Photo: Bankenverband from Flickr (CC BY-ND 2.0)
Der Überwachungsstaat ist präsenter denn je: Videokameras allenthalben, Vorratsdaten-Speicherung, Email- und Telefonüberwachung. Wen da schon ein ungutes Gefühl beschleicht, der möge sich warm anziehen: Die neue Stufe besteht nämlich in der Verbindung aus Big Data und Paternalismus …
Betreutes Wohnen für alle
Den Nachtwächterstaat kennt man nur noch aus den Schauermärchen längst vergangener Tage. Der Homo Oeconomicus ist ohnehin schon vor Jahrzehnten mit dem Bannfluch belegt worden. Und selbst der mündige Verbraucher ist inzwischen im Deutschen Historischen Museum eingemottet worden – irgendwo zwischen Wirtschaftswunder und Sexueller Revolution. Als wahrhaft aufgeklärte Menschen wissen wir, dass wir so sehr durch Umstände getrieben, durch Herkunft geprägt und durch fremde Mächte manipuliert sind, dass Freiheit und Selbstbestimmung doch eigentlich nur Illusionen sind. Fragen Sie mal Ihren Hirnforscher oder Neurologen!
Ein adäquates Mittel, um unsere defizitäre Vernunft auf die rechte Bahn zu bringen, will uns das Konzept des Nudging an die Hand geben. Mittels kleiner Stupser werden wir angeregt, das zu tun, wonach uns ja eigentlich der Sinn steht – oder stehen sollte. Wenn da nur nicht die Umstände, die Faulheit, die Ignoranz im Wege stünden. Nudging ist so ein bisschen wie betreutes Wohnen. Das gewohnte Umfeld bleibt erhalten, man fühlt sich wie zuhause. Aber irgendjemand passt immer auf, dass man keine Dummheiten anstellt. Diese mit mehr Kompetenz und Weitsicht ausgestatteten Betreuer sind die Politiker und Bürokraten.
Personalisiertes Nudging
Das Nudging steckt allerdings noch ein wenig in den Kinderschuhen. Es berücksichtigt zum Beispiel nicht, dass nicht alle Menschen gleich sind. Das neue Verbraucherleitbild des Verbraucherschutzministeriums geht auf diese Problematik ein, nachdem es den mündigen Verbraucher in die ewigen Jagdgründe verbannt hat. Drei Verbrauchertypen tauchen da auf: Der verletzliche Verbraucher: im Prinzip Cindy aus Marzahn. Der vertrauende Verbraucher: das sind Sie und ich. Normale Menschen, die wissen, dass zu viel Cola ungesund ist, aber dann doch alles glauben, was auf der Packung steht. Und schließlich der verantwortliche Verbraucher: also die Leute, die den ganzen Tag nichts anderes machen, als sich über Zusatzstoffe, Vertragsklauseln und die neuesten Skandale zu informieren.
So weit, so gut: Immerhin haben wir schon einmal ein wenig Differenzierung in die Verbraucherschutzpolitik hineingebracht. Aber da ist noch sehr viel Raum nach oben! Was wäre das doch für eine schöne neue Welt, in der Sie Ihre persönlichen, maßgeschneiderten Nudges hätten! Schließlich machen Sie ja andere Fehler und haben andere Schwächen als Ihr Nachbar oder Ihre Vorgesetzte. Wäre es nicht hilfreich, wenn wir an Stelle eines anonymen und kalten Verbraucherschutzes einen ganz persönlichen Monika-Schutz, Christoph-Schutz und Cindy-Schutz hätten? Soll keiner sagen, hier würden alle Menschen pauschal gleichgemacht. Nein, Nudging kann auch ganz nah am Menschen stattfinden.
Eine Dystopie auf dem Weg zur Realisierung
Der Instrumentenkasten für dieses neue Nudging liegt in Big Data. Was Facebook, Google und Amazon mit der personalisierten Werbung schon heute machen, kann morgen auch Mutter Staat zu Ihrem Wohl tun. Natürlich mit dem wesentlichen Unterschied, dass Politiker, Büro- und Technokraten nicht an ihrem persönlichen Profit interessiert sind, sondern am Wohl aller Bürger, ja an Ihrem persönlichen Wohl! Mit Hilfe der Auswertung Ihrer Daten können Nudges für Sie persönlich entwickelt werden. Ihr Drang zum riskanten Investieren oder zur falschen Ernährung kann so ganz individuell bekämpft werden. Der Staat ist dann kein abgehobener und kalter Vater Staat mehr, er ist ein zugewandter, an Ihnen persönlich interessierter Mutter Staat, der Sie an der Hand nimmt und auf den Weg der Tugend zurückführt.
Diese Dystopie ist leider schon näher an Ihrer Verwirklichung als man meinen könnte. Was klingt wie aus einer aktualisierten Neuauflage von Orwell oder Huxley, spielt in der akademischen Welt tatsächlich schon eine gewichtige Rolle. So forscht etwa der IT-Wissenschaftler Alex Pentland schon seit Jahren am renommierten Massachusetts Institute of Technology an derlei Techniken, ebenso wie die Professoren Barry Nalebuff und Ian Ayres aus Yale und Oren Bar-Gill aus Harvard. Es kann erfahrungsgemäß nicht mehr lange dauern bis diese „guten Ideen“ auch in Politik umgesetzt werden. Zur Disposition steht dann nicht mehr nur der mündige Bürger. In einem solchen Nanny-Staat 2.0 sind auch die Gleichheit vor dem Gesetz, die Privatsphäre und die individuelle Freiheit und Verantwortung in ernsthafter Gefahr.
Im Grunde ist dieses Anstoßkonzept nur eine Weiterentwicklung im Rahmen des Menschenbildes, das die Politik weltweit seit den 70er Jahren fest im Griff hat: der Mensch als Objekt! von Schutz und Führung. Angefangen hat es mit der Einführung der strafbewehrten Helmpflicht für Kraftradfahrer, und enden wird es nicht mit dem aktuellen, nicht minder würdelosen Antiprostitutionsgesetz. Tatsächlich befindet sich das Individuum in einem existenziellen Abwehrkampf um seine Würde als selbst entscheidendes Subjekt gegen die Herrschaft seiner Beschützer.
Von Interesse wäre auch die Frage, was Menschen dazu treibt, andere zu derem Glück -das freilich immer den Vorstellungen des Führenden zu entsprechen hat – führen zu wollen? Hinter all der menschelnden Sprache lugt dahinter die nackte Herrschsucht hervor, eine Welt nach eigenen idealen Vorstellungen (gesund, sauber, sicher…) formen zu wollen. Der andere Mensch ist dabei nur Knetmasse.
Wie Herr A. Schmitt richtig festgestellt hat, ist dies Alles lediglich eine Zuspitzung einer jahrzehntelangen Entwicklung die wir geduldet und z.T. durch Anspruchsdenken an den Staat selbst forciert haben. Zurzeit sehe ich auch nur bei (zu) Wenigen ein Umdenken. Wenn sich diese Entwicklung überhaupt noch (gewaltlos) umkehren lässt (dessen bin ich mir keineswegs sicher), wird es ebenfalls Jahrzehnte dauern.