Photo: AmberAvalona from pixabay (CC 0)

Martin Schulz ist sehr stolz auf das von ihm federführend formulierte Europa-Kapitel des nun vorliegenden Koalitionsvertrags. Das kann er auch sein, trägt es doch im Wesentlichen seine Handschrift. Doch ist dieses Kapitel wirklich europafreundlich? Trägt es dazu bei, dass die EU wirtschaftlich mit anderen Regionen dieser Welt mithalten kann?

Um diese Frage zu beantworten, muss frei von Europalyrik definiert werden, was überhaupt europafreundlich ist? Was macht die Europäische Union, wie es im Koalitionsvertrag heißt, zu einem „historisch einzigartigen Friedens- und Erfolgsprojekt“? Warum schlagen sich Franzosen und Deutsche nicht mehr die Köpfe ein? Warum machen Holländer im Sauerland Urlaub und Deutsche am Ijsselmeer? Warum fahren deutsche Schüler zum Austausch nach England und englische Schüler nach Deutschland? Es sind sicherlich die schlimmen historischen Erfahrungen bis Mitte des letzten Jahrhunderts, die die Europäer zur Vernunft gebracht haben. Und es ist die Neugier auf beiden Seiten, die Kultur und die Tradition des jeweils anderen kennenzulernen. Es ist aber vor allem auch, die Förderung der Kooperation und die Nichtbehinderung durch den jeweiligen Staat. Das hat viel mit dem immer noch vorherrschenden Wirtschaftssystem, der Marktwirtschaft, zu tun. Zwar gibt es unterschiedliche Traditionen in Großbritannien, in Osteuropa, in Deutschland, in Frankreich oder in Südeuropa, aber die Europäische Union hat diese marktwirtschaftliche Ordnung bislang eher gefördert, als gehemmt. Handelsschranken wurden eher ab- als aufgebaut. Der Schutz der heimische Industrie oder von Dienstleistungsunternehmen gegenüber europäischer Wettbewerbern wurde eher ab- als aufgebaut. Und die EU-Wettbewerbskommission in Brüssel war bei der Durchsetzung des diskriminierungsfreien Zugangs zu den Märkten der jeweiligen Mitgliedsstaaten eher progressiv als defensiv.

Doch jetzt droht durch die Debatte um die EU-Entsenderichtlinie eine marktfeindliche Gegenbewegung. Diese hat ihren Ursprung zwar nicht in Deutschland und bei der SPD, sondern bei Emmanuel Macron, sie kann aber nur durch die große Koalition in Berlin tatsächlich durchgesetzt werden. Bislang galt schon, dass Unternehmen, die in einem anderen Land mit eigenen Mitarbeitern eine Dienstleistung erbringen zu den dortigen Mindestlöhnen bezahlt werden müssen. Das war bereits das Einfallstor für nationale Abschottung. Denn sämtliche Länder in der EU haben eine enorme Bürokratie aufgebaut, die es Unternehmen sehr schwer machen, in einem anderen Land Dienstleistungen zu erbringen. Denn das Land, in dem die Dienstleitung erbracht wurde, muss ja schließlich kontrollieren, ob der Mindestlohn auch bezahlt wird, ob die Arbeitszeitgesetze eingehalten werden und getrennte Toiletten vorhanden sind. Bald wird dieses Prinzip auf die Spitze getrieben. „Das Prinzip des gleichen Lohns für gleiche Arbeit am gleichen Ort in der EU wollen wir in einem Sozialpakt stärken“, heißt es jetzt im Koalitionsvertrag. Das ist Eins-zu-Eins auch das Ansinnen von Macron. Doch ist das wirklich sozial? Wozu führt dieses Prinzip?

Führt es zu Wohlstand und zur Reduktion der hohen Arbeitslosigkeit in Frankreich und anderswo? Sicher nicht. Unternehmen, die in Griechenland, Portugal oder auch Slowenien beheimatet und heute in Paris, nächste Woche in Amsterdam und übernächste Woche in Tallin tätig sind, müssen den gleichen Mitarbeitern jede Woche ein anderes Gehalt bezahlen und dies gegenüber den örtlichen Behörden nachweisen. Entwickelte Länder in der EU bauen so Eintrittshürden auf, um ihre Dienstleistungsmärkte gegenüber ausländischen Anbietern abzuschotten. Es sind Handelsschranken, die die reichen gegenüber den ärmeren Ländern aufbauen und damit den Geist des Binnenmarktes untergraben. Es ist doch ein Treppenwitz, wenn die Entfaltungsmöglichkeiten in den ärmeren Ländern erst durch eine verschärfte Entsenderichtlinie gehemmt und verhindert werden und anschließend Deutschland seinen Beitrag in den EU-Haushalt großzügig erhöht, um Transferleistungen für die hohe Arbeitslosigkeit im Süden Europas zu finanzieren.

Der Denkfehler dabei ist, den Binnenmarkt wie einen statischen Kuchen zu betrachten, der immer gleich groß ist. Dabei wächst der zu verteilende Kuchen in einer Marktwirtschaft. Er wird größer, bunter und schöner. Am Ende sind die Stücke für jeden größer und besser, wenn sich beide Seiten darauf einlassen. Einlassen heißt dabei, dass dies nicht automatisch passiert, sondern dass offene Märkte Anpassungen und Veränderungen erforderlich machen, ansonsten fallen Länder ökonomisch zurück. Mangelnde Anpassung kann aber nicht durch eine Verschärfung der Entsenderichtlinie verhindert werden, sondern die Fallhöhe steigt durch das Hinausschieben nur um so mehr. Wer dies nicht erkennt, akzeptiert, dass der Kuchen klein und hässlich bleibt, vielleicht sogar noch kleiner wird.

Das muss sich die SPD vorwerfen lassen. Sie will nicht wirklich, dass der Kuchen in der EU größer wird. Sie will ihr Klientel schützen. Und die Union muss sich vorwerfen lassen, dass sie dies zulässt und sich damit am Erbe von Ludwig Erhard versündigt.

Erstmals veröffentlicht bei Tichys Einblick.

Photo: Herb Neufeld from Flickr (CC BY 2.0)

Die Politik wird immer übergriffiger. Die projektierte Große Koalition will jetzt einen Minister für Heimat stellen. Das erinnert in geradezu grotesker Weise an George Orwells Buch „1984“. In solchen Bereichen hat der Staat in einer freiheitlichen Demokratie nichts verloren!

Selbstbeglücker statt Weltbeglücker

„Ministerium für Frieden“, „Ministerium für Überfluss“, „Ministerium für Liebe“, „Ministerium für Wahrheit“ – mit diesen vier Ministerien zeichnete Orwell in seinem Roman das Bild von einem Staat, der die volle Kontrolle über das Leben der Bürger übernimmt. Mit blumigen Worten wird die eiserne Faust geschmückt, die Selbstbestimmung und Selbstverantwortung erdrückt. Der dystopische Staat, den Orwell schildert, ist das Gegenteil der freiheitlichen Demokratie, die wir über Jahrhunderte in der westlichen Welt entwickelt, ja erkämpft haben. In ihr ist der Bürger ein selbstverantwortliches Individuum. Und der Staat ist eine Art Dienstleister, der nur innerhalb klar definierter Grenzen tätig werden darf. Unter all den Grenzen ist die Grenze der Selbstbestimmung die kostbarste, weil sie das Grundprinzip der freiheitlichen Demokratie, des Rechtsstaates und der Marktwirtschaft ist.

Die größten Feinde dieser modernen, aufgeklärten und zutiefst emanzipatorischen Staatsform sind die (vorgeblichen und überzeugten) Weltbeglücker. Während sie die Selbstbestimmung des Menschen zwar oft im Munde führen, sind ihre Taten in der Regel angetan, sie einzuschränken und zu ersetzen durch ihre scheinbar wohlwollende Fremdbestimmung. Das Gegenkonzept zu einer freiheitlichen Ordnung stammt aus alten Zeiten, als das Überleben abhing vom Zusammenhalt innerhalb kleiner Horden. Der Anführer, der weise Mann kannte sich aus und wusste, was das Beste ist für den Stamm. Darum vertrauten sich unsere Vorfahren seiner Leitung an. Die offene Gesellschaft ist ganz anders: Dank Wissenschaft und Technik, dank Institutionen und Regeln, dank Kommunikation und Kooperation ist es uns möglich geworden, diese Anführer loszuwerden und selber Frau oder Herr über unser Leben zu werden. Wir brauchen keine Weltbeglücker mehr – wir sind Selbstbeglücker geworden!

Die freiheitliche Demokratie lebt von der Zurückhaltung der Politik

In einer freiheitlichen Demokratie hat Politik die Aufgabe, zu organisieren. Das spiegelt sich tatsächlich auch sehr anschaulich wider in den Bezeichnungen der Ministerien: Eine Verkehrsministerin kümmert sich etwa um Autobahn- und Schienennetz. Ein Außenminister ist zuständig für Beziehungen mit anderen Staaten. Selbst wenn man in vielen Fällen der Ansicht ist, dass die Ministerien (viel) zu viele Aufgaben übernehmen, ist in der Regel klar, dass sie deutlich umrissene und klar zuweisbare Aufgaben haben. Was aber soll ein Heimatministerium für eine Aufgabe haben? Wie taucht der Bereich „Heimat“ im Bundeshaushalt auf? Welche exekutiven Befugnisse verbindet man mit diesem neuen Teilbereich des Innenministeriums?

Man kann dieses neue Ministerium auch als PR-Gag abtun. Ein netter Einfall des (noch-)CSU-Vorsitzenden, um die eigene Klientel zu beglücken. Man kann es als den Versuch der neuen Regierung interpretieren, verlorene AfD-Wähler zurückzuholen. Im Grunde genommen ist es aber vor allem eines: Eine ganz und gar unzulässige Überschreitung der Kompetenzen der Politik. Politik muss sich um konkrete Aufgaben kümmern. Man kann sich dann trefflich streiten, wie weit die Überwachung gehen soll, wie groß die Umverteilung sein soll oder welche Bildungsaufgabe wie finanziert und organisiert sein soll. Aber Politik darf sich nicht um Gefühle kümmern. Und Heimat ist keine klar umrissene Aufgabe, sondern ein durch und durch subjektives Gefühl. Was der Rostocker Werftarbeiter, die Saarbrücker Restaurantbesitzerin, der Kindergärtner im Prenzlauer Berg und die IT-Spezialistin aus Coburg unter Heimat verstehen, kann selbst von einem Herrn Seehofer nicht verstanden und erst recht nicht bedient werden.

Identitätspolitik: das Grundübel unserer Zeit

Ähnlich aberwitzig wie das neue Heimatministerium wäre es, wenn die SPD ein Ministerium für soziale Gerechtigkeit eingeführt hätte oder die Grünen eines für Genderfragen. Der Begriff Heimat bezieht seine Bedeutung daraus, dass er Identität stiftet. Man begreift Arnsberg, das Sauerland, Westfalen, Deutschland oder gar Europa irgendwie als Orte, denen man sich zugehörig fühlt – wegen der besonderen Küche, wegen der Sprache, der Schulklasse, der Architektur, der Landschaft, des Schützenvereins … Und jeder wird eine andere Mischung aus Gründen haben, warum er sich dort zuhause fühlt. Diese Identität ist immer etwas ganz und gar Singuläres. Das sagt schon die eigentliche Wortbedeutung.

Das Grundübel politischer Diskussionen in unserer Zeit ist das Thema Identität. Es gibt nichts Privateres als Identität. Dass diese Frage in die Politik gezerrt wurde, hat übergriffigen Politikern Tor und Tür geöffnet. Hier beginnt der Weg zurück in die Vormoderne – oder voran in Orwellsche Dystopien. Identitätspolitik ist so schwammig, dass sie sich demokratischer Kontrolle entzieht. Und gleichzeitig so gewalttätig, dass sie Diskurse verunmöglicht. Die Entprivatisierung, die Verstaatlichung, die Nationalisierung von Identität fügt der freiheitlich-demokratischen Ordnung mittel- bis langfristig einen schweren Schaden zu. Man sollte das Heimatministerium nicht als PR-Gag belächeln. Es ist weit mehr: Es ist der Einstieg in eine Politik, die nicht mit Argumenten und Zahlen argumentiert, sondern mit Gefühlen und Geboten – mit Moral. Wohin das führen kann, lässt sich in Venezuela und Kuba genau so beobachten wie in der Türkei und Russland. Politik darf nicht den Anspruch moralischer Führerschaft erheben – weder, wenn es um den Veggie Day geht, noch, wenn es um die Heimat geht. Denn, um den berühmten bayerischen Dichter Ludwig Thoma zu zitieren, „kein Laster ist so widerwärtig wie die Tugend, die sich vor der Öffentlichkeit entblößt.“

Photo: Nathan Anderson from Unsplash (CC 0)

Passend rund um das gerade stattgefundene Stelldichein beim Weltwirtschaftsforum in Davos werden von interessierter Seite wieder Verteilungsdebatten angezettelt. Oxfam und jetzt auch das DIW berechnen möglichst spektakuläre Vermögensvergleiche. Soundso viele Vermögende besitzen mehr als die Hälfte oder noch mehr des Vermögens der Weltbevölkerung. Das sei ungerecht. Die einen sprechen sich für globale Umverteilung aus, andere wollen große Vermögen im eigenen Land höher besteuern. In dieser aufgewühlten Zeit ist es daher schon ein Lichtblick, wenn ein Grüner nicht in diese Fanfare bläst. Deren Vordenker Ralf Fücks hat sich in einem erfrischenden Beitrag in der Welt ganz im Erhardschen Sinne für eine Politik ausgesprochen, die „Eigentum für alle“ zum Ziel hat. Also keine Vermögensteuer, sondern die Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Beteiligung der Bevölkerung am Produktivvermögen. Das ist schon einmal ein Anfang.

Das Auseinanderfallen von Vermögen und Erwerbseinkommen muss auch eingefleischte Marktwirtschaftler nachdenklich machen. Zwar sind die Ursachen nicht monokausal, sondern wahrscheinlich vielschichtig, aber sehr schnell kommen auch Marktwirtschaftler bei dieser Entwicklung in Erklärungsnot. Zumindest die Entwicklung der Vermögensgüter zeigt das. Allein die Vermögenspreise sind im dritten Quartal 2017 um 8,7 Prozent gestiegen, Betriebsvermögen sogar um 22,9 Prozent und Aktien um 13 Prozent. Und selbst Immobilien sind in diesem Zeitraum um 7,7 Prozent gestiegen. Seit 2009 sind Vermögenspreise insgesamt um rund 50 Prozent gestiegen. (Quelle: FVS Vermögensindex Q3-2017). Da ist im Vergleich die Entwicklung der Reallöhne von 2007 bis 2017 von nominal 22,7 Prozent (preisbereinigt 10 Prozent) dann doch eher überschaubar.

Sehr schnell sind viele da, ob bewusst oder unbewusst, bei den Theorien von Karl Marx, der das Anhäufen von immer mehr Kapital auf Kosten der Arbeiterklasse zum Gesetz erklärte und daher zum Klassenkampf aufrief. Daraus folgten und folgen vielleicht noch immer viele Tragödien des real existierenden Sozialismus. Doch es gibt auch eine marktwirtschaftliche Begründung für diese Entwicklung. Diese hat mit der Intervention des Staates in das Geldwesen zu tun. Geld und dessen Umlaufmenge ist heutzutage ein staatliches Produkt. Der Staat und seine dafür beauftragte Notenbank bestimmt direkt und mittelbar über die Kreditvergabe der Banken die Umlaufmenge des Geldes. Alleine in den letzten 10 Jahren ist im Euroraum die Geldmenge (M3) um jährlich 3,24 Prozent und in den letzten 20 Jahren sogar um 5,35 Prozent pro Jahr angestiegen. Das ist in allen Fällen höher als das jeweilige jährliche Wachstum im Euroraum. Dieses billige Geld sollte Konjunkturen befeuern, trieb aber tatsächlich die Aktien- und Immobilienpreise an. Die Liquiditätsschwemme führte und führt zu Blasen an den Märkten für Vermögensgüter, deren Platzen immer wieder durch noch billigeres Geld abgemildert oder verhindert wurden.

Das hat mit Marktwirtschaft nichts zu tun. Denn in einer Marktwirtschaft gehört das Ausscheiden einzelner Marktteilnehmer ebenso dazu wie deren Erfolg. Wer die Insolvenz von Unternehmen, Banken und Staaten verhindert, versündigt sich daher an der Marktwirtschaft und trägt zur ungerechtfertigten Schonung von Vermögen bei.

Die Wirkung der Geldmengenvermehrung auf die Marktteilnehmer und ihre Verteilungseffekte sind nicht neu. Der irische Ökonom Richard Cantillon beschrieb dies bereits im 18. Jahrhundert. Cantillon war der Meinung, dass eine Geldmengenausweitung nicht für alle gleichzeitig vorteilhaft sei, sondern diejenigen, die das neue Geld zuerst erhalten, profitieren zuerst von dieser Geldmengeninflation. Sie können zuerst mit dem neuen Geld arbeiten, bevor die Geldvermehrung bei allen Wirtschaftsteilnehmern angekommen ist. Die Nutznießer sind der Staat, die Banken und eben Vermögensbesitzer. Diejenigen die am Ende der Verwertungskette des neuen Geldes stehen, müssen höhere Preise bezahlen, sei es als Konsument, sei es als Mieter oder sei es als jemand, der Handwerkerleistungen in Anspruch nehmen will. Dieser Cantillon-Effekt ist Ursache dafür, dass Staat, Banken und auch Vermögensbesitzer tendenziell profitieren und Konsumenten, Handwerker und Arbeitnehmer eher die Nachteile zu tragen haben.

Die Ursache für das Auseinanderfallen des Vermögens im Verhältnis zum Arbeitseinkommen hat daher mit der Marktwirtschaft sehr wenig zu tun. Denn in einer Marktwirtschaft würde ein Marktzins existieren, der das Marktrisiko abbildet und gleichzeitig die Zeitpräferenz berücksichtigt. Das heißt, der zeitliche Verzicht des Geldhalters wird durch einen Preis (den Zins) belohnt, den der Kreditnehmer zu zahlen hat.

Und es ist auch deshalb keine Marktwirtschaft, weil in einer Marktwirtschaft die Insolvenz von Unternehmen, Banken und Staaten eine zwingende Voraussetzung ist. Das Ausscheiden aus dem Markt ist ebenso wichtig wie das Aufsteigen. Es ist die andere Seite der Medaille der Marktwirtschaft. Schließt man das Ausscheiden aus, dann können Banken mit sehr viel weniger Eigenkapital wirtschaften, Risiken zu Niedrigzinsen eingehen und ein viel größeres Rad drehen. Am Ende sind sie dann so groß, dass sie bei einer drohenden Schieflage immer wieder den Steuerzahler erpressen können. Wer die Marktwirtschaft retten will, muss hier ansetzen und die Manipulation des Zinses beenden.

Erstmals veröffentlicht bei Tichys Einblick.

Photo: Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0)

Von Marc Jacob, Betriebswirt, tätig im Bereich der Unternehmensfinanzierung.

Rekordeinnahmen und niedrige Arbeitslosenzahlen. Die Bundesrepublik Deutschland steht zu Beginn des Jahres 2018 in einer hervorragenden Position, um sich für die Aufgaben von Morgen bereit zu machen.  Doch die Sondierungsgespräche zwischen Union und SPD haben gezeigt – die Volksparteien haben keine neuen Ideen und verschlafen die Zukunft.  Dies ist tragisch.

Es ist nicht anzunehmen, dass bei den laufenden Koalitionsverhandlungen zwischen Union und SPD die Lektüre Sokrates zitiert wird oder eine andere Abhandlung jenes griechischen Philosophen, welcher einst die Stagnation als den Anfang vom Ende bezeichnete und mit dieser Feststellung die Koalitionsverhandlungen erheblich bereichern könnte. Denn die ersten Ergebnisse zeigen – den Parteien fällt nichts Neues ein, mehr als „Weiter so“ wird es mit der GroKo nicht geben.

Während die deutsche Wirtschaft weiter mit über 2% wächst und auch unsere europäischen Nachbarn mit substanziellen Verbesserungen der wirtschaftlichen Entwicklung glänzen können, trifft exakt diese Stagnation den politischen Betrieb in Berlin. Auch nach über 130 Tagen, seit der Bundestagswahl im vergangenen September, gibt es keine neue Bundesregierung. Während die Sondierungsgespräche und die Koalitionsverhandlungen, in denen nun endlich eine Regierung gebildet werden soll, von der alles überstrahlenden Flüchtlingsdiskussion dominiert werden, fällt das Thema der zukünftigen wirtschaftlichen Ausrichtung völlig unter den Tisch. Dabei sorgt die aktuelle hervorragende wirtschaftliche Situation überhaupt erst dafür, dass die Grundvorrausetzung für ein erfolgreiches Meistern der Flüchtlingssituation gegeben ist.

Sprudelnde Staatseinnahmen könnten dabei auch helfen, die Schwierigkeiten, vor denen die Bundesrepublik steht, zu lösen. In den verschiedensten Bereichen nagen andere Länder an der Substanz der Bundesrepublik. Die US-Steuerreform ist dabei nur eine Aktion von vielen, welche die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands angreift und dringenden Handlungsbedarf erzeugt.  Doch Deutschland ruht sich auf seiner aktuellen Position aus, neue Impulse für ein substanzielles Wachstum werden nicht gesendet.

Mit neuen Ideen für die Bildung, einer Verschlankung unserer Bürokratie und effektiven Maßnahmen in der Infrastruktur könnten substanzielle Investitionen getätigt werden. Besonders im Bereich der Infrastruktur könnten damit auch Impulse des Aufbruchs an die europäischen Nachbarstaaten gesendet werden. Stattdessen wurden schon in der letzten Wahlperiode mit falschen Entscheidungen, getriebenen durch ideologische Verbohrtheit, Branchen wie die Immobilienbrache und die Energiewirtschaft, mit Regularien überhäuft. Dies gilt auch für den Automobilbereich, jenen Sektor, welcher in Deutschland mit über 800.000 Beschäftigten einer der Motoren des aktuellen Aufschwungs ist.  Mit neuen Gesetzesvorhaben wird die Position Deutschland als uneingeschränkter Marktführer im Bereich Automobil nun von innen heraus angegriffen. Deutschland muss sich somit nicht nur der internationalen Konkurrenz stellen, sondern schafft seine Probleme selbst, eine groteske Situation.

Ein Ausblick nach vorne wird es in der kommenden Legislaturperiode nicht geben. Das Prinzip-Merkel, welches die Maxime der pragmatischen Politik vertritt, widerspricht dem Fortschrittsgedanken grundsätzlich. Dies ist besonders für die junge Generation tragisch, welche die Grundvoraussetzungen für eine prosperierende Zukunft überreicht bekommen sollten und stattdessen Probleme erben werden.

Während die Bundeskanzlerin in Davos noch mit ihrer Rede glänzte und zur zukünftigen Ausrichtung feststellte: „Wir müssen eher aufholen, als dass wir an der Spitze stehen“, wirken ihre Worte Zuhause eher wie Phrasen, als wie eine Ankündigung für neue Impulse. Die Ergebnisse der Sondierungsgespräche erzeugen hierbei eher den Eindruck, dass Deutschland nicht bereit gemacht werden soll für Industrie 4.0 und Digitalisierung. Es ist fast tragisch dabei zu sehen, dass eine CDU, welche sich einst durch wirtschaftliche Kompetenz auszeichnete, heute keine wirtschaftliche Agenda mehr zu haben scheint.

Es ist nun an der Zeit, dass diese Probleme erkannt und angepackt werden.  Start-ups treffen auf Regularien von Vorgestern, innovative Unternehmen verzweifeln an ineffizienten Behörden und das schon lange nötige Einwanderungsgesetz kommt über das Dasein als Diskussionsobjekt nicht hinweg.

Sokrates lehrte einst die Jugend das eigenständige Denken und die Strukturen zu hinterfragen, damit zog er den Zorn der Herrschenden auf sich. Auch heute wäre es die Aufgabe der jungen Generation, für neue Ideen und Denkanstöße zu sorgen. Die Entscheidungen von heute sind die Basis von Morgen, deshalb müssen die vorhandenen Spielräume dazu genutzt werden, um Chancen zu ergreifen und nicht um Klientelpolitik zu betreiben.

Die Weichen für den Erfolg von Morgen werden schon heute gestellt. In den kommenden Tagen haben Union und SPD noch die Chance, den Auftrag zur Gestaltung Deutschlands anzunehmen und damit die richtigen Weichen zu stellen. Sollte dies nicht geschehen, werden die kommenden vier Jahre nichts anderes als verlorene Jahre sein.

Photo: aitoff from Pixabay (CC 0)

Vor 200 Jahren wurde Karl Marx geboren. Der Marxismus ist am Ende, doch die Idee, die noch immer in geschlossenen, intoleranten und elitären Gesellschaften mündete, lebt fort. Der Kapitalismus könnte eine Gegenbewegung sein.

Marx und der Himmel auf Erden

Während Karl Marx in seiner Rolle als Mitbegründer der modernen Soziologie allzu häufig und sträflicher Weise unter den Tisch gekehrt wird, scheint die auf seinen Arbeiten aufbauende politische Ideologie doch mit Recht vollkommen aus der Zeit gefallen. Jede auch nur scheinbar nach marxistischen Prinzipien organisierte Gemeinschaft hat sich entweder insgeheim von Ursprungsidealen abgewandt (China) oder wird durch verheerende Armut zu Kompromissen gezwungen (Kuba).  Die Forderungen des kommunistischen Manifests reißen heute kaum noch jemanden vom Hocker. Es wirkt so als stünden wir tatsächlich an Fukuyamas „Ende der Geschichte“.

Doch das wahre Problem ist ein anderes: Es ist die Idee einer allumfassenden Lösung für die drängenden Probleme unserer Zeit. Bei Marx war dies Problem die (scheinbare) Armut der Arbeiterklasse, heute sind es Klimawandel und Globalisierung. Gerade in der jüngsten Generation sind diese Probleme sehr präsent. Eigentlich ein gutes Zeichen. Doch vielen reicht der individuelle Handlungsraum nicht mehr. Forderungen nach gesamtgesellschaftlichen Lösungen finden viel Zuspruch. Aber um es mit den Worten des österreichischen Philosophen Karl Popper zu sagen, „der Versuch, den Himmel auf Erden einzurichten, erzeugt stets die Hölle. Dieser Versuch führt zu Intoleranz, zu religiösen Kriegen und zur Rettung der Seelen durch die Inquisition.“

Die geschlossene Gesellschaft: Elitär und intolerant

Popper erläutert in seinem Buch „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“, wie universelle Heilsversprechen in sogenannte „geschlossene“ Gesellschaften führen. Die geschlossene Gesellschaft ist ideologisch festgelegt, etwa auf eine bestimmte Form der Güterverteilung, während sich die offene Gesellschaft im steten Diskurs weiterentwickelt. Es sind Mammutprojekte wie der Marxismus, die die negativen Folgen einer geschlossenen Gesellschaft besonders anschaulich machen.

Die geschlossene Gesellschaft ist zuallererst ein Elitenprojekt. Einige wenige sind derart überzeugt von ihren Visionen, dass sie sie einer ganzen Gesellschaft aufzwingen. Selbst wenn einige Lösungen vorrübergehend die Leben der Menschen positiv beeinflussen, so führt eine solche „top-down“ Organisation doch zwangsläufig zu Stillstand. Denn anstatt die Individuen, mit ihren Erfahrungen und Fehlern und dem daraus resultierenden Wissen in die Organisation der Gemeinschaft einzubeziehen, entscheiden hier nur die Eliten.

Gleichzeitig ist die geschlossene Gesellschaft zutiefst intolerant. Der Wert des Individuums ist für sie untergeordnet. Sie erkennt das Individuum letztlich nur an als Mittel zum Zweck, zum Aufbau und Erhalt des Systems. Der Wert individueller Lebensentwürfe, insbesondere, wenn sie von der Gemeinschaftsvorgabe abweichen, spielt keine Rolle. Verwirklichen kann sich in der geschlossenen Gesellschaft nur, wer der Norm entspricht. Das gilt paradoxerweise auch und gerade für geschlossene Gesellschaften, die sich die Verbesserung der individuellen Lebenssituation auf die Fahnen schreiben.

Der Kapitalismus ist ein Projekt der offenen Gesellschaft

Unter diesem Gesichtspunkt erscheinen viele Äußerungen in einem anderen Licht. Etwa die Forderung der ehemaligen Juso-Vorsitzenden  Johanna Uekermann, die mittlerweile im Präsidium der Bundes-SPD sitzt:

Ich möchte ein Wirtschaftssystem, das für die Menschen arbeitet und nicht für Konzerne und Profite und die Interessen von einigen wenigen. Menschen mit ihren Bedürfnissen und Wünschen in den Mittelpunkt stellen, das geht im Kapitalismus nicht.

Johanne Uekermann schreibt sich die „Bedürfnisse“ der Menschen auf die Fahnen und verkennt dabei, dass sie eigentlich eine brennende Kapitalistin sein müssten. Denn: Unter den richtigen Rahmenbedingungen, das heißt, wenn Rechtsstaatlichkeit und die Möglichkeit zum friedlichen Machtwechsel garantiert sind, ist der Kapitalismus ein Projekt der offenen Gesellschaft. Gerade in einer Marktwirtschaft werden die Bedürfnisse der Menschen in den Mittelpunkt gestellt. Unabhängig von vermeintlichen Systemzielen, wie sie in geschlossenen Gesellschaften propagiert werden. Man darf nur nicht den Fehler begehen und hinter jedem nicht befriedigten Bedürfnis eine unmenschliche Gemeinschaftsordnung vermuten.

Im Kapitalismus werden Toleranz gegenüber anderen Lebensentwürfen und bottom-up-Entwicklung wie in keiner anderen gemeinschaftlichen Organisationsform gelebt. Nahezu jedes Lebensziel ist in einer markwirtschaftlichen Ordnung verwirklichbar. Es ist mit anderen Lebensentwürfen vereinbar. Egal ob Investment-Banker, Öko-Aktivist oder Perpetual Traveller, alle können im Kapitalismus in einer Gemeinschaft leben, voneinander lernen und profitieren. Und vielleicht noch wichtiger: Der gut organisierte Kapitalismus funktioniert dezentral. Er überträgt möglichst wenige Kompetenzen an den zentral organisierten Staat. Das ermöglicht einen gemeinschaftlichen Innovationsprozess, der auf den individuellen Erfahrungen aller Menschen beruht.

Den Wettstreit der Ökonomen hat der Kapitalismus schon vor geraumer Zeit gewonnen, den Wettstreit der Herzen noch lange nicht. Gerade junge Menschen begeistert oft die Vision einer geplanten und mithin geschlossenen Gesellschaft, die mit alternativen Wirtschaftsformen all unsere Probleme löst. Der Kapitalismus sollte eine Gegenbewegung begründen. Nicht (nur), weil er zu mehr Wohlstand führt und ökonomisch Sinn ergibt. Sondern weil er als Projekt der offenen Gesellschaft, geprägt von Toleranz und Pluralismus, die Herzen erobern kann; vielleicht dann ja auch das von Johanna Uekermann.