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Für einen vermeintlich kostenlosen Verleih von Lastenrädern 153.000 Euro, 378.000 Euro Kaufzuschuss für Elektro-LKW, 718.000 Euro für Kunststoffe aus Kaffeesatz, 6 Millionen Euro für staatliche Reisebüros, 120.000 Euro für nachhaltige Recyclinghöfe in der Türkei und 1,5 Millionen Euro für Züge in Indien sind nur die offensichtlichsten Beispiele für falsche staatliche Lenkungspolitik. Man muss dem Bund der Steuerzahler dankbar sein, dass er diese Beispiele jedes Jahr in seiner Aktion „Frühjahrsputz“ auflistet.

Die Steuerzahlerschützer folgen einer grundsätzlichen Kritik an der Haushaltspolitik des Bundes. Die so hoch gepriesene Schwarze Null ist bei näherem Hinsehen ein Fake und alleine den steigenden Steuereinnahmen und den sinkenden Zinsausgaben geschuldet. Zwischen 1995 und 2017 sind die Zinsausgaben von 40,2 Milliarden Euro auf 17,5 Milliarden gesunken. Und die Steuereinnahmen stiegen in der gleichen Zeit von 187,2 Milliarden Euro auf 309,3 Milliarden Euro. Da wundert es nicht, dass die Geldausgeber im Vorteil sind. In den letzten zwei Jahren sind daher die Ausgaben ohne Zinsen im Bundeshaushalt um 11 Prozent gestiegen. Da können selbst die steigenden Steuereinnahmen nicht mithalten. Die Einnahmen des Bundes sind in gleicher Zeit lediglich um 6 Prozent in die Höhe gegangen. Daher basieren die hohen Überschüsse faktisch nur auf die zurückgehenden Zinsausgaben. Dafür kann der alte Finanzminister Wolfgang Schäuble, aber auch sein Nachfolger Olaf Scholz nichts, sie sollten sich aber auch nicht dafür feiern lassen. Sie können allenfalls Dankesbriefe an die EZB senden. Doch insgeheim machen sie das bereits. Sie schimpfen nicht auf die EZB. Das sagt schon viel aus. Nicht weil sie diese nicht kritisieren dürfen, sondern weil sie ihnen hilft, vermeintliche Wohltaten zu verteilen. Die EZB macht den Staat fetter, weil sie eine Haushaltssituation vorgaukelt, die mit einer realen Zinswelt nichts zu tun hat. Her mit dem Frühjahrsputz.

Das ermöglicht den paternalistischen Staat in Vollendung. Denn man muss sich schon fragen, warum die Bundesregierung den Bürgern so sehr misstraut und so wenig in die Kreativität der Unternehmen vertraut. Verdeutlicht wird dies durch die Tatsache, dass man sich im Bundesforschungsministerium nun darauf geeinigt hat, mit 8,2 Millionen Euro ohnehin schon große und erfolgreiche Big-Player wie etwa VW, BMW, Vodafone, Nokia oder Ericsson zu fördern, um Lösungen für das sogenannte „taktil vernetzte Fahren“ zu finden. Im Kern sollen Fahrzeuge untereinander und mit der Infrastruktur digital interagieren können.

Ist das eine Aufgabe des Staates? In einer Marktwirtschaft werden Lösungen kommen, sofern sie nachgefragt und praktikabel sind. Auch ohne Forschungsministerium und staatliche Subventionen! Her mit dem Frühjahrsputz. Offenkundig wird, dass der Staat ein Ausgabenproblem hat und da helfen nur liberale Konzepte: Zurück zur marktwirtschaftlichen Ordnungspolitik bei gleichzeitiger Entrümpelung im eigenen Laden, Schluss mit dem Verteilen der Goodies nach dem Gießkannenprinzip und zurück zu einer wahrhaftigen Prioritätensetzung bei den Staatsaufgaben, die letztendlich allen hilft und nicht nur den Wenigen.

Der Staat muss sich wieder auf seine Kernaufgaben beschränken. Her mit dem Frühjahrsputz. Bei all der Ineffizienz, bei all der regulatorischen Ungleichbehandlung durch den staatlichen Subventionsapparat, bei all den Marktverzerrungen, bei all den planwirtschaftlich anmutenden Verwerfungen braucht es wieder eine gesellschaftliche Generaldebatte über staatliche Kernkompetenzen! Und es braucht eine Debatte über die EZB. Sie muss ihre fatale Zinspolitik beenden. Je eher, desto besser. Her mit dem Frühjahrsputz.

Erstmals erschienen bei Tichys EInblick.

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Der spanische Philosoph José Ortega y Gasset (1883-1955) verfasste 1930 ein vielbeachtetes Essay „Der Aufstand der Massen“. Was als Abgesang auf die liberale Ordnung geschrieben war, liest sich heute mitunter wie eine Prognose auf Fake News, Populismus und Identitätspolitik.

Verwöhnte Kinder

Für Ortega, einen liberalen Republikaner vom alten Schlag, deutete sich in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg der Verlust der offenen, pluralen und dynamischen Gesellschaft an, die sein Altersgenosse Stefan Zweig in seinem ein Jahrzehnt später verfassten Buch „Die Welt von gestern“ so anschaulich und wehmütig beschreibt. Die Lektüre von Ortegas Text lohnt sich nicht nur für den Historiker. Es ist auch erstaunlich aktuell im Blick auf die Probleme, die heute auf unsere Gesellschaft zukommen. Corbyn und Orban, Trump und Maduro, Pegida und Campact – sie alle kann man in diesem Zeugnis europäischen Geistes wiederfinden.

Eine zentrale Rolle spielt in Ortegas zeitkritischem Rundumschlag der Gegensatz zwischen der Masse und den Eliten. Deshalb tun sich Kritiker leicht, ihm Snobismus vorzuwerfen. Weit gefehlt. So ungeschickt die Wortwahl gewesen sein mag. Er meint damit etwas ganz anderes: Masse bezeichnet hier keine gesellschaftliche Klasse, sondern eine Menschenklasse oder -art, die heute in allen gesellschaftlichen Klassen vorkommt. Er meint mit Masse Menschen, die es sich in der Bequemlichkeit des status quo einrichten. Die keine Ansprüche an sich, aber dafür umso mehr an die Gesellschaft haben. Die wie verwöhnte Kinder jetzt sofort ihren Willen durchsetzen wollen ohne überhaupt einen Gedanken an Voraussetzungen und Konsequenzen zu verschwenden. Insofern kann etwa das Staatsoberhaupt der USA durchaus als Teil der Masse begriffen werden

Die Herrschaft der Stammtische

Der Gegensatz dazu ist der elitäre Mensch. Das müssen weder Professoren noch Großbürger sein. Weder Abschluss noch Einkommen definieren für Ortega Elite, sondern Haltung. Elite sind Menschen, die Mühen auf sich zu nehmen bereit sind, um Verbesserung zu erreichen. Die die Bereitschaft aufbringen, auf andere zu hören, sie zu akzeptieren und von ihnen zu lernen. Es können also auch Menschen Elite sein, die völlig aus der üblichen sozioökonomischen Definition von Elite herausfallen. Letztlich beschreibt Ortega mit den beiden Begriffen Haltungen und Persönlichkeitstypen. Sein „Aufstand der Massen“ ist mithin eine Beschreibung der Revolte der Unvernunft, eine Art Gegenaufklärung.

Die Errungenschaften der Aufklärung im politischen Bereich sieht er gefährdet durch diejenigen, die ihrem Ethos der Anstrengung aus Bequemlichkeit und selbstverschuldeter Ignoranz entgegenstehen. Sie wollen die einfachen Lösungen. Und das hat durchaus Konsequenzen für grundlegende Prinzipien der freiheitlichen Demokratie. Deren wesentlicher Bestandteil ist der Schutz der Minderheit vor der Herrschaft der Mehrheit. Die Massenmenschen dagegen glauben, es sei ihr gutes Recht, ihre Stammtischweisheiten durchzudrücken und mit Gesetzeskraft auszustatten.Den Wust von Gemeinplätzen, Vorurteilen, Gedankenfetzen oder schlechtweg leeren Worten, den der Zufall in ihm aufgehäuft hat, spricht er ein für allemal heilig und probiert mit einer Unverfrorenheit, die sich nur durch ihre Naivität erklärt, diesem Unwesen überall Geltung zu verschaffen.

Sie verachten den Pluralismus der freiheitlichen Gesellschaft und das Konzept des Individualismus: Anderssein ist unanständig. Die Masse vernichtet alles, was anders, was ausgezeichnet, persönlich, eigenbegabt und erlesen ist. Wer nicht „wie alle“ ist, wer nicht „wie alle“ denkt, läuft Gefahr, ausgeschaltet zu werden. Hier hallt bereits der Ruf der heutigen Massenmenschen voraus: Der Kampf der „99 Prozent“ gegen „die da oben“, der angeblich traditionellen Werte gegen „Gayropa“. Der Liberale sucht nach Wegen der Kooperation und der Versöhnung, der Massenmensch hingegen braucht die Feindbilder, um sich selbst zu bestätigen: Der Liberalismus … verkündet den Entschluss, mit dem Feind, mehr noch: mit dem schwachen Feind zusammenzuleben. … Mit dem Feind zusammenleben! Mit der Opposition regieren! Ist eine solche Humanität nicht fast schon unbegreiflich? … Die Masse … wünscht keine Gemeinschaft mit dem, was nicht zu ihr gehört; sie hat einen tödlichen Hass auf alles, was nicht zu ihr gehört.

Hat sich der Liberalismus zu Tode gesiegt?

Auch die großen Narrative hat es damals schon gegeben. Ortega reagiert allergisch auf das Gerede über den Niedergang und besonders den Niedergang des Abendlandes und stellt fest: Es gibt nur einen bedingungslosen Niedergang; er besteht in einem Schwinden der vitalen Kräfte. Damit meint er die Bereitschaft der „Elite“, sich auf Neues einzulassen, nicht nur ökonomische, sondern auch kulturelle und gesellschaftliche Entrepreneure zu sein. Paradoxerweise hängt dieser tatsächliche Niedergang zusammen mit den beiden großen Erfolgen des 19. Jahrhunderts, die Ortega ausmacht: liberale Demokratie und Technik. Nicht unähnlich den Analysen von Hayek scheint es ihm, als ob sich diese Errungenschaften gewissermaßen zu Tode gesiegt hätten:

Der fortschrittliche Liberalismus wie der Marxsche Sozialismus setzen voraus, dass sich, was sie als beste Zukunft ersehnen, unabwendbar … verwirklichen wird. Durch diese Theorie vor ihrem eigenen Gewissen gedeckt, ließen sie das Steuer der Geschichte fahren, blieben nicht länger in Bereitschaft und büßten Beweglichkeit und Tatkraft ein. … Kein Wunder, wenn die Welt heute leer von Plänen, Zielsetzungen und Idealen ist. Niemand befasst sich damit, sie bereit zu halten. Das ist die Fahnenflucht der Eliten, die immer die Kehrseite zum Aufstand der Massen darstellt.

Die Verstaatlichung des Lebens und Identitätspolitik

Die Kombination aus dieser Antriebs- und Ziellosigkeit und dem mangelnden Bewusstsein für die Mühen, die es kostet, Wohlstand und Freiheit zu erhalten, führt zu einer Anspruchshaltung, die die dynamischen – vitalen, wie Ortega sagt – Kräfte zerstört: Die Lebenslandschaft der neuen Massen … bietet tausend Möglichkeiten und Sicherheit obendrein, und alles fix und fertig, zu ihrer Verfügung, unabhängig von einer Bemühung ihrerseits … Eben die Vollkommenheit der Organisation, die das 19. Jahrhundert gewissen Lebensordnungen gegeben hat, ist Ursache davon, dass die Massen, denen sie zugute kommt, sie nicht als Organisation, sondern als Natur betrachten. … nichts beschäftigt sie so sehr wie ihr Wohlbefinden, und zugleich arbeiten sie den Ursachen dieses Wohlbefindens entgegen. Da sie in den Vorteilen der Zivilisation nicht wunderwürdige Erfindungen und Schöpfungen erblicken, die nur mit großer Mühe und Umsicht erhalten werden können, glauben sie, ihre Rolle beschränke sich darauf, sie mit lauter Stimme zu fordern, als wären sie angeborene Rechte.

Da die Massenmenschen sich im Recht glauben, haben sie keine Hemmungen, Machtmittel einzusetzen, um ihren Willen zu verwirklichen. Sie haben die deutlichsten Vorstellungen von allem, was in der Welt geschieht und zu geschehen hat und dulden keine Abweichungen. Daher schließt Ortega, dass die größte Gefahr, die heute die Zivilisation bedroht, die Verstaatlichung des Lebens ist, die Einmischung des Staates in alles, die Absorption jedes spontanen sozialen Antriebs durch den Staat; das heißt die Unterdrückung der historischen Spontaneität, die letzten Endes das Schicksal der Menschheit trägt, nährt und vorwärtstreibt. Das führt unweigerlich zu dem, was wir heute mit dem Begriff Identitätspolitik bezeichnen. Politische Macht soll zu einem Mittel werden, mit dem die eigenen Wertevorstellungen durchgesetzt werden, weit über die unmittelbare Sphäre des Politischen hinaus: da der Massenmensch tatsächlich glaubt, er sei der Staat, wird er in immer wachsendem Maße dazu neigen, ihn unter beliebigen Vorwänden in Tätigkeit zu setzen, um so jede schöpferische Minorität zu unterdrücken, die ich stört, ihn auf irgendeinem Gebiet stört – in der Politik, der Wissenschaft, der Industrie.

„Verhandlungen, Normen, Höflichkeit, Rücksichten, Gerechtigkeit, Vernunft!“

Ortega, der die überlegenste Form menschlicher Beziehungen in dem Zwiegespräch sieht, diagnostiziert bei den Massenmenschen eine Tendenz zur Dialogunwilligkeit, die, je mehr sie betrieben wird, immer stärker in tatsächliche Dialogunfähigkeit umschlägt. Es sind die Menschen, die nicht mehr bereit sind, zuzuhören, dem anderen Raum zu geben. Es geht nicht mehr darum, in einem gemeinsamen Austausch von Argumenten einer Lösung näherzukommen: Wozu hören, wenn er schon alles, was not tut, selber weiß? Es ist nicht mehr an der Zeit zu lauschen, sondern zu urteilen, zu befinden, zu entscheiden. Das Parlament als Schwatzbude gehörte schon damals zum Vorwurfsrepertoire der Feinde der offenen Gesellschaft wie die Ablehnung von Experten: Das Neueste in Europa ist es daher, „mit den Diskussionen Schluss zu machen“, und man verabscheut jede Form geistigen Verkehrs, die, vom Gespräch über das Parlament bis zur Wissenschaft, ihrem Wesen nach Ehrfurcht vor objektiven Normen voraussetzt. Das heißt, man verzichtet auf ein kultiviertes Zusammenleben, das ein Zusammenleben unter Normen ist, und fällt in eine barbarische Gemeinschaft zurück.

Dabei ist die Fähigkeit und Bereitschaft zum Diskurs kein Mittel, um die Wahrheit zu verwässern, wie es oft von den Massenmenschen dargestellt wird, sondern gerade die einzige Möglichkeit, ihr näher zu kommen. Das gilt insbesondere im Blick auf die „Wahrheit“ im menschlichen Miteinander, die eben niemals eine feste Wahrheit, sondern ein beständiges Austarieren, Lernen und Weiterentwickeln ist. Diskurs ist der Nährboden der freien Gesellschaft: Verhandlungen, Normen, Höflichkeit, Rücksichten, Gerechtigkeit, Vernunft! Warum erfand man das alles? … Es dient dazu, die civitas, die Gemeinschaft, das Zusammenleben, zu ermöglichen. Diese zivilisatorischen Tugenden werden vom Massenmensch abgelehnt, weil er sie als hinderliche empfindet: Gleichgültig, ob er als Reaktionär oder Revolutionär maskiert ist, nach einigem Hin und Her wird er mit Entschiedenheit jede Verpflichtung ablehnen und sich, ohne dass er selbst den Grund dafür ahnte, als Träger unbeschränkter Rechte fühlen.

Das Unfehlbarkeitsdogma des Massenmenschen

Dieser Diskurs setzt freilich auch Respekt vor dem Prinzip der Vernunft und Rationalität voraus. Die Grundlage des Erfolgs von Fake News ist das Unfehlbarkeitsdogma des Massenmenschen: die Überzeugung, Wahrheit könne sich aus dem eigenen Gefühl beziehen. Weil einem selbst etwas plausibel erscheint, verzichtet man darauf, diese vermeintliche Wahrheit äußeren Umständen und anderen Menschen im Austausch auszusetzen.

Wahrscheinlich lässt sich ohnehin in Fragen des menschlichen Miteinanders nie die eine objektive Wahrheit finden. Umso wichtiger ist es allerdings, die Regeln des rationalen Diskurses einzuhalten, weil man sonst selber den Besitz der objektiven Wahrheit beansprucht, was jeglichen Diskurs vollständig verunmöglicht: Es gibt keine Kultur, wenn es keine Ehrfurcht vor gewissen Grundwahrheiten der Erkenntnis gibt. Wenn sich unser Partner in der Diskussion nicht darum kümmert, ob er bei der Wahrheit bleibt, wenn er nicht den Willen zur Wahrheit hat, ist er ein geistiger Barbar, … sind seine Gedanken in Wahrheit nur Triebe in logischer Verkleidung.

Dekontextualisierung: Bedrohung der Zivilisation

Einer der größten Fallstricke des Massenmenschen ist die Neigung zur Dekontextualisierung, die in einem engen Zusammenhang steht mit seiner Diskurs- und Rationalitätsverweigerung. Er hält sich selbst für den Maßstab, lehnt das Fremde ab und strebt nach der absoluten Herrschaft: Diese Selbstzufriedenheit führt ihn dazu, keine Autorität neben seiner eigenen anzuerkennen, auf nichts und niemanden zu hören, seine Meinung nicht in Zweifel zu ziehen und die Existenz des fremden Du zu ignorieren. Das innere Gefühl von Machtvollkommenheit reizt den homo vulgaris unausgesetzt, sein Übergewicht geltend zu machen. Er wird also handeln, als gebe es auf der Welt nur ihn selbst und seinesgleichen, und wird in alles hineinreden und ohne Rücksichten, Überlegungen, Vorbereitungen seine banalen Überzeugungen durchsetzen, gemäß einer „Taktik der starken Hand“.

Die Bejahung von Kontext ist freilich die Grundbedingung für das Entstehen von Zivilisation. Erst indem Kontext akzeptiert und wahrgenommen wird, wird Handel möglich, Wissensaustausch und Erkenntnisgewinn, Demokratie und Rechtsstaat. Kontext ist das Lebenselixier der offenen Gesellschaft. Besonders anschaulich wird das im Verhältnis des Massenmenschen zur Geschichte. Man begreift sich nicht als Teil eines evolutorischen Prozesses, als Ergebnis des Gewordenen und Motor des Werdenden. Vielmehr werden Punkte in der Vergangenheit oder Zukunft als absolutes Ideal dargestellt. Reaktionäre und revolutionäre Bewegungen haben gemeinsam, dass sie von mittelmäßigen, zeitfremden Männern ohne altes Gedächtnis und historischen Sinn geführt werden. Das Ergebnis sind Forderungen nach der Erhaltung eines völlig ahistorischen „Abendlandes“ oder nach der völlig utopischen weltweiten Gleichheit. Das Wissen um unser Eingebettet-Sein in einen geschichtlichen Kontext bewahrt uns vor Fehlern, ist essentieller Bestandteil des menschlichen Lernprozesses: Wir bedürfen der Geschichte in ihrem vollen Umfang, wenn wir ihr entfliehen und nicht in sie zurückfallen wollen.

„eine Überempfindlichkeit für Verantwortung wecken“

Ortega sieht mit großer Klarheit die Gefahren, die in der damaligen Zeit lauerten und in einem beispiellos brutalen Zeitalter europäischer Geschichte mündeten. Erschreckend, wie viele seiner Beobachtungen auch in der heutigen Zeit durchaus noch aktuell erscheinen, wenn man nach Polen oder Venezuela, nach China oder Russland oder auch vor die eigene Haustür blickt: Wer sich reaktionär und fortschrittsfeindlich gebärdet, tut es, um behaupten zu können, dass die Rettung von Staat und Volk ihm das Recht verleiht, alle anderen Gebote zu übertreten und den Mitmenschen zu zermalmen, besonders, wenn er eine Persönlichkeit von Format ist. Und dasselbe gilt für den Revolutionär. Seine scheinbare Begeisterung für den Handarbeiter und die soziale Gerechtigkeit dient ihm als Maske, um sich dahinter jeder Pflicht – wie Höflichkeit, Wahrhaftigkeit, vor allem Achtung und Bewunderung für überlegene Menschen – zu entziehen. Es können einem die Ohren klingeln, wenn man liest, wie er beobachtete: Angesichts von Europas sogenanntem Untergang und seiner Abdankung in der Weltherrschaft müssen Nationen und Natiönchen umherspringen, Faxen machen, sich auf den Kopf stellen oder sich recken und brüsten und als erwachsene Leute aufspielen, die ihr Schicksal selbst in der Hand halten. Daher die ‚Nationalismen‘, die überall wie Pilze aus der Erde schießen.

Es ist einmal wieder Zeit, für diejenigen, die Ortega als Eliten bezeichnet, die Hände aus dem Schoß zu nehmen und sich für die Auseinandersetzung zu rüsten. Verhandlungen, Normen, Höflichkeit, Rücksichten, Gerechtigkeit, Vernunft lauten die Antworten auf Autokraten, Populisten und Demagogen. All die vielen Errungenschaften von liberaler Demokratie und Technik dürfen uns nicht zu Selbstzufriedenheit verleiten. Sie müssen behütet und wieder und wieder errungen und ausgebaut werden. Ortegas Warnung aus dem Jahr 1930 gilt auch uns: Wer sich von der Strömung eines günstigen Laufs der Ereignisse forttreiben lässt, unempfindlich gegen die Gefahr und Drohung, die noch in der heitersten Stunde lauern, versagt vor der Verantwortung, zu der er berufen ist. Heute wird es notwendig, in denen, die sie fühlen können, eine Überempfindlichkeit für Verantwortung zu wecken.

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Von Dr. Alexander Fink, Universität Leipzig, Senior Fellow des IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues und Kalle Kappner, Promotionsstudent an der Humboldt-Universität zu Berlin, Research Fellow bei IREF, Fackelträger von Prometheus.

Die Regierungen der letzten Jahre haben zahlreiche Gesetze erlassen, um Deutschland aus ihrer Sicht umweltfreundlicher und vor allem sozial gerechter zu machen. Doch das Gegenteil ist der Fall: Die Zeche von Mietpreisbremse, PKW-Maut und EEG zahlen überproportional die einkommensschwächeren Haushalte.

Staatliche Regulierungen sollen Verhaltensänderungen bewirken, Risiken reduzieren oder zwischen Marktteilnehmern umverteilen. Insbesondere Regulierungen, die nicht allgemeiner Natur sind wie beispielsweise die Buchführungspflicht, sondern ausgewählte Güter oder Märkte betreffen, wirken jedoch regressiv. Sie verursachen also bei Menschen mit niedrigem Einkommen relativ höhere Kosten als bei Menschen mit hohem Einkommen. Drei jüngere Beispiele regulativer Eingriffe mit regressiver Wirkung sind das Erneuerbare-Energien-Gesetz, die Pkw-Maut und die Mietpreisbremse. Der regressive Charakter vieler spezifischer Regulierungen gibt weiteren Anlass, eine zurückhaltendere Rolle des Staates im Marktprozess zu befürworten.

Spezifische Regulierungen und ihre Ziele

Güterspezifische Regulierung kann verschiedenen Zielen dienen: Sie kann darauf ausgerichtet sein, Marktversagen zu korrigieren, gesellschaftlich unerwünschte Verhaltensweisen zu sanktionieren, Risikoexponiertheit zu mindern oder Ressourcen an Bedürftige umzuverteilen. Schwer zu rechtfertigen sind hingegen Regulierungen, die weniger Wohlhabende relativ zu ihrem Einkommen stärker belasten als Wohlhabende. Das erklärte Ziel moderner Sozialstaaten ist es, Einkommen anzugleichen, statt sie zu spreizen.

Weshalb kommt es dennoch zu regressiv wirkender Regulierung? In einigen Fällen ist die regressive Wirkung vermutlich schlicht eine unintendierte Nebenfolge, in anderen Fällen ein bewusst durch einflussreiche Interessengruppen angestrebtes Ergebnis. Die Präferenzen wohlhabender Wähler werden im politischen Prozess überproportional berücksichtigt: Sie gehen öfter wählen, betreiben erfolgreicher Lobbyarbeit und politische Entscheidungsträger sind selbst oft wohlhabend und neigen dazu, die Interessen von ihnen ähnlichen Menschen stärker zu gewichten. Regulierungen mit unintendierten Nebenfolgen werden daher mit einer höheren Wahrscheinlichkeit abgewendet oder angepasst, wenn sie Wohlhabende relativ stärker belasten. Ob intendiert oder nicht, regressive Effekte sind zu erwarten.

Regulierungen der Großen Koalition

Beispiele für marktspezifische Regulierungen, die weniger Wohlhabende relativ stärker belasten, liefern jüngste Maßnahmen der Großen Koalition. In der aktuellen Legislaturperiode wurden rund 500 neue Gesetze verabschiedet. Zu den wichtigsten Eingriffen in spezifische Märkte gehören die Mietpreisbremse, die Pkw-Maut und eine Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes. Wenngleich sich Vertreter der Regierungskoalition damit brüsten, die Interessen der weniger Wohlhabenden zu vertreten, haben die genannten Regulierungen regressive Wirkungen.

Beispiel 1: Mietpreisbremse

Die 2015 in Kraft getretene Mietpreisbremse soll die in Mietverträgen vereinbarte Miethöhe auf maximal 10 % über der ortsüblichen Vergleichsmiete deckeln. Sie verfolgt damit ein Umverteilungsziel – von Vermietern zu Mietern. Zwar gibt es Hinweise darauf, dass die Preisbremse von vielen Mietern bewusst ignoriert wird, doch in dem Maße, in dem sie greift, wirkt sie regressiv.

Als mehr oder weniger flexible zusätzliche Preisobergrenze schwächt die Mietpreisbremse die Reaktion der Angebotsseite auf den Mietanstieg ab. Steigen wie seit einigen Jahren vor allem in Ballungsgebieten die Mieten an, reduziert die Mietpreisbremse den Umfang der aufgrund des Mietanstiegs neu gebauten Wohnungen. Anstatt vornehmlich zu mietsenkenden Mengenanpassungen durch Angebotsausweitungen, kommt es mittelfristig zu einem stärkeren Preisdruck. Preisanstiegen schiebt die Mietpreisbremse jedoch einen Riegel vor. Der Preis kann also die angebotene und nachgefragte Menge an Wohnungen nicht ausgleichen.

Halten sich die Marktteilnehmer an die Regeln der Mietpreisbremse, übersteigt die Nachfrage das Angebot und viele Wohnungssuchende verbringen viele Stunden in Treppenhäusern. Dass unter vielen Bewerbern um eine Wohnung gerade diejenigen mit relativ niedrigen Einkommen zum Zuge kommen, ist unwahrscheinlich. Greift die Mietpreisbremse und werden ihre Regeln beachtet, leiden also weniger Wohlhabende unter der schleppenden Ausweitung des Wohnungsangebots, während Wohlhabende relativ günstige Wohnungen beziehen können.

Führt die Mietpreisbremse dazu, dass auch lanfgristig weniger Wohnungen angeboten werden, leiden unter höheren Mieten sowohl Wohlhabende als auch weniger Wohlhabende. Aber die weniger Wohlhabenden trifft es stärker, geben sie doch einen größeren Teil ihres Einkommens fürs Wohnen aus.

Beispiel 2: Erneuerbare-Energien-Gesetz

Das Gesetz für den Ausbau erneuerbarer Energien (EEG) geht auf das Jahr 2000 zurück, wurde von der derzeitigen Regierungskoalition aber zwei Revisionen unterzogen und marginal marktkonformer ausgestaltet. Es dient dem erklärten Ziel, die Risiken des Klimawandels durch geringeren CO2-Ausstoss zu mindern und hat keine offizielle Umverteilungsfunktion. Dennoch ist die regressive Verteilungswirkung des EEG wohlbekannt.

Im Rahmen des EEG wird die private Stromeinspeisung aus erneuerbaren Energieträgern subventioniert. Davon profitieren Menschen, die in förderwürdige Energiequellen investieren oder Stakeholder entsprechender Unternehmen sind – das sind tendenziell Wohlhabende. Finanziert wird die Subvention über eine von allen entrichtete Umlage auf den Strompreis, der bei Geringverdienern einen größeren Anteil der Ausgaben ausmacht als bei Wohlhabenden. Auch der nun eingeleitete Übergang von fixen Einspeisevergütungen zu Ausschreibungen beseitigt den regressiven Charakter des EEG nicht.

Die regressive Wirkung des EEG kommt auch zum Tragen, wenn dessen tatsächliche Bedeutung für den Klimaschutz bewertet wird. Im Rahmen des EU-Emissionshandels werden in Deutschland erfolgende CO2-Einsparungen durch höhere Emissionen in anderen Ländern kompensiert – eine direkte klimapolitische Wirkung hat das EEG also nicht. Das Klimawandelrisiko senkt es nur insofern, als es den Ausbau erneuerbarer Energien bis hin zur Marktreife beschleunigt und mittelfristig auch zur Verbreitung dieser auch in anderen Ländern beiträgt. Eine derart teure Maßnahme zur Risikoreduktion mag den Präferenzen wohlhabender Wähler entsprechen, würde durch weniger Wohlhabende privat aber kaum nachgefragt.

Beispiel 3: Pkw-Maut

Die vor einigen Monaten in Kraft getretene Pkw-Maut auf deutschen Fernstraßen hat viele Ökonomen enttäuscht: Statt kilometergenaue, nutzungsabhängige Gebühren zu erheben, wird lediglich die Zugangsberechtigung in Form einer Vignette bepreist. Zwar müssen ausländische Fahrer in Zukunft stärker für durch sie verursachte Kosten aufkommen und Menschen, die Fernstraßen nie nutzen, werden entlastet.

Doch innerhalb der Gruppe inländischer Fernstraßennutzer profitieren Vielfahrer auf Kosten von Wenigfahrern. Menschen mit höherem Einkommen sind im Schnitt mobiler und nutzen Autos häufiger. Würden Fernstraßen über an das tatsächliche Nutzerverhalten gekoppelte Gebühren finanziert, etwa mittels Mautstation oder GPS-Ortung, so könnte die faktische Subvention von Vielfahrern mit tendenziell höherem Einkommen durch Wenigfahrer mit niedrigerem Einkommen vermieden werden.

Unerwünschte Umverteilung vermeiden

Die Große Koalition der Jahre 2013-2017 hat wie ihre Vorgängerregierungen viele Gesetze mit dem Anspruch auf den Weg gebracht, Ressourcen an Bedürftige umzuverteilen. Doch regressiv wirkende Gütermarktregulierungen wie die Mietpreisbremse, die Pkw-Maut und das novellierte Erneuerbare-Energien-Gesetz konterkarieren dieses Ziel.

Über regressive Verteilungswirkungen marktspezifischer Regulierungen wird selten diskutiert, doch sind sie weder überraschendes Ergebnis des demokratischen Prozesses, noch bilden sie ein zu vernachlässigendes Randphänomen. Unerwünschte Verteilungswirkungen regulativer Eingriffe sollten stärker berücksichtigt werden und der Regulierungsrahmen sollte marktkonformer sowie verteilungsneutraler gestaltet werden.

Zuerst erschienen bei IREF.

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Die sozialpolitische Diskussion in Deutschland verläuft etwas schief. Das zeigt die Diskussion um die Formulierung des neuen Gesundheitsministers Jens Spahn, der in einem Interview gesagt hat: „Die Tafeln tragen dafür Sorge, dass Lebensmittel nicht weggeworfen werden. Damit erfüllen sie eine wichtige Aufgabe und helfen Menschen, die auf jeden Euro achten müssen. Aber niemand müsste in Deutschland hungern, wenn es die Tafeln nicht gäbe. Wir haben eines der besten Sozialsysteme der Welt.“ Spahn hat durchaus recht damit. Zum einen ist es gut, dass Lebensmittel nicht weggeworfen werden, sondern Verwendung finden. Zum anderen ist es richtig, dass die Anzahl der Tafeln in Deutschland nichts über die Armut in Deutschland aussagt. Tatsächlich ist die soziale Grundsicherung, auch im Vergleich zu Nachbarstaaten, auf sehr hohem Niveau.

Doch befähigt unser Sozialsystem zur Selbsthilfe? Unser Sozialsystem erinnert ein Stück an die Geschichte von Sankt Martin, der seinen Mantel teilt, um ihn dem Bettler am Wegesrand zu schenken. Damit hat er erste Hilfe geleistet. Das ist wichtig und notwendig. Aber befähigt dies den Bettler ein selbstbestimmtes Leben zu führen? Wohl nicht. Ein liberales Gesellschaftsbild würde hier eher einen Unternehmer sehen, der den Bettler erstversorgt und ihm anschließend seinen Fähigkeiten entsprechend eine Arbeitsstelle im Unternehmen anbietet, die ihm erlaubt, eine Wohnung zu mieten und seine Familie zu ernähren. Hilfe zur Selbsthilfe ist dabei das Stichwort. Diesen Ansatz verstehen staatliche Institutionen zu wenig. Besser geeignet ist dafür eine aufgeweckte Bürgergesellschaft. Vielleicht erfährt diese Bürgergesellschaft bald wieder eine Renaissance. Anlass für diese Renaissance könnte der 130. Todestag von Friedrich Wilhelm Raiffeisen sein.

Die Not der Landbevölkerung veranlasste im 19. Jahrhundert Friedrich Wilhelm Raiffeisen zum Handeln. Als Bürgermeister von Weyerbusch (Westerwald) gründete er im Hungerwinter 1846/47 den „Verein für Selbstbeschaffung von Brod und Früchten“.

Mit Hilfe privater Spenden kaufte er u. a. Mehl. In einem selbsterrichteten Backhaus wurde Brot gebacken, das auf Vorschuss an die Bedürftigen verteilt wurde. Der „Brod-Verein“ und der „Heddesdorfer Wohltätigkeitsverein von 1864“ waren die ersten vorgenossenschaftlichen Zusammenschlüsse und der Beginn der weltweit erfolgreichen genossenschaftlichen Bewegung.

Ein anderes Jubiläum steht in diesem Jahr ebenfalls an. Vor 150 Jahren, am 04.07.1868, wurde das Genossenschaftsgesetz im Bundesgesetzblatt des Norddeutschen Bundes veröffentlicht. Es war das Ergebnis eines langen politischen Kampfes, den der Liberale Hermann Schulze-Delitzsch leidenschaftlich führte. Weil Arbeiter und Gewerbetreibende keine Kredite bekamen, um Investitionen zu tätigen, gründete Schulze-Delitzsch „Vorschussvereine“. Es waren die Vorläuferorganisationen der heutigen Volksbanken. Sie waren lokal verankert und kümmerten sich um die originären Themen, die ihre Mitglieder betrafen.

Der Sachse Schulze-Delitzsch wollte den „Vereinigungen der kleinen Leute“ die gleichen Rechte wie den „Vereinigungen der Wohlhabenden“ ermöglichen und diese von der „Willkür der Verwaltungsbehörden“ befreien. Diese Unabhängigkeit vom Staat setzte für ihn zwei wesentliche Dinge voraus: Zum einen die solidarische Hilfe der Genossenschaftsmitglieder für den gemeinsamen Zweck, aber gleichzeitig auch die solidarische Haftung aller Mitglieder (Genossen). Viel mehr an Regulierung brauchte es nicht und braucht es wohl auch künftig nicht. Das Genossenschaftswesen ist eine echte liberale Alternative zu den oftmals ineffizienten, unpersönlichen Gießkannenaktionen, die wir aus dem Bereich des Wohlfahrtsstaates nur allzu gut kennen. Sie ist eine dezentrale Antwort auf große und vielfältige sozialpolitische Herausforderungen. Der großartige Genossenschaftsgedanke verbindet zivilgesellschaftliches Engagement mit ökonomischer Tatkraft, wahrhaftige Solidarität mit Unternehmergeist. Anders als in einem anonymen Sozialstaatskonstrukt sind die Armen und Schwachen nicht bloß Bittsteller und Almosenempfänger, sondern eigenständige Individuen, die freiwillig kooperieren, um ihre Notlagen gemeinschaftlich zu lösen.

Kritisch hinterfragen muss man nicht nur die Ineffizienz der gegenwärtig bestehenden sozialstaatlichen Strukturen, sondern auch deren moralische Integrität. Ist Wachstum im Sozialstaat per se schon eine segensreiche Komponente? Wird unsere Gesellschaft durch einen immer schneller wachsenden Sozialstaat schon „sozialer“? Führt die etatistische Mentalität hierzulande, die sich durch die wachsende Anspruchshaltung gegenüber staatlichen Leistungen manifestiert, nicht letztendlich zu einem zu tiefst undemokratischen Verteilungskampf um die vorhandenen Ressourcen? Kann sozialer Frieden dadurch langfristig gewährleistet werden? Oder bedarf es hier nicht zivilgesellschaftlichen Engagements, das Probleme persönlicher und ehrlicher löst, als es der Staat jemals könnte?

Es zeigt sich, dass viele gesellschaftliche Probleme unserer Zeit auch privatwirtschaftlich zu lösen sind und nicht immer über klebrige und ineffiziente staatliche Umwege geleitet werden müssen. Vom staatlichen Umweg profitieren nämlich nicht die Bedürftigen selbst, sondern in erster Linie das bürokratische System. Denn wirklich sozial ist nicht der Staat, sondern der Einzelne durch sein selbstbestimmtes Handeln.

Erstmals veröffentlicht bei Tichys Einblick.

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Alle sprechen über Armut und alle meinen etwas anderes. Eine Reise in den Zahlendschungel zeigt: wir sollten aufhören Menschen arm zu rechnen und stattdessen positiv in die Zukunft blicken.

Natürlich hat Jens Spahn Recht

Natürlich hat Jens Spahn recht, wenn er sagt „Hartz IV bedeutet nicht Armut“. Das gilt zumindest so lange, wie wir ein vernünftiges Maß für den Armutsbegriff annehmen. Wie so häufig, wird die Auseinandersetzung durch Dramatik bestimmt – auf Kosten einer präzisen Definition. Kaum eine Debatte wird so ziellos, so ideologisch geführt, entbehrt so sehr einer einheitlichen Begrifflichkeit wie jene um Armut. Gemessen werden gänzlich verschiedene „Typen“ von Armut. Ganz grob gibt es die „relative Armut“ einerseits, die Armut in Relation zum Einkommen einer gesamten Gruppe misst, und die durch ein bestimmtes Ausgabenniveau festgelegte „absolute Armut“ andererseits.

Absolut Arme gibt es in Deutschland nicht

Der Begriff der absoluten Armut ist leicht erklärt. Auf Grundlage verschiedenster Parameter berechnet die Weltbank ein tägliches Einkommen, unter dem ein Mensch als „absolut arm“ gilt, also finanziell nicht dazu in der Lage, die einfachsten Grundbedürfnisse zu befriedigen. Aktuell beträgt die weltweite absolute Armutsgrenze 1,90 US-Dollar (KKP 2011). Während 1981 noch sage und schreibe 42,2 % der Weltbevölkerung unterhalb der absoluten Armutsgrenze lebten, waren es 2013 nur noch 10,7 %. Tendenz weiter sinkend. Die Welt sieht also tatsächlich dem Ende der absoluten Armut entgegen. Ein beispielloses Produkt der Globalisierung und des Fortschritts der letzten 50 Jahre. Glücklicherweise müsste in Deutschland dank Grundsicherung niemand unterhalb der Armutsgrenze leben, niemand ist wirklich „arm“. Etwas andere zu behaupten verspottet die noch immer 700 Millionen wirklich Armen dieser Welt.

Was misst die relative Armut wirklich?

Um im deutschen Kontext trotzdem von Armut sprechen zu können, wird insbesondere auf dem linken Flügel gerne die relative Armut (auch Armutsrisiko genannt) verwendet. Relativ arm ist, wer weniger als einen bestimmten Anteil (40, 50 oder 60 %) des mittleren Einkommens zur Verfügung hat. Und das waren laut OECD im Jahr 2014 immerhin 9,5 % aller Deutschen. Um den Mittelwert zu bestimmen, wird der Median verwendet, also der Wert, der an der mittleren Stelle steht, wenn man alle Einkommen aufsteigend nebeneinander auflistet.

Wie viel Informationsgehalt über die ökonomische Situation der Geringverdiener steckt in der „relativen Armut“? Anders als von Kritikern häufig behauptet, führt ein steigendes Einkommen bei den 49 % am besten Verdienenden nicht zu einer höheren Armutsquote. Macht das die relative Armut zu einem guten Maßstab? Nein: denn steigen beispielsweise die mittleren Einkommen, während die unteren Einkommen gleich bleiben, sind qua Definition mehr Menschen arm. Und das, obwohl die unteren Einkommensgruppen die gleiche Kaufkraft haben wie zuvor. Verdoppeln sich hingegen alle Einkommen in einer Gesellschaft, sind trotzdem genauso viele Menschen „relativ arm“ wie zuvor. Und das, obwohl sich die Situation der unteren Einkommensklassen in diesem Szenario deutlich verbessert hat. Und absurderweise wäre eine Gesellschaft, in der 51 % aller Menschen genau 1,90 US-Dollar pro Tag zur Verfügung haben, während die anderen 49 % 1 Million Euro pro Trag verdienen, gänzlich frei von relativer Armut. Die relative Armut misst also vor allem die Einkommensungleichheit der 51 % weniger verdienenden einer Gesellschaft.

Sicher ergibt es Sinn, zu messen, wie viele Menschen nicht am – ohne Frage ungemeinen – Wohlstand unserer Gesellschaft teilhaben können. Hierfür wird im Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung der Anteil der Personen mit „erheblichen materiellen Entbehrungen“ erhoben. Dies sind Menschen die keinen Zugang zu mindestens vier von neun vorher definierten Bereichen (bspw. Auto, Waschmaschine, einwöchiger Urlaub pro Jahr) haben. Im Jahr 2015 waren dies lediglich 4,4 % aller Deutschen. Und anders als die relative Armut sinkt dieser Wert seit 2008 (5,5 %) stetig. Selbstverständlich kann man die Güterzusammenstellung kritisieren, aber dieser Kennwert zeigt zumindest eine interpretierbare Tendenz: Und diese ist positiv!

Der Zahlendschungel verstellt den Blick auf den unfassbaren Erfolg der Menschheit

Überhaupt verschleiert der Zahlendschungel den Blick auf die wirklich wichtigen Nachrichten: Noch nie waren prozentual weniger Menschen auf unserem Globus absolut arm. Die Lebenserwartung in Deutschland steigt stetig und noch nie hatten die Deutschen so viel Freizeit zur Verfügung und waren so mobil wie heute. Es gehört wohl unausweichlich zum politischen Betrieb, mit immer neuen Zahlenspielen anzukommen, die den Menschen weismachen sollen, es ginge ihnen stetig schlechter. Schließlich gibt es kaum ein Thema, das so gut geeignet ist, zu rechtfertigen, dass Politiker aktiv werden müssen – und deshalb gewählt werden müssen.

Stattdessen sollten wir positiv in die Zukunft schauen, uns des unfassbaren Fortschritts der letzten 200 Jahre genauso bewusst sein wie der immer noch gewaltigen Herausforderungen, vor denen die Menschheit steht. Vor allem aber sollten wir uns des Rezeptes bewusst sein, das diese Entwicklung ermöglicht hat. Dessen Hauptzutat ist die individuelle Fähigkeit, in allen Lebensbereichen Probleme zu lösen. Und Politik sollte letztlich immer das Ziel haben, diese Fähigkeit zu fördern: durch Bildung und die Sicherstellung von inklusiven und rechtsstaatlichen Institutionen, ohne sie dabei (aus Versehen) zu beschränken.