Apropos Gesellschaft. Hier empfehle ich mit dem 1931 erschienenen Buch „Die geistige Situation der Zeit“ das wohl populärste Werk des deutschen Philosophen Karl Theodor Jaspers. In seiner Niederschrift beleuchtet Jaspers die moderne Gesellschaft und den Massenmenschen im Lichte einer Rationalisierung und Universalisierung der Daseinsordnung. Was in Jahrtausenden die Welt der Menschen war, scheint heute zusammenzubrechen. Längst hat sich der Mensch dem blinden Fortschrittsgedanken verschrieben. In einer Zeit, in der Funktionalität, wirtschaftlicher Erfolg und Bedarfsbefriedigung im Vordergrund stehen, scheint der Mensch allein darin aufzugehen, was nur Mittel, nicht Zweck, geschweige denn Sinn sein sollte. Ein Leben im Apparat der Nützlichkeit, das zwar materiell abgesichert, jedoch auf die Trivialität des Genießens reduziert ist. Eigenes Denken und Handeln wird für große Teile der Gesellschaft zur blanken Zumutung.
Es ist die große Leistung Jaspers, vor dem Hintergrund der anonymen Massengesellschaft eine Philosophie zu lancieren, die beim Individuum ansetzt und zum Wir übergeht. Obschon Anfang der 1930er-Jahre und damit inmitten des beginnenden Aufstiegs des Nationalsozialismus in Deutschland entstanden, reicht Jaspers scharfsinnige Zeitdiagnose bis in die Gegenwart und sagt Einiges über die herrschenden Zustände im 21. Jahrhundert aus.
Notabene: Eine vergleichbare und gleichfalls empfehlenswerte zeitgenössische Kritik an der modernen Massengesellschaft äußert auch José Ortega y Gasset in seinem Werk „Der Aufstand der Massen“ – wie auch Jaspers Buch zu finden in der Bibliothek des Liberalismus.