„Es ist fraglich, ob der der Mitte zugeneigte Charakter der Deutschen sich hätte so entscheidend radikalisieren lassen, wenn nicht ein anderes Bild vor Augen getreten wäre, dessen Lockung er in zunehmendem Maße unterlag: Die Faszination durch die Regierungsführung der Diktatur. … Die Abdankung der Selbstentscheidung, die Ausschaltung der freien Selbstbestimmung zugunsten des Führerideals ist die Reflexwirkung jener Überspannung des Politischen, die seit bald zwei Jahrzehnten die gegenwärtige Generation in Atem hält.“

Klingt alles recht bekannt, oder? Diese Beobachtungen stammen aus dem Anfang der 1930er Jahre entstandenen Buch „Apologie des liberalen Staatsdenkens“ des Juristen und Politiktheoretikers Karl Loewenstein (1891-1973), das im letzten Jahr erschienen ist, nachdem der Münsteraner Nachwuchswissenschaftler Michael Kubitschek es aus Archivtiefen in Massachusetts gezogen und anschließend editiert hat. Der erfolgreiche Rechtsanwalt Loewenstein, der seit 1931 als Privatdozent an der Universität in München lehrte, wurde als Jude im Herbst 1933 aus dem Unibetrieb ausgeschlossen und verließ Deutschland im Winter des gleichen Jahres in Richtung USA. Dort wirkte er wissenschaftlich und aktivistisch und entwarf unter anderem das Konzept der „militant democracy“, der streitbaren oder wehrhaften Demokratie. Wie in einem Brennglas finden sich auch heute höchst aktuelle Fragen in seiner Streitschrift wieder, die schmal genug ist, um sie an einem Nachmittag sorgfältig durchzulesen, und dicht genug, um noch lange Zeit darüber nachzudenken.