! – nie gegeben. Im Gegenteil: Seit eh und je pflegen die Stämme und Regionen ihre Besonderheiten. Diese selbstbewußte Vielfalt hat unserem Lande nie geschadet, sie hat es politisch und kulturell bereichert! Und ich füge hinzu: Unsere offene und weltoffene Gesellschaft muß solche Unterschiede auch in Zukunft aushalten können.“

Weihnachtsansprache 1998, 25. Dezember 1998

„Entscheidend für die Zukunft ist, wie wir menschlich miteinander umgehen. Ich habe gesehen, wie viele Bürgerinnen und Bürger sich für andere einsetzen, ich habe mir unzählige Aktionen, Initiativen und Projekte ansehen können. Viele haben mir darüber geschrieben. Ich habe sehen können, daß wir nicht nur eine Ellenbogengesellschaft sind, wie so oft behauptet wird. Viele sorgen dafür, daß wir auch eine Gesellschaft der gebenden Hände sind.

Aus kaum einem anderen Land kommen so viele Spenden für die Fernen und Fernsten. Kaum ein anderes Land nimmt so viel Fremde und Flüchtlinge auf wie Deutschland. Auch das stimmt mich für die Zukunft optimistisch.

Es gibt einen alten Spruch: Die ganze Dunkelheit der Welt reicht nicht aus, das Licht einer einzigen Kerze zu löschen.“

Eröffnungsansprache zum Weltwirtschaftsforum Davos „Außenpolitik im 21. Jahrhundert“, 28. Januar 1999

„Besonders am Herzen liegt mir die Intensivierung des Dialogs zwischen den Kulturen, um dem oft beschworenen Szenario eines ‚clash of civilizations‘ vorzubeugen. Wie in der Zeit der ideologischen Konfrontation zwischen Ost und West der Rüstungskontrolle kommt heute dem Dialog zwischen den Kulturen eine vertrauensbildende und damit friedenssichernde Rolle zu. Die Globalisierung, aber auch die immer neuen technischen Durchbrüche und die Verstärkerrolle der Medien haben zur Folge, daß die verschiedenen Kulturen schneller und intensiver aufeinander einwirken als jemals zuvor in der Geschichte der Welt. Darin liegen Chancen: Die Freiheit des Informationsaustausches macht es den Kulturen möglich, sich gegenseitig zu bereichern. Das hält sie lebendig und bewahrt sie vor musealer Erstarrung. Mehr Transparenz würde im übrigen auch mehr Wahrheit ermöglichen.

Ich will aber nicht verschweigen, daß das Ziel nicht eine globale Massenkultur sein kann. Diese provoziert auch Widersprüche, allerdings weniger zwischen den großen Weltkulturen, als innerhalb der Kulturen zwischen den Kräften der Moderne und den Kräften der Tradition. Unsere ‚entgrenzte‘ Welt führt nicht immer zu nützlicher Integration, sondern sie kann auch zu schmerzlichen Verlusten an Identität und Geborgenheit führen. Wir Menschen brauchen aber die gelassene Verwurzelung in Geschichte und Kultur. Aus Ressentiments und trotziger Selbstbehauptung können dagegen Intoleranz und Abweisung entstehen.“

Rede auf dem Deutschen Bildungskongress in Bonn, 13. April 1999

„Geben wir vor allem unseren Bildungsinstitutionen die Möglichkeit, ihre jeweils eigenen Wege und Lösungsmodelle zu finden und auszuprobieren. Diesem Prinzip des ‚Trial and Errors‘ müssen wir uns schon deshalb stellen, weil Schulen und Hochschulen unsere Kinder in Zukunft auf ein Leben vorbereiten müssen, das wir selbst noch gar nicht kennen, auf eine Welt, die noch erkundet und zum Teil noch erfunden werden muß, und auf eine Welt, in der Ungewißheit zum bestimmenden Merkmal geworden ist. […]

Unser Bildungssystem braucht mehr Wettbewerb und Effizienz, mehr Eigenständigkeit und Selbstverantwortung, mehr Transparenz und eine bessere Vergleichbarkeit der Bildungsinstitutionen. […]

Wettbewerb entsteht nicht durch theoretische Einsicht oder per Dekret. Er stellt sich ein, wenn den beteiligten Menschen und Institutionen Eigenständigkeit und Selbstverantwortung gegeben wird. Und wo Leistung belohnt wird, setzen sich die besten Ideen automatisch durch.“

Ansprache zur Eröffnung des Symposiums „Demokratische Legitimation in Europa in den Nationalstaaten in den Regionen“ an der Universität Freiburg, 28. April 1999

„Europäische Einigung macht deshalb eine Revitalisierung der kleinen Einheiten dringend notwendig. Die Regionen sind doch viel näher am Bürger als die fernen nationalen Zentren oder gar die supranationalen Institutionen. […] Auf subnationaler und regionaler Ebene ist in vielen Ländern, übrigens nicht nur bei Angehörigen der Europäischen Gemeinschaft, die Demokratie besser eingespielt als auf nationaler Ebene.“