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Mehr als jeder vierte französische Wähler hat bei der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen für rechts- oder linksradikale Politiker gestimmt. Jetzt ist ein gemäßigter Sozialdemokrat die Hoffnung des Landes und des ganzen Kontinents. Dabei hat Frankreich eine bedeutende freiheitliche Tradition.

Republik und Menschenrechte, Marktwirtschaft und Freihandel

Francois Fénelon (1651-1715) war ein wichtiger Vordenker der Menschenrechte und stand im Frankreich des Sonnenkönigs für individuelle Freiheit ein. Montesquieu (1689-1755) war der Begründer der Theorie der modernen Republik und steht mithin an der Wiege aller freiheitlichen Demokratien der jüngeren Geschichte. Nicolas de Condorcet (1743-1794) trat als einer der ersten für die Gleichberechtigung der Frau ein. Jean-Baptiste Say (1767-1832) war ein mächtiger Fürsprecher unternehmerischer Freiheit. Frédéric Bastiat (1801-1850) ist das Kunststück gelungen, die Ideen der Marktwirtschaft und des Liberalismus so anschaulich darzustellen, dass seine Schriften heute noch klassische Einführungstexte sind. Alexis de Tocqueville (1805-1859) formulierte die Theorie der liberalen Zivilgesellschaft. Michel Chevalier (1806-1879) war der kongeniale Partner des großen Freihändlers Richard Cobden auf der französischen Seite. Andere im Sinne der Freiheit wohlklingende Namen sind Richard Cantillon, Turgot, Olympe de Gouges, Lafayette, Charles Comte und Charles Dunoyer.

Im Laufe des 19. Jahrhunderts und vor allem im 20. Jahrhunderts versiegt diese Tradition zunehmend. In den letzten 100 Jahren stechen mit genialen Gedanken und Schriften noch Bertrand de Jouvenel (1903-1987) und vor allem Raymond Aron (1905-1983) hervor. Danach wird es leider immer dünner … Im Aufbäumen gegen den Absolutismus, Zentralismus und Bürokratismus, der das Land schon vom 17. bis ins 19. Jahrhundert durchdrang, formierte sich zunächst manch anregender und sogar global einflussreicher Widerstand. Ein Denker und ein Ereignis führten jedoch dazu, dass die Idee der Liberté gewissermaßen falsch abbog. Jean-Jacques Rousseau ersetzte den Absolutismus des Königs durch den Absolutismus des Volkswillens. Und die Französische Revolution entartete in eine radikale Tyrannei einer kleinen Gruppe, die sich fatal selbst überschätzte und die Freiheit in einem Blutmeer ertränkte.

Einer der geistigen Führer des Liberalismus des 19. Jahrhunderts

Einer der wichtigsten Kritiker dieser Entwicklung des französischen Liberalismus war der Schriftsteller und Politiker Benjamin Constant (1767-1830), den Friedrich August von Hayek als einen „der geistigen Führer des Liberalismus des 19. Jahrhunderts“ bezeichnete. Constant war ein wahrer Europäer: Geboren in der Schweiz als Abkömmling einer französischen Familie wuchs er unter anderem in den Niederlanden, Brüssel und Großbritannien auf. Er studierte in Erlangen und Edinburgh, wo der Siebzehnjährige mit zentralen Persönlichkeiten der liberalen Geistesgeschichte wie Adam Smith, David Hume und Adam Ferguson Umgang pflegte. Er war mit dem größten deutschen Liberalen jener Zeit, seinem Jahrgangsgenossen Wilhelm von Humboldt, befreundet und übersetzte die Werke Kants ins Französische.

Die Radikalisierung der Französischen Revolution betrachtete er mit zunehmender Sorge. Als die Schreckensherrschaft endete, engagierte sich der Endzwanziger publizistisch für den Aufbau einer freiheitlichen Republik. Nach anfänglicher Unterstützung wurde er auch zu einem scharfen Kritiker Napoleons und nach der Wiederherstellung der alten Monarchie 1815 war er einer der intellektuellen und politischen Führungspersönlichkeiten der liberalen Opposition. Zeit seines Lebens warnte er vor den Gefahren absoluter Herrschaft – ob in Form einer Monarchie oder Demokratie. Er war ein glühender Verfechter von Freiheit der Meinung, der Rede und der Presse. Er verteidigte Markt und Unternehmertum und sprach sich für Non-Zentralismus und Föderalismus aus. Nach seinem Tod rühmten ihn die ehemaligen Sklaven in den französischen Kolonien für seinen Einsatz zu ihrer Befreiung. In Wort und Tat, als Publizist und Politiker war er einer der Leuchttürme in der Geschichte des Liberalismus.

Das Prinzip der Freiheit braucht auch heute Verteidiger

Gegen Ende seines Lebens blickt Constant zurück: „Vierzig Jahre lang habe ich dasselbe Prinzip verteidigt: Freiheit in allen Dingen – in der Religion, der Philosophie, der Literatur, der Wirtschaft, der Politik. Und mit Freiheit meine ich den Sieg des Individuums über eine Autorität, die despotisch herrschen will, wie auch über die Massen, die für sich beanspruchen, eine Minderheit der Mehrheit untertan zu machen. Die Mehrheit hat das Recht, die Minderheit darauf zu verpflichten, die öffentliche Ordnung zu respektieren. Doch alles, was die öffentliche Ordnung nicht stört, was rein persönlich ist wie unsere Meinungen, was als Meinungsäußerung anderen keinen Schaden zufügt, alles was im Bereich der Wirtschaft einem Konkurrenten erlaubt, sich frei zu entwickeln – bei all dem handelt es sich um Ausdrucksformen des Individuums. Und es gibt keinen legitimen Grund, dies staatlicher Gewalt zu unterwerfen.“

Nicht nur für Frankreich, sondern für ganz Europa und die westliche Welt muss man hoffen, dass diese Ideen und Ideale wieder an Bedeutung gewinnen. In einer Zeit, in der die Debatten nur noch um Fragen wie die Leitkultur oder noch mehr Umverteilung kreisen, sind die Stimmen der Freiheit besonders dringend gefragt. Frauen und Männer wie Constant und die anderen oben angeführten Persönlichkeiten haben oft unter erheblichen persönlichen Opfern die Sache der Freiheit verteidigt und vorangebracht. Sie sind das geistige Fundament, auf der unsere freiheitliche Demokratie, unser Rechtsstaat, unsere Marktwirtschaft und unsere offene Gesellschaft stehen. Es ist unsere Aufgabe, dieses Fundament zu erweitern und darauf weiterzubauen – in Frankreich und überall. Denn, so Constant, „ohne die Freiheit gibt es für die Menschen keinen Frieden, keine persönliche Würde, kein Glück.“

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Es soll Bankvorstände geben, die nicht wissen, wie Geld entsteht. Sie glauben, ihre Bank würde nur Kredite vergeben können, die sie zuvor als Einlagen von ihren Kunden erhalten haben. Sie müssten also mehr Einlagen einwerben, um im Kreditgeschäft wachsen zu können. Die Bank sei nur eine Art Vermittler zwischen Sparer und Kreditnehmer und lebe letztlich von den unterschiedlichen Zinsen für Guthaben und Kredite. Nichts ist abwegiger! Diesen Bankvorständen kann man als Lektüre den aktuellen Monatsbericht der Deutschen Bundesbank empfehlen. Denn Weiterbildung am Feierabend sollte auch für die leitenden Mitarbeiter einer Bank selbstverständlich sein. Auf 21 Seiten erklären die Bundesbanker „die Rolle von Banken, Nichtbanken und Zentralbanken im Geldschöpfungsprozess“. In diesem etwas trockenen Text erfahren sie dann, dass über 90 Prozent der in Umlauf befindlichen Geldmenge kein Bargeld ist, sondern Buchgeld, das überwiegend durch Kreditvergabe der Banken geschaffen wurde und auf den Konten der Marktteilnehmer herumliegt. Es ist Geld, das aus dem Nichts geschaffen wurde und das vorher nicht als Einlagen vorhanden war. Es ist neues Geld.

Eigentlich könnte in diesem System eine Bank unbegrenzt neues Geld „herstellen“, indem sie auf den Knopf drückt und neue Kredite vergibt. Was sie daran hindert, sind Bilanzregeln, Kreditvergaberegeln, Leitzinsen der Notenbanken und viele weitere Regulierungen und Anreize des Staates. Hinzu kommt die Aufsicht des Staates über den Finanzsektor. Zahlreiche Institutionen von der Deutschen Bundesbank über die BaFin bis hin zur Europäischen Zentralbank kümmern sich um die Einhaltung dieses Regelwerkes im Hinblick auf das jeweilige einzelne Institut, wie auch auf die Risiken für das Finanzsystem insgesamt. Wahrscheinlich gibt es keinen Wirtschaftszweig, der so stark reguliert und überwacht ist, wie der Bankensektor und dennoch ist er, wie kein anderer Sektor, so sehr verantwortlich für immer wiederkehrende Wirtschaftskrisen. Deshalb wird das Netz der Überwachung und Regulierung immer enger geflochten.

Das Kernproblem ist das Erkaufen von Wirtschaftswachstum durch immer mehr Kredit und damit Geld aus dem Nichts. In dieser Welt ist das Wachstum an Krediten der Indikator für das Wachstum der Wirtschaft. Doch beides verläuft nicht in gleichen Schritten. Es bedarf immer mehr Kredit und damit Geld, um Wachstum anzuregen. Zwischen der Einführung des Euros 1999 bis zum Ausbruch der Krise 2007 stieg die Geldmenge in der Eurozone um über 8 Prozent pro Jahr. Das reale Bruttoinlandsprodukt stieg in der gleichen Zeit um rund 2 Prozent. Heute steigt die Geldmenge im Euro-Raum zwar mit 5 Prozent etwas langsamer, dennoch ist es wesentlich höher, als das Wirtschaftswachstum in der Euro-Zone. Die Schwäche heute liegt jedoch an der Übertreibung von gestern. Die expansive Kreditausweitung vor 2007 erzeugte einen Boom, auf den alle aufsprangen. In der Spitze führte sie jedoch zu Zahlungsausfällen von Unternehmen, die ihre Projekte mangels Nachfrage nicht mehr zu Ende führen konnten. Mit den Zahlungsausfällen der Unternehmen folgten Insolvenzen von Banken und selbst Staaten in Südeuropa drohte dies, wenn nicht die EZB und der Euro-Club mit Milliardensummen eingegriffen hätten.

Die Ursache für das geringere Geldwachstum heute, liegt also an der schlechten wirtschaftlichen Entwicklung der Eurozone seit 2007/2008. Banken, insbesondere in Südeuropa vergeben seitdem nicht mehr so viele Kredite wie zuvor. Sie sind vorsichtig geworden, weil die Krise 2007/2008 nicht ausgestanden ist. Viele der ausgereichten Kredite sind heute notleidend und können von den Kreditnehmern nicht mehr bedient werden. In Italien, Griechenland, Zypern, Portugal ist es besonders schlimm.

Es ist wie in einem Fischteich. Die EZB kümmert sich als Fischer um den Teich. Sie füttert die Fische mal mehr und mal weniger. Muss der Fischbesatz wachsen, dann füttert sie mehr. Hilft das nicht schnell genug, wirft sie Anabolika und andere wachstumsfördernde Stoffe hinein. Irgendwann stellt sie fest, dass die Fische immer größer und fetter werden. Der Hunger der Fische wird immer größer. Sie fressen alles kurz und klein, was sonst noch im Teich kreucht und fleucht. Immer stärker muss der EZB-Fischer eingreifen, um das ins Wanken geratene Ökosystem des Tümpels aufrecht zu erhalten.

Zur Regulierung dieses Fischteichs schlägt die Bundesbank in ihrem aktuellen Bericht vor, dass der Fischteich noch stärker und besser überwacht werden muss. Es sollen Ober- und Unterfischer eingestellt werden. Die Fischereiaufsicht soll aufgestockt und neue Kompetenzen bekommen. Alle Teichbesitzer in Europa und in der Welt sollen sich besser über die Fütterungspläne austauschen. Sie nennt das makroprudentielle Aufsicht. Und sie schlägt vor, dass die einzelnen Fische sich gesünder ernähren müssen. Mindestens ein Veggie-Day pro Monat soll helfen, die Fettsucht der Fische zu verhindern. Nicht mehr so viel Anabolika zum Muskelaufbau, sondern eine Mindestquote gesunder Ernährung müsse schon sein. Also nicht mehr 3 oder 4 Prozent, sondern vielleicht 10 Prozent Ökobratlinge und Fleischersatz sind notwendig um das Überleben der Fische zu sichern. Ob das hilft?

Etwas schnell, verwirft die Deutsche Bundesbank mögliche Alternativen. Die Einführung von Vollgeld, also die alleinige Geldschöpfung in die Hand der Notenbanken zu legen, verwirft sie mit dem Argument, dass damit die Schaffung von Liquidität durch die Banken eingeschränkt würde. Doch genau darum geht es ja. Andere Alternativen diskutiert die Bundesbank erst gar nicht. Man muss ja nicht beim Vollgeld hängen bleiben, das durch seine staatliche Inthronisation bereits eine Urschwäche in sich birgt. Denn ein solches System könnte jederzeit wieder durch einen staatlichen Akt zurückgedreht werden. Die eigentliche Schwäche ist das Monopol, das die Bundesbank gemeinsam mit der EZB ausübt. Dieses Geldmonopol produziert immer wiederkehrende und immer größere Probleme durch die Kreditausweitung aus dem Nichts. Der Staat maßt sich hier ein Wissen über die Geldversorgung und die wirtschaftliche Entwicklung an, das er nicht hat und nicht haben kann. In einer Marktwirtschaft sorgt deshalb der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren dafür, dass einzelne Marktteilnehmer durch Versuch und Irrtum im Kleinen sich den Anforderungen des Marktes annähern. In einem solchen System würde Geldwettbewerb herrschen. Dort würden auch Insolvenzen von Staaten und Banken eintreten, sie würden aber nicht ein ganzes Finanzsystem in den Abgrund stürzen. Oder um es mit dem Bild des Fischteiches zu sagen: der gesamte Fischteich könnte nicht umkippen.

Erstmals erschienen auf Tichys Einblick.

 

 Photo: Netflix

Die Sehgewohnheiten der Bürger ändern sich derzeit radikal. Die Zeiten, als die ganze Familie am Sonntag erst die Tagesschau und anschließend den Tatort sahen, sind vorbei. Gemeinsame Fernsehabende finden heute vielleicht noch statt, um die nächste Folge der Serie „Designated Survivor“ zu sehen, weil die Familie wissen will, wie die Verschwörung gegen den US-Präsidenten Tom Kirkman, alias Kiefer Sutherland, weitergeht. Wann dies der Fall ist, entscheiden die Nutzer beim Streamingdienst Netflix selbst. Auch bei den Wettbewerbern Amazon Prime und Maxdome laufen Blockbuster-Serien, die an schauspielerischer Qualität und finanziellem Aufwand, den klassischen Serien der öffentlich-rechtlichen Sender um Lichtjahre voraus sind. Auch die Erfolge von YouTube-Kanälen vollziehen sich in einer fast schon unfassbaren Geschwindigkeit. Weltweit finden täglich eine Milliarde Aufrufe statt, davon mehr als die Hälfte über Mobilgeräte.

Die Veränderung der Sehgewohnheiten hat natürlich sehr viel mit der digitalen Revolution zu tun. Datenmengen können viel schneller und und in viel größerem Umfang übertragen werden. Sie machen das klassische Endgerät, den Fernseher, nicht mehr zum ausschließlichen Abspielgerät, sondern nur noch zu einem unter vielen. Der Laptop, das Smartphone oder das Tablet ersetzen den Fernseher immer mehr. Letztlich entscheiden nicht mehr die Programmdirektoren bei ARD und ZDF darüber, wann eine Sendung gezeigt wird, sondern die Nutzer schlüpfen in diese Rolle und sehen eine Sendung, wenn sie dafür Zeit und Muße haben.

Doch die persönlichen und statistischen Marktuntersuchungen sind eigentlich nicht notwendig, um den Wandel im Medienverhalten der Bürger zu beurteilen. Dafür reicht es, wenn man die Regulierungsversuche der Politik betrachtet. So hat jetzt das EU-Parlament eine Mindestquote von 30 Prozent für europäische Filmproduktionen für Streamingdienste verlangt. Man befürchtet einen Überhang amerikanischer Produktionen zulasten der europäischen Filmindustrie. Das erinnert sehr stark an politische Vorstöße im eigenen Land, Mindestquoten für deutschsprachige Musik im Radio zu verlangen.

Dahinter steckt eine Industriepolitik, die durch Quoten heimische Industrien schützen will. Quoten sind Ruhekissen, sie schützen nicht, sondern machen Industrien träge und faul. Aber nicht nur das. Dieser Vorschlag ist auch ein Ausdruck des Nanny-Staates. Wer nicht europäische Filme als Konsument nachfragt oder deutsches Liedgut im Radio hören will, der wird dazu genötigt. Nicht der Konsument entscheidet darüber, was gespielt und angeboten wird, sondern fürsorgliche Politiker, Parlamente und Regierungen.

Die Landesmedienanstalt in NRW will jetzt bestimmte YouTube-Kanäle regulieren und verlangt von diesen Kanälen eine eigene Rundfunklizenz. Die audiovisuellen Medien seien grundsätzlich gleich zu behandeln. Für Plattformen im Netz gälten dieselben Grundsätze wie für andere Medienunternehmen, wird der Vorstoß begründet. Das wäre neben einer Europa-Quote für Streamingdienste der nächste massive Eingriff in Freiheit des Nutzers. Gelingt der Politik, YouTube unter das jeweilige Landesmedienrecht zu stellen, würde eine Branche, die auch in Deutschland dynamisch wächst und in der sich viele StartUps bewegen, in ihren Freiheiten massiv eingeschränkt. Ob sich Deutschland überhaupt durch diese Regulierung abkoppeln kann, wenn YouTube-Produktionen überall auf der Welt hergestellt werden können, sei zudem dahingestellt. Mehr staatlichen Irrweg kann es nicht geben.

Photo: Harrygoucas from Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0)

Das Verfassungsreferendum in der Türkei ist eine Mahnung an den demokratischen Rechtsstaat. Er ist nicht gefeit vor grundsätzlichen Änderungen. Wer könnte ein Lied davon singen, wenn nicht wir Deutschen? Grundsätzliche Änderungen der Regierungsform, auch wenn sie sich schleichend vollziehen, sind eine ständige Gefahr. Sie werden häufig für einzelne Personen gezimmert. Darin liegt auch das Dilemma der Türkei. Die neue Präsidialverfassung ist auf den aktuellen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan zugeschnitten. Darin liegt schon ihr grundsätzlicher Fehler. Der Putschversuch am 15. und 16. Juli 2016, nach dem anschließend über 40.000 Personen festgenommen und über 80.000 Beschäftigte im Öffentlichen Dienst ihren Job verloren, bot für Erdogan die entscheidende Begründung, die Machtfülle anzustreben, die ihm das Referendum jetzt zugestanden hat.

Das neue „Präsidialsystem“ wird von AKP-Politikern mit der Verfassung der USA verglichen. Das ist sehr vermessen. Nicht nur, weil die Vereinigten Staaten eine lange und große Verfassungstradition haben, die die Türkei nicht hat. Die US-Verfassung unterscheidet sich auch in sehr grundsätzlichen Fragen von der der Türkei. Die Gründerväter der USA um John Adams, Thomas Jefferson und James Madison mussten seinerzeit einen klassischen Konflikt lösen. Zum einen wollten sie das positive, das eine Regierung verspricht, zulassen, und zum anderen Freiheitsbedrohungen durch die Regierung und ihren Präsidenten verhindern. Aus diesem Anspruch folgten für sie zwei wesentliche Grundsätze.

Erstens musste der Spielraum des Präsidenten und der Regierung beschränkt werden. Zwar gilt der amerikanische Präsident als der mächtigste Mann der Welt, dennoch darf auch er nicht alles. Bei allem Unterschied zwischen Theorie und Praxis ist er an die Verfassung gebunden, Gesetze können von ihm nur verhindert, aber nicht durchgesetzt werden. Sein Regierungshandeln wird von Gerichten überprüft. Unabhängige Medien kontrollieren und kritisieren sein Handeln.

Präsidenten Donald Trump kann ein Lied davon singen. Er stößt permanent an Grenzen. Die Rücknahme von Obama-Care scheiterte bereits zu Beginn seiner Amtszeit im Parlament. Der Einreisestopp für Menschen aus Staaten mit überwiegend islamischer Bevölkerung wurde durch Bundesrichter verhindert. Und die wichtigste Zeitung Amerikas, die New York Times, hat seit seiner Wahl im November ihre Abonnentenzahl um 250.000 auf 3 Millionen erhöht. Der Aktienkurs stieg seitdem um 30 Prozent.

Der zweite Grundsatz der Verfassungsväter war die Einflussbeschränkung des Präsidenten und seiner Regierung durch eine vertikale Machtverteilung. Regierungsmacht wurde auf verschiedene Ebenen verteilt. Sie waren überzeugt, dass es besser ist, wenn Regierungsmacht in Städten, Landkreisen und Bundesstaaten ausgeübt wird, anstatt im fernen Washington. Wer sich dieser Regierungsmacht entziehen wollte, konnte von einer Stadt in die andere ziehen, von einem Landkreis in den nächsten und von einem Bundesstaat in einen weiteren. Wer also mit dem Schulsystem, mit der Besteuerung oder mit der sozialen Fürsorge nicht einverstanden war oder ist, konnte weiterziehen und sich der Macht der lokalen oder regionalen Administration entziehen.

Hier setzt der Politikstil der Erdogans an. Er und seine Helfershelfer wollen Macht zentral ausüben. Sie behaupten, dass Regierungshandeln dadurch viel effektiver werden kann und dies auch im Interesse der Öffentlichkeit sei. Doch wie immer gibt es hier zwei Seiten. Effektives Regierungshandeln kann zum Guten, aber auch zum Schlechten führen. Niemand, auch kein Präsident, weiß alles und trifft immer richtige Entscheidungen. Dennoch müssen alle Bürger dafür geradestehen. Sie haben keine Ausweichmöglichkeiten. Es bringt ihnen nichts, von Istanbul nach Ankara oder nach Izmir umzuziehen. Der lange Arm Erdogans reicht in jeden Winkel der Türkei.

Hinzu kommt, dass selbst die Erdogan-Anhänger nicht die Gewähr haben, ob nicht nach Erdogan ein Präsident an die Macht kommt, der noch viel stärker gegen Grundrechte vorgeht. Vielleicht ändern sich dann die Gegner der Regierung. Wer heute meint, die Unterstützung der Regierung zu haben, wird morgen unter einem neuen Präsidenten vielleicht ebenfalls unterdrückt und verfolgt. Denjenigen, die das „Präsidialsystem“ der Türkei unterstützt haben, muss nicht generell eine böse Absicht unterstellt werden. Die Tragödie ist jedoch, dass diese Entwicklungen häufig von Leuten guten Willens angeführt werden, die dann die ersten sind, die das Ganze bereuen. Daher ist ein Gesellschaftssystem der Machtbegrenzung durch eine horizontale und vertikale Verteilung von Regierungsmacht einem zentralistischen System überlegen. Hier wirken sich Fehlentscheidungen einzelner nicht für alle aus, sondern nur für wenige. Es ist letztlich das Gesellschaftssystem „des Westens“. Dieser Non-Zentrismus existiert nicht nur in den Regierungssystemen moderner Demokratien, sondern ist auch der Erfolg in anderen Gesellschaftsbereichen, in der Architektur, der Wissenschaft, der Literatur, der Kunst und selbst der Religion. Die Marktwirtschaft ist die Voraussetzung für diese Freiheit.

Erstmals erschienen bei Tichys Einblick.

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Bei der Abstimmung in der Türkei hat sich einmal wieder eine starke Spaltung innerhalb eines Landes offenbart. Um dieses weltweite Problem in den Griff zu bekommen, müssen zwei Ideen wieder stark gemacht werden: Dezentralisierung und Depolitisierung.

Die Polarisierung eskaliert

Februar 2014. Die Schweiz stimmt mit knapper Mehrheit für eine Initiative „Gegen Masseneinwanderung“. Die Ergebnisse zeigen deutlich, dass es eine tiefe Kluft gibt zwischen der Bevölkerung in den urbanen Gegenden und der Landbevölkerung. In Basel stimmen über 60 Prozent der Wahlberechtigten gegen die Initiative, im Tessin stimmen nahezu 70 Prozent dafür. Ähnlich dramatische Unterschiede zwischen einzelnen Landesteilen – meist aufgeteilt in Stadt und Land – konnte man bei den Präsidentenwahlen 2013 in Tschechien, 2015 in Polen und zuletzt vor wenigen Monaten in Österreich erkennen. Bei der Abstimmung zum Brexit im vergangenen Juni sprachen sich im Großraum London 60 Prozent der Urnengänger dagegen aus, während die Befürworter eines Austritts aus der EU in ländlichen Gegenden zum Teil ebenso deutliche Zustimmung verzeichnen konnten. Bei der Wahl in den USA konnte Clinton in Kalifornien, Hawaii und im Nordosten der USA bis zu 60 Prozent der Wählerstimmen holen während Trump ähnliche und noch bessere Ergebnisse im Landesinneren erzielte. Die Abstimmung über die Verfassungsreform in der Türkei folgte diesem Trend. Und bei der bevorstehenden Wahl in Frankreich dürften auch ähnliche Tendenzen zu beobachten sein.

Dass es einen zum Teil erheblichen Unterschied im Wahlverhalten zwischen Stadt- und Landbevölkerung gibt, hätte keinen besonderen Nachrichtenwert. Die Wähler in ländlicheren Gegenden waren schon immer etwas konservativer als ihre Mitbürger in den Städten. Mit der jüngsten Verschärfung der politischen Auseinandersetzungen radikalisieren sich aber auch die entsprechenden Milieus in zunehmendem Maße. Persönlichkeiten wie Trump oder Erdogan, aber auch der tschechische Präsidentschaftskandidat Karel Schwarzenberg oder der österreichische Bundespräsident Alexander Van der Bellen polarisieren. Und je stärker sich die eine Seite des Spektrums aus Empörung über die andere in ihrem Lager verschanzt, umso mehr sieht sich die Gegenseite zu einer ganz ähnlichen Reaktion gedrängt. Die Gräben vertiefen sich immer mehr und die Fliehkräfte innerhalb der Gesellschaften nehmen an Dynamik zu.

Ursache: Das Wuchern der Politik

Die Unaufgeregtheit oder gar Langeweile der Politik nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und während der rasanten Globalisierung der letzten 25 Jahre ist nicht nur vorbei, sie verkehrt sich zurzeit ins Gegenteil. Am rechten und linken Rand werden die Profite dieser Entwicklung eingesackt. Und manch ein vernünftiger Mensch stellt gar mit zynischem Masochismus fest, es sei doch zu begrüßen, dass nun endlich wieder Bewegung in die Debatten komme. Das Gegenteil ist der Fall: Gerade die Öde der Politik in den vergangenen Jahren war eine Grundlage für ungestörtes Handeln und Wandeln der Bürger und mithin auch des wachsenden Wohlstands. Weil wir diese apolitische Ära aber nicht künstlich wiederherstellen können, müssen wir nun nach anderen Möglichkeiten suchen, die Spirale der gegenseitigen Radikalisierung auszubremsen.

An der Wurzel des Problems sind zwei Phänomene zu finden, die in den vergangenen Jahrzehnten immer wirkmächtiger geworden sind: Die Verlagerung von Kompetenzen auf Zentralregierungen, insbesondere in klassischerweise föderal strukturierten Staaten wie Deutschland und den Vereinigten Staaten. Und zweitens, auch in traditionell zentralistisch regierten Staaten: Die beständige Ausweitung des Tätigkeitsfeldes von Politik durch Regulierungen und Transfers. Je mehr Entscheidungen getroffen werden und je spezifischer sie sind, umso mehr Gelegenheiten bieten sich für die eine oder andere Gruppe, daran Anstoß zu nehmen. Wenn etwa in der Bildungspolitik die linksliberale urbane Elite für ein ganzes Land die verbindlichen Leitlinien vorgibt, verärgert das verständlicherweise traditionsbewusste Familien. Wenn konservative Politiker ein Betreuungsgeld einführen, stoßen sie damit progressive Bevölkerungsgruppen vor den Kopf.

Frieden durch weniger Politik

In der Politik gilt eben nicht nur das Prinzip: Je mehr man regelt und umverteilt, desto mehr Wählergruppen kann man sich erschließen. Sondern auch: … desto mehr Menschen kann man erzürnen. So entstehen die Gefühle, nicht ausreichend beachtet zu werden, ungerecht behandelt zu werden, marginalisiert oder gar aktiv bekämpft zu werden. Jede politische Entscheidung, die spezifische Vorgaben macht und konkret wird, erhöht irgendwo in der Bevölkerung das Wut-Potential. Und diese Wut richtet sich natürlich gegen die Gruppe, die vermeintlich oder tatsächlich von dieser Entscheidung profitiert. Anstatt nach friedlichem Konsens zu suchen, wird das wichtigste Ziel von Politik nun die Hegemonie, also das Gewinnen von Mehrheiten, um die Gesellschaft im eigenen Sinne fundamental umzugestalten.

Um die Spaltung zu überwinden, müssen wir vor allem an den zwei oben beschriebenen Phänomenen ansetzen: Eine Dezentralisierung, also die Rückverlagerung von Entscheidungskompetenzen auf niedrigere Ebenen kann mehr Pluralismus ermöglichen. Wer mit der politischen Großrichtung in seinem Bundesland, seiner Stadt oder seinem Kanton nicht zufrieden ist, hat bei kleinen Einheiten eine wesentlich einfachere Möglichkeit, dorthin zu wechseln, wo sie oder er sich wohler fühlt. Ebenso wichtig ist eine Depolitisierung. Indem weniger detailliert geregelt wird und weniger umverteilt wird, reduziert man die Gelegenheiten zu Konfrontation. Eine freiheitliche Demokratie ist nicht dann gut, wenn die Leute sich streiten wie die Kesselflicker. Sie ist vielmehr umso besser, je weniger Anlässe es zum Streiten gibt. Denn dort, wo Politik sich einmischt und dem Bürger nicht die eigene Entscheidung überlässt, drohen meist Ungerechtigkeiten, Wut, Spaltung und niemals endende Kämpfe.