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Photo: Cornelius Kibelka from Flickr (CC BY-SA 2.0)

In der Weihnachtszeit wird wieder fleißig gespendet – auch um das eigene Gewissen zu beruhigen. Dabei müsste bereits heute kein Mensch mehr in absoluter Armut leben, wenn Gelder direkt bei den Ärmsten der Welt ankämen.

Niemals ist die ohnehin schon umfangreiche Spendenbereitschaft der Deutschen so groß wie in der Vorweihnachtszeit. Zwischen Glühwein und Einkaufsmarathons rückt, zumindest für kurze Zeit, die Armut in anderen Teilen der Welt ins Gedächtnis. Eine Spende an eine der großen Hilfsorganisationen ist schnell getätigt. Außerdem leisten wir mit unseren Steuergeldern ja sowieso einen Beitrag zur Entwicklungshilfe. Das Gewissen ist einigermaßen beruhigt, und fortan können wir uns wieder unbelastet auf die anstehenden Weihnachtsgelage freuen. Doch nur die wenigsten Menschen wissen, wie es tatsächlich um die weltweite Armut bestellt ist.

Absolute Armut auf dem Rückgang

So hat das niederländische Forschungsinstituts Motivaction herausgefunden, dass nur 0,5 % der befragten Deutschen bewusst ist, dass sich in den letzten 20 Jahren die Anzahl der weltweit in absoluter Armut lebenden Menschen halbiert hat. 92 % glauben gar, die Zahl sei gleichgeblieben. Tatsächlich wird die öffentliche Meinung von Meldungen über Hungerkatastrophen und den scheinbar „verlorenen Kontinent“ Afrika dominiert während ein Ende der absoluten Armut noch innerhalb der nächsten Jahrzehnte nicht unwahrscheinlich ist. Trotz der Erfolge, die vor allem auch auf die positiven Effekte der Globalisierung zurückzuführen sind, leben aber noch immer 900 Millionen Menschen von weniger als 1,90 US-Dollar pro Tag.

Da erscheint der stets mitschwingende Ruf nach mehr Entwicklungshilfe nur logisch. Doch im Jahr 2015 zahlten die reichen Staaten der Welt insgesamt bereits 152 Milliarden US-Dollar an Entwicklungshilfe. Ganz vorne mit dabei ist auch Deutschland mit knapp 18 Milliarden US-Dollar. Doch wie lässt sich diese Zahl einordnen? Fakt ist: Schon heute übersteigt die weltweit gezahlte Entwicklungshilfe die Summe, die theoretisch notwendig wäre, um die absolute Armut komplett zu beenden, deutlich. Um die „Armutslücke“ zu schließen, sodass jeder Mensch auf der Welt mindestens 1,90 US-Dollar pro Tag zur Verfügung hat, wären „nur“ 80 Milliarden US-Dollar notwendig.

Das Problem sind die Staaten

Warum also gibt es überhaupt noch absolute Armut? Anstatt diejenigen Menschen, die in absoluter Armut leben, zu unterstützen, versanden die 152 Milliarden US-Dollar zu einem erheblichen Teil zwischen Bürokratie, Korruption und staatlicher Interessenpolitik. Afrikanische Despoten, wie der kürzlich gestürzte simbabwische Diktator Robert Mugabe und seine Entourage, konnten auf diese Weise astronomische Reichtümer anhäufen während die Menschen im selben Land Hunger leiden. Wirkliche Fortschritte gibt es in den ärmsten Ländern der Welt trotz massiver Entwicklungshilfe selten. Denn die Zahlungen bereichern nicht nur Despoten rund um die Welt, sie hebeln auch noch die Grundsätze demokratischer Rechenschaftspflicht aus. Wer über die Hälfte des nationalen Haushaltes aus internationalen Hilfsgeldern aufbringt, ist gar nicht darauf angewiesen, gute Politik im Sinne seiner Bürger zu machen – denn das Geld kommt schließlich nicht aus deren Taschen.

Sicherlich leistet die klassische Entwicklungshilfe mancherorts einen Teil zum Aufbau stabiler Institutionen, aber eben nur sehr langfristig und gerade in den ärmsten Ländern mit überschaubarem Erfolg. Viel schwerer wiegt aber die Frage, warum wir einer ganzen Generation der Hoffnungslosen erklären, dass es ihren Enkeln einmal besser gehen wird, wenn ihnen doch eigentlich heute schon geholfen werden könnte. Der Ökonom und Nobelpreisträger Angus Deaton fordert deshalb:

Warum nicht die Regierungen umgehen und Hilfe direkt den Armen geben? Sicherlich wären die direkten Auswirkungen sehr wahrscheinlich besser, speziell in Ländern, in denen besonders wenig staatliche Entwicklungshilfe die Armen erreicht. Und das Ganze würde erstaunlich wenig kosten – ca. 15 US-cents pro Tag von jedem Erwachsenen in der entwickelten Welt wären nötig.

Ein radikaler Alternativvorschlag: Direktzahlungen

Die Regierungen von Entwicklungsländern zu umgehen, hätte zahlreiche Vorteile. Ausufernden Bürokratien und Korruption würde weitestgehend der Boden entzogen. Diejenigen Menschen, die unterhalb der absoluten Armutsgrenze leben, würden die Unterstützung direkt über mobile Bezahlsysteme erhalten und sich auszahlen lassen können. Anstatt an den Bedürfnissen vorbeigeplante Leuchtturmprojekte zu erhalten, könnten die Menschen selber entscheiden, wofür Sie die Finanzmittel einsetzen. Sei es zu Investition oder Konsum: Nur auf diese Weise kann sich ein funktionierender Binnenmarkt entwickeln.

Sicher, ein solches Projekt bringt zahlreiche, aber auch lösbare Probleme mit sich. Es müsste sichergestellt werden, dass das Geld direkt bei den Begünstigten ankommt. Dafür sind sichere Online-Bezahlmethoden unerlässlich, die aber gerade auf dem afrikanischen Kontinent bereits weit verbreitet sind. Und dass ein solches System tatsächlich funktionieren kann, beweist die NGO „GiveDirectly“, die in einem großen Feldversuch in Uganda und Kenia Direktzahlungen erprobt hat. Im Ergebnis konnten Empfänger bereits auf kurze Sicht ihr normales Einkommen deutlich steigern.

Letztendlich sollte Entwicklungspolitik immer darauf abzielen, auf mittlere Frist obsolet zu werden. Seit dem Versagen des Washington-Konsens hat die weltweite Entwicklungshilfe durchaus Fortschritte gemacht. Doch Instrumente wie der vom Entwicklungshilfeminister verlangte Marshall-Plan für Afrika richten mehr Schaden an, als dass sie den Ärmsten der Welt helfen. Sie finanzieren vorwiegend überbordende Bürokratien und korrupte Despoten, und dienen letztendlich vor allem auch den geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen der Geberländer. Nachhaltige institutionelle Entwicklung als zentrale Voraussetzung für wirtschaftlichen Fortschritt kann jedoch nur über die Ermächtigung des Einzelnen führen. Dank des drastischen Rückgangs der absoluten Armut ist ein Ende der absoluten Armut durch Direktzahlungen an die Ärmsten der Welt bereits heute umsetzbar, warum also auf Morgen warten?

Photo: ּα from Flickr (CC BY 2.0)

Akademiker sind die besseren Menschen – Diesen Eindruck könnte man jedenfalls aus den stets gleichen Studien über die Chancengerechtigkeit des deutschen Bildungssystems gewinnen. Es ist an der Zeit dieses Bildungsideal gerade zu rücken.

Die Diskussion um fehlende Durchlässigkeit dominiert die Bildungspolitik

An diesem Montag wurde der Hochschul-Bildungs-Report 2020 von McKinsey und dem Stifterverband der Deutschen Wirtschaft veröffentlicht. Dabei darf natürlich nicht die Frage nach der Chancengerechtigkeit des deutschen Bildungssystems fehlen. Schließlich dominieren die Themen Durchlässigkeit und soziale Selektivität seit Jahrzehnten die bildungspolitische Diskussion.

Und so kann man auch dem aktuellen Report entnehmen, dass trotz einer weiter wachsenden Zahl von Studienanfängern sogenannte „Nichtakademikerkinder“ nach wie vor benachteiligt seien. Von ihnen erlangen nur 8 % einen Mastertitel und gar nur 1 % den Doktorgrad. Zum Vergleich: 45 % der „Akademikerkinder“ schließen ihr Studium mit dem Master ab, und jeder Zehnte wird promoviert. Die familiäre Herkunft hat also nach wie vor einen enormen Einfluss auf die Wahl des Bildungsweges. Auf den ersten Blick scheint das bedenklich, man kann es als unfair empfinden oder auch als schädlich für eine Volkswirtschaft. Doch ist das nicht sehr simpel gedacht?

Die Debatte ist Ausdruck eines überkommenen Ständebewusstseins

Bereits der Begriff „Nichtakademiker“ ist Ausdruck eines überkommenen Ständebewusstseins. Impliziert er doch eine Geringwertigkeit anderer Bildungs- und Lebensentwürfe. Mit jeder Studie, die beklagt, dass zu wenige Kinder aus Nichtakademikerhaushalten ein Hochschulstudium aufnehmen, wird dieses einseitige Bildungsideal noch verstärkt. Ein Bildungsideal, das sich anmaßt, einer Hochschulausbildung mehr absoluten Wert beizumessen als etwa einer Berufsausbildung. Das macht sowohl jene jungen Politikstudenten unglücklich, die sich aus vermeintlichen Statusgründen durch Luhmann quälen, als auch talentierte Schreiner-Lehrlinge, die „nur“ eine Ausbildung machen und deshalb weniger Wertschätzung erfahren.

Vielleicht sollte man häufiger mal die aberwitzige Prämisse in Frage stellen, dass unser Bildungswesen erst dann gerecht sei, wenn 100 % eines Jahrganges an die Universität gehen. Unser Bildungsideal sollte darauf ausgelegt sein, individuelle Talente zu erkennen und zu fördern und nicht nur Quoten vor sich herzutragen. Dazu gehört auch, den Realschulabschluss nicht mehr als Abitur mit einfacheren Aufgabe zu begreifen, sondern bereits früh berufsvorbereitende Inhalte einzubauen.

Bildung ist auch eine Frage der Kultur und nicht nur der Optimierung

Die Frage nach dem richtigen Bildungs- und Lebensentwurf ist für junge Menschen aber selbstverständlich auch eine Frage der kulturellen Identität. War es früher ganz normal, dass die Kinder das elterliche Geschäft übernehmen, stehen jungen Menschen in Deutschland heute erfreulicherweise alle Wege offen. Dass das so ist, bedeutet aber nicht, dass Erziehung und Sozialisation die Wahl des Bildungsweges nicht beeinflussen dürfen.

Es ist falsch, wenn eine Überhöhung des Hochschulstudiums dazu führt, dass Eltern ihre Kinder per se nicht für studiengeeignet halten. Es ist aber ebenso falsch, die Entscheidungen von Eltern in Frage zu stellen, die ihren Kindern eine Leidenschaft für den heimischen Metzgerbetrieb vermitteln oder den Ethos eines fleißigen Fabrikarbeiters. Wenn also nicht mehr das Individuum mit seinen Talenten und Wünschen im Mittelpunkt steht, sondern ein gesellschaftlich gewünschtes Ergebnis. Es gibt bereits allerhand Mechanismen, die eine größtmögliche Durchlässigkeit ermöglichen. Wer wirklich für ein Studium brennt, erhält in der Regel die notwendige Unterstützung. Sei es durch staatliche Institutionen wie das BaFög und die Stipendien der Begabtenförderungswerke oder mit Hilfe von zivilgesellschaftlichen Initiativen wie etwa der Internetplattform arbeiterkind.de.

Das tatsächliche Problem: Die umgekehrte Finanzierungspyramide

Tatsächlich überlagert die Diskussion um Chancengerechtigkeit regelmäßig das eigentliche Kernproblem unseres Bildungssystems. Betrachtet man die deutsche Bildungsfinanzierung, haben wir es mit einer auf dem Kopf stehenden „Finanzierungspyramide“ zu tun. Während die Hochschulausbildung komplett kostenfrei ist, muss für die frühkindliche Bildung vielerorts gezahlt werden – und zwar zum Teil abenteuerliche Summen. So ein Kita-Platz kostet gerne im Monat mal so viel wie ein Student vor der Abschaffung von Studiengebühren für ein ganzes Semester berappen musste. Und auch bei Grund- und weiterführenden Schulen können sich gerade wohlhabende Familien einen Vorteil durch kostenintensive Nachhilfe oder gar Privatschulen erkaufen.

Ein auf die Förderung individueller Fähigkeiten gerichtetes Bildungswesen sollte genau andersherum aufgebaut werden. Gerade im frühkindlichen Bereich besteht die Notwendigkeit staatlicher Finanzierung. Universell für Kitas, Musikunterricht oder andere Bildungsangebote einlösbare Bildungsgutscheine würden hier Abhilfe schaffen und eine breite frühkindliche Förderung ermöglichen. Eine solche Notwendigkeit besteht für die Universitäten hingegen nicht. Hier sollten die Kosten von denen getragen werden, die tatsächlich durch ein höheres Einstiegsgehalt davon profitieren, den Studenten. Genau wie Betriebe für die Ausbildung ihrer Lehrlinge und Entrepreneure für die Gründung ihrer Unternehmen zahlen.

Nun könnte man argumentieren, dass Hochschulbildung so viele positive externe Effekte produziert, dass eine vollständige Subventionierung der deutschen Studenten gerechtfertigt ist. Gerade dieses Argument ist aber Ausdruck der Akademikerüberhöhung. Es ist schlicht anmaßend zu behaupten, ein Akademiker würde mehr positive Effekte für die Gesellschaft produzieren als beispielsweise ein junger Entrepreneur, und sollte deshalb subventioniert werden. Deutschland hat ein duales Bildungswesen, um das es die ganze Welt beneidet. Anstatt die Studierendenquote vor sich herzutragen wie den Heiligen Gral, sollte man das Bildungssytem dahingehend stärken, dass Individuen möglichst viele Chancen erhalten, ihren eigenen erfolgreich Weg zu gehen. Das wäre echte Gerechtigkeit!

Photo: Mehr Demokratie from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Von Dr. Alexander Fink, Universität Leipzig, Senior Fellow des IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues und Kalle Kappner, Promotionsstudent an der Humboldt-Universität zu Berlin, Research Fellow bei IREF, Fackelträger von Prometheus.

In den meisten marktwirtschaftlichen Demokratien fallen Politiker nicht durch ein hohes Maß an korruptem Verhalten auf. Doch die beobachtbare und unsanktionierte Missachtung zuvor verabschiedeter Regelwerke durch Regierungsverantwortliche von EU- und Euro-Ländern in der jüngsten Vergangenheit könnte der Kooperationsbereitschaft in diesen Ländern langfristig abträglich sein.

Die marktwirtschaftlichen Demokratien des Westens genießen heute ein historisch beispielloses Ausmaß an Wohlstand und Frieden. Dieser Erfolg beruht maßgeblich darauf, dass viele der dort lebenden Menschen einige grundlegende Regeln des gesellschaftlichen Umgangs respektieren. Manche dieser Regeln sind strafrechtlich kodifiziert, etwa die Achtung vor dem Leben und Eigentum anderer Menschen. Andere sind ungeschrieben, etwa der Verzicht darauf, sich über den politischen Prozess individuelle Vorteile zulasten anderer anzueignen.

Dieser wünschenswerte Zustand ist nicht nur wirkungsvollen Sanktionen zu verdanken, sondern auch der Internalisierung von Normen. Unabhängig von drohenden externen Sanktionen wollen viele Menschen in vielen Situationen das Richtige tun. Studien legen allerdings nahe, dass Kooperationsnormen erodieren können, wenn gesellschaftlich einflussreiche Vorbilder vermehrt durch Missachtung von Regeln auffallen und dafür nicht sanktioniert werden – sei es in strafrechtlich relevanter Weise oder nicht.

Den Staat repräsentierende Politiker gehören zu den kritischen Vorbildern und nehmen somit Einfluss auf die Aufrechterhaltung von Kooperationsnormen. In den meisten marktwirtschaftlichen Demokratien fallen Politiker nicht durch ein hohes Maß an korruptem oder strafrechtlich relevantem Verhalten auf. Doch die beobachtbare und unsanktionierte Missachtung zuvor verabschiedeter Regelwerke durch Regierungsverantwortliche von EU- und Euro-Ländern in der jüngsten Vergangenheit – etwa der Maastricht-Kriterien, der Nicht-Beistandsklausel und des Dubliner Übereinkommens – könnte der Kooperationsbereitschaft in diesen Ländern langfristig abträglich sein.

Erfolgreiche und weniger erfolgreiche Gesellschaften

Gesellschaften, in denen kooperationsfördernde Regeln und Normen respektiert werden, schaffen Positivsummensituationen, reduzieren Unsicherheit in Interaktionen und bauen wertvolles Sozialkapital auf. Werden solche Regeln dagegen systematisch verletzt, verarmen Gesellschaften, werden instabil und ungerecht. Ihr öffentliches Leben ist durch Korruption, Gewalt und politische Vorteilsnahme geprägt.

Kooperationsfördernde Gesellschaften unterscheiden sich von kooperationsfeindlichen Gesellschaften in zwei maßgeblichen Punkten: Zum einen kommen Regeln der Strafverfolgungsbehörden ohne Ansehen der Person zur Anwendung. Respektspersonen und politisch Mächtige werden für Regelbrüche im selben Maße sanktioniert wie andere Menschen. In kooperationsfeindlichen Gesellschaften werden strafrechtliche Sanktionen dagegen selektiv angewandt und die politische Macht dient als Mittel, sich ungestraft über Regeln hinweg setzen zu können.

Verlässliche staatliche Sanktionen allein können den hohen Grad der Kooperation in erfolgreichen Gesellschaften jedoch nicht erklären. Die Durchsetzung kooperationsfördernder Regeln ausschließlich durch den Staat wäre schlicht zu aufwendig. Menschen in kooperationsfreudigen Gesellschaften profitieren von der ebenfalls ohne Ansehen der Person erfolgenden Achtung der ungeschriebenen Regeln des harmonischen Miteinanders – gegenüber Fremden ebenso wie gegenüber der Familie und Freunden. Auch in Gesellschaften, deren öffentliches Leben durch Korruption, Gewalt und politische Vorteilsnahme geprägt ist, strukturieren ungeschriebene Regeln des harmonischen Zusammenlebens die Interaktionen von vertrauten Personen. Aber im Umgang mit Fremden werden sie nicht beachtet. Enormes Kooperationspotential bleibt so ungenutzt.

 

 

Sozialisation verstärkt Kooperationsnormen

Experimente und Alltagserfahrung bestätigen, dass internalisierte Normen viele Menschen zu regelkonformem Verhalten anleiten, selbst wenn sie keinerlei Sanktionen oder Reputationsverluste zu befürchten haben: Sie geben zu hoch herausgegebenes Wechselgeld im Restaurant zurück, berichten im Labor unbeobachtet Würfelergebnisse wahrheitsgemäß und zahlen für entnommene Snacks, obwohl sie niemand beim Diebstahl beobachten kann.

Darüber hinaus gibt es Hinweise darauf, dass das Umfeld, in dem Menschen sozialisiert werden, einen entscheidenden Einfluss auf das Ausmaß und den Charakter der internalisierten Normen hat. Menschen, die in kooperationsfreudigen Gesellschaften aufwachsen, internalisieren die Regeln harmonischen Zusammenlebens und befolgen diese selbst dann, wenn keine Sanktionen drohen. Menschen, die in Gesellschaften aufwachsen, die durch verbreitete Regelbrüche charakterisiert sind, internalisieren dagegen Normen, welche das harmonische Zusammenleben behindern – das heißt, sie sehen Korruption, politische Vorteilsnahme und Gewalt eher als legitime Mittel an.

Ein fragiles Gleichgewicht

Dass das Aufwachsen in kooperationsfreudigen Gesellschaften zur Internalisierung von kooperationsfördernden Normen führt, bedeutet allerdings nicht, dass diese Normen nicht erodieren können. Experimente zeigen, dass Menschen ihre Kooperationsbereitschaft reduzieren, wenn sie sehen, dass andere Menschen in ihrem Umfeld selbiges tun. Beginnen manche Menschen – aus welchen Gründen auch immer – sich regelverletzend zu verhalten, kann das einen Kaskadeneffekt auslösen und zu einem neuen gesellschaftlichen Gleichgewicht führen, in dem die Regeln harmonischen Zusammenlebens nicht mehr befolgt werden.

Besonders kritisch ist das Verhalten von Vorbildern. Ihr Verhalten kann maßgebliche Auswirkungen wiederum auf das Verhalten anderer Menschen haben. Setzen sich Vorbilder über Regeln hinweg, ohne Sanktionen fürchten zu müssen, kann die Kooperationsbereitschaft aller Gesellschaftsmitglieder untergraben werden. Diese Vorbilder können familiäre oder gesellschaftliche Autoritäten, erfolgreiche Geschäftsleute und Politiker sein.

Schlechte Vorbilder: Politiker mit schwachem Regelbewusstsein

Politiker in westlichen Gesellschaften sind nicht sonderlich korrupt und fallen nicht durch überdurchschnittlich häufiges strafrechtlich relevantes Verhalten auf – ihnen drohen die gleichen Sanktionen wie anderen Gesellschaftsmitgliedern. Doch es verfestigt sich der Eindruck, dass sich Politiker häufig über die von ihnen selbst auf supranationaler Ebene gesetzten Regeln hinwegsetzen.

Nach Beginn der Finanzkrise leisteten einige EU-Staaten, darunter Deutschland, Hilfszahlungen an andere Mitgliedsstaaten – trotz der Nicht-Beistandsklausel, die eine gemeinsame Haftung für nationale Staatsschulden in der EU ausschließt. Die Maastricht-Kriterien – einst als maßgebliche Grundlage der europäischen Gemeinschaft etabliert – haben nach zahlreichen folgenlosen Verstößen ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt. Das Dubliner Übereinkommen zur Zuständigkeit für Asylanträge wird zwei Jahre nach Einsetzen der Flüchtlingskrise trotz formaler Geltung de facto nicht mehr beachtet.

Sanktionsmöglichkeiten sind beschränkt

Grundlos werden Regelwerke nicht missachtet – kurzfristig mag das Vorgehen Vorteile bringen, indem schmerzvolle Insolvenzen abgewendet, unpopulärer Schuldenabbau aufgeschoben oder wenig wünschenswerte Pressebilder vermieden werden. Doch langfristig begünstigt die Missachtung bestehender Regeln nicht nur die Verschleppung notwendiger Reformen, sondern untergräbt möglicherweise die Kooperationsbereitschaft der Menschen, welche beobachten, dass Politiker auf höchster Ebene die Anwendung gar niedergeschriebener Regeln aussetzen.

Weshalb werden regelmissachtende Politiker nicht stärker sanktioniert? Ein Grund liegt darin, dass viele Menschen bereit sind, die Willkür von Politikern zu tolerieren, solange sie mit den verfolgten Zielen einverstanden sind. Doch selbst, wenn Wähler das Verhalten ihrer Vertreter nicht goutieren, sind ihre Möglichkeiten beschränkt: Eine Wahl alle vier oder fünf Jahre, bei der zwischen einer Handvoll Kandidaten ausgewählt wird, liefert keine Möglichkeit gezielt zu sanktionieren. Das unterscheidet Politiker beispielsweise von Geschäftsleuten, die nach Vertragsbrüchen entweder strafrechtlich belangt oder von potenziellen Geschäftspartnern gemieden werden und so einen starken Anreiz haben, geschriebene und ungeschriebene Regeln zu achten.

Langfristige Kosten ernst nehmen

Die langfristigen Kosten der Regelmissachtung durch Politiker werden möglicherweise deutlich unterschätzt. Die mit ihnen einhergehende Konsequenzen in Form von Regime-Unsicherheit und der Verschleppung von Reformen werden regelmäßig diskutiert. Wenig Aufmerksamkeit erhielten bisher jedoch die potentiellen langfristigen negativen Auswirkungen auf die Kooperationsbereitschaft aller Gesellschaftsmitglieder.

So sehr Menschen in erfolgreichen Gesellschaften massiv von freiwilliger Kooperation profitieren, so sehr können sie leiden, wenn ihre Kooperationsbereitschaft abnimmt. Derartige mögliche langfristige Folgen verdienen mehr Aufmerksamkeit durch die Wähler, weil sie das Potential haben, die Grundfesten erfolgreicher Gesellschaften zu erodieren. Nur wenn sich die Wähler dieser möglichen Konsequenzen bewusst sind, haben Politiker einen starken Anreiz, Regeln auch dann zu befolgen, wenn ihrer Ansicht nach hehre Ziele einen Regelbruch rechtfertigen könnten.

Erstmals erschienen bei IREF.

Photo: John Phillips from Wikimedia Commons (CC BY 2.0)

Von Ralph Bärligea, Bankenberater, Hochschuldozent und Gesellschafter eines IT-Start-ups.

Die letzten Tage ging es heiß her: Die chinesische Regierung verbietet den Börsenhandel mit Kryptowährungen. Mit BTCChina schließt eine der größten Börsen für Kryptowährungen. Der Kurs eines Bitcoins lässt von seinem Allzeithoch von rund 4.900 US-Dollar um mehr als ein Drittel nach auf rund 3.050 US-Dollar. Auch die Marktkapitalisierung aller Kryptowährungen zusammengenommen, hat von ihrem Höchststand bei rund 172 Milliarden US-Dollar auf rund 107 Milliarden US-Dollar in gleicher Weise nachgelassen. Dazu kommen Aussagen wie kürzlich auch vom Chef der US-Großbank JP Morgan Jamie Dimon, der Bitcoin sei Betrug, ein Schneeballsystem und schlimmer als die Tulpenzwiebelblase. Es ist darum angebracht, sich mit den Hintergründen des jüngsten Kurseinbruches und den Vorwürfen gegen Kryptowährungen sachlich auseinanderzusetzen, um den Bedenkenträgern Antworten auf ihre Fragen zu geben. Die fünf häufigsten Bedenken gegen Kryptowährungen sind nämlich schlicht falsch, wie der folgende Beitrag zeigt.

Kryptowährungen sind unabhängig von zentralen Handelsbörsen

Als ich vor zwei Wochen bei einer Podiumsdiskussion mit Dirk Schrade von der Deutschen Bundesbank sprach, äußerte sich dieser moderater, aber ähnlich skeptisch wie JP Morgan Chef Dimon. Er führte außerdem an, dass Kryptowährungen ebenso wie jede andere Währung auf eine Infrastruktur klassischer Finanzintermediäre, wie Wallet-Anbieter und Börsenplätze, angewiesen seien und insofern gar keine Vorteile gegenüber klassischen Währungen böten.

Wenn man sich den Kurseinsturz in Folge des Börsenverbots in China ansieht, scheint Dirk Schrade damit nicht Unrecht zu haben. Dennoch stimmt seine Aussage nicht ganz. Kryptowährungen funktionieren grundsätzlich dezentral und natürlich lässt sich auch der Handel mit ihnen dezentral organisieren. Zentrale Börsenplätze wie BTCChina stellen eine Brücken-Technologie des alten Internets 1.0 und 2.0 dar, die das gewohnte Nutzungsverhalten der Internet-User bedienen und so Kryptowährungen zu mehr Verbreitung verhelfen. Mittel bis langfristig werden solche Börsen in Web und Industrie 4.0 allerdings überflüssig, da auch zur Abwicklung des Handels dezentrale Blockchain-Technologien zur Verfügung stehen, die kostengünstiger und sicherer sind. Denn Handel lässt sich über Smart Contracs auf der Blockchain auch ganz ohne zentrale Börsenbetreiber organisieren, womit Kosten für und Vertrauen in solcher Betreiber gar nicht mehr erforderlich sind. Der Vorwurf, Kryptowährungen seien auf klassische Finanzintermediäre angewiesen, ist als ob man den ersten Automobilkonzernen vorgeworfen hätte, dass sie die Teile zum Bau ihrer Autos, immer noch mit Pferdefuhrwerken antransportieren. Tatsächlich gab es solche Meinungen, zum Beispiel sagte Kaiser Wilhelm der Zweite (1859 – 1941), „Ich glaube an das Pferd. Das Automobil ist eine vorübergehende Erscheinung.“ Wer heute glaubt, Kryptowährungen seien eine vorübergehende Erscheinung, denkt ähnlich, denn ihre Vorteile liegen zu klar auf der Hand. An dieser Stelle sei auf eine hervorragende Zusammenfassung von Dr. Robert Bosch verwiesen, der die ökonomische und technische Funktionsweise der Blockchain-Technologie in der WELT erklärt.

Kryptowährungen haben mit Schneeball- und Betrugssystemen nichts gemeinsam

Ein Schneeballsystem ist per Definition ein System, aus dem Auszahlungen an bestehende Teilnehmer nur durch Auszahlungen aus der Substanz und Einzahlungen neuer Teilnehmer finanziert werden. Gewinne können die Einleger also nur machen, wenn immer neue Einzahlungen hinzukommen und das System immer mehr Teilnehmer erhält. Da aber die Anzahl möglicher Teilnehmer naturgemäß begrenzt ist, muss ein solches System früher oder später zusammenbrechen. Für diejenigen, die als Letzte in ein solches System einsteigen, winkt der Totalverlust. Anders sieht es bei Kryptowährungen aus, bei welchen es sich um eigenständige digitale Einheiten handelt, die über die ihnen zu Grunde liegende Blockchain-Technologie fälschungssicher einem Eigentümer, bzw. Wallet-Inhaber zugeordnet werden. Diese digitalen Einheiten existieren autonom und in einer durch den jeweiligen Algorithmus der Kryptowährung klar definierten Menge: Meistens, wie beim Bitcoin, und anders als beispielsweise bei allen staatlichen Währungen, mit einer vorab klar definierten Obergrenze. In das System einer Kryptowährung, werden keine Einzahlungen getätigt, es existiert selbständig digital, unabhängig von der Anzahl der Nutzer oder seinem Wert. Wie prinzipiell auch bei klassischen Währungen in Barform, gibt es bei der Kryptowährung, die man einfach wie einen Gegenstand besitzt, kein Verlustrisiko, es sei denn, man verliert sie, oder sie wird gestohlen. Lediglich für die Kaufkraft, also den Wert der Kryptowährungen gegenüber anderen Gütern gibt es Risiken. Dieses Risiko gilt aber für alle anderen Geldarten ebenso.

Kryptowährungen unterliegen denselben ökonomischen Regeln wie staatliche Währungen

Die digitalen Einheiten der Kryptowährungen werden wegen ihrem Nutzen als Geld und Anlageobjekt nachgefragt und haben, wie klassische Währungen auch, einen Marktwert. Wie wir wissen, erhöhen die staatlichen Zentralbanken ihr Geldangebot durch das Drucken neuen Geldes digital oder in Papierform ständig und beeinflussen damit auch den Marktwert der jeweiligen Währung. Die Geldmenge von beispielsweise Bitcoin jedoch ist begrenzt, in diesem Fall auf 21 Millionen. Das Zentralbankgeld der Staaten, ob in digitaler Form als Zentralbankguthaben der Banken, oder in Form von Scheinen und Münzen, ist ebenso eine rein virtuelle Einheit und durch nichts gedeckt, außer dem Glauben, sich auch in Zukunft noch etwas für das Geld kaufen zu können, bzw. dem Vertrauen, dass es in naher Zukunft keine echte Alternative geben wird. Dieses Geld wird zentral kontrolliert, was es manipulationsanfällig macht. Die Schaffung immer größerer Geldmengen, sowie bei der Rettung von großen Banken und insolventen Staaten durch Zentralbankgeld machen das Ausmaß der Eingriffe deutlich. Finanziert werden diese Eingriffe durch die Geldverwender, deren Geld- und Sparguthaben dadurch an Wert verlieren.

Verschuldete Staaten und Banken hingegen sind auf immer mehr und neues „billiges“ Geld, also neue Einzahlungen der Zentralbank in das System angewiesen. Tatsächlich wächst die Geldmenge bei staatlichen Währungen wie dem Euro sogar exponentiell. Seit der Euro-Einführung hat sich die Geldmenge in der Euro-Zone beispielsweise schon verdreifacht. Es ist kaum vorstellbar, dass sich solche Währungen dauerhaft auf dem Markt durchsetzen können, sofern es ausreichend Alternativen gibt. Darum nehmen sowohl die Zentralbanken als Betreiber als auch Staaten und Banken als Profiteure staatlicher Währungen Kryptowährungen als Konkurrenten sehr ernst. Denn je mehr Kryptowährungen sich durchsetzen, desto schwächer wird der Einfluss der Zentralbanken auf die Wirtschaft und die Verteilung von Geld. Derzeit ist das global vorherrschende Tauschmittel noch immer das Gold, welches darum nicht ohne Grund und mit großem Respekt von Zentralbanken als Rückversicherung für ihre Vormachtstellung am Geldmarkt gehalten wird. Der wohl bekannteste Zentralbankchef der Welt Alan Greenspan meint hierzu „Gold ist eine Währung – Es ist noch immer die wichtigste Währung, an die keine andere Währung herankommt – inklusive des Dollars.“

Kryptowährungen haben einen fundamentalen Wert in ihrer Rolle als Zahlungsmittel

Eine verbreitete Annahme ist, dass Kryptowährungen lediglich als Spekulationsobjekt dienen und gar nicht oder kaum als Geld zur tatsächlichen Abwicklung von Zahlungsvorgängen zum Bezahlen von Gütern und Dienstleistungen genutzt werden. Dann gibt es noch die Aussage, dass die meisten Transaktionen auf den bloßen Handel mit Kryptowährungen zurückzuführen sind oder, und jetzt wird es fast absurd, sogar auf nicht menschlichen Handel allein durch Roboter. Zunächst einmal will ich klarstellen, dass Bitcoin gefolgt von Etherium bereits die führenden Währungen sind, um andere Kyptowährungen und auch sogenannte Kryptoassets zu kaufen. Kryptoassets sind vergleichbar mit Aktien, mit der Ausnahme, dass sie nicht über den klassischen Aktienmarkt, sondern über die Blockchain-Technologie emittiert werden. Ohne diese beiden genannten Kryptowährungen ist es nahezu unmöglich Kryptoassets oder bestimmte Kryptowährungen mit Spezial- oder Nischenfunktionen zu kaufen. Allein dadurch sind diese beiden führenden Kryptowährungen schon unumgänglich. In der Welt der Kryptowährungen und Kryptoassets sind Bitcoin und Etherium längst allgemein akzeptiertes und alltäglich praktiziertes Zahlungsmittel. Auch die Preise anderer Kryptowährungen und Krypotassets werden in dieser Welt in Bitcoin oder Etherium angegeben. Diese beiden Währungen erfüllen also in diesem Bereich nicht nur die Zahlungsmittel-, sondern auch die sich aus ihr ableitende Recheneinheitsfunktion des Geldes. Natürlicherweise wird daher auch Kasse in diesen Währungen gehalten, womit die Wertaufbewahrungsfunktion des Geldes durch sie erfüllt wird. Darüber hinaus beobachten wir, dass immer mehr Händler des alltäglichen Bedarfs den Bitcoin als Währung akzeptieren, darunter Kneipen, Online-Händler und seit kurzem eine japanische Fluglinie. Die Gründe, warum sich Kryptowährungen hervorragend als Geld eigenen sind folgende:

  1. Anders als Gold und ebenso wie staatliche Währungen haben sie keine physisch relevante Größe, lassen sich also leicht und kostengünstig transferieren und lagern.
  2. Analog zu Gold aber im Gegensatz zu staatlichen Währungen sind sie in ihrer Menge limitiert und nicht zentral kontrolliert, wodurch die Inflationsrisiken erheblich sinken.
  3. Anders als bei staatlichen Währungen sind Kryptowährungen für das Überweisen von Geld auf kein Bankensystem angewiesen, womit Administrationskosten und Bonitätsrisiken gegenüber Banken entfallen. Aus den genannten Eigenschaften ergibt sich der fundamentale Wert der Kryptowährungen als Geld.

Kryptowährungen sind grundsätzlich unabhängig von Staaten und Regulierung

Staatliche Entscheidungen wie die Chinas, den Börsenhandel mit Kryptowährungen zu verbieten, haben kurzfristig einen Einfluss auf die Akzeptanz und den Wert der Kryptowährungen. Mittel- bis langfristig müssen sie diesen jedoch verlieren. Als in seiner Anfangsphase der Bitcoin noch Wertschwankungen von über 90 Prozent unterlag nahmen die Staaten keine größere Notiz von ihm. Ob der Wert des Bitcoins in nur wenigen Monaten von beispielsweise 22,59 US-Dollar am 6. Juni 2011 auf nur 2,26 US-Dollar am 14 November 2011 viel, hat nominal betrachtet bei einem derzeitigen Kurs von mittlerweile wieder rund 4.000,00 US-Dollar kaum noch irgendeine Bedeutung. Dass der Kurs kurz vor und nach einer so gravierenden Entscheidung wie dem Börsenverbot auf dem nahezu wichtigsten Markt in China binnen zwei Wochen nur um rund ein Drittel nachgelassen hat, zeigt im Vergleich zur viel schwankungsreicheren gesamten Kurshistorie des Bitcoins, wie untergeordnet der Einfluss staatlicher Interventionen auf Kryptowährungen ist und wieviel wichtiger die fortwährend bestehenden Marktmechanismen sind. Sieht man sich die Kursschwankungen des Bitcoins an, kann man feststellen, dass sie mit seiner zunehmenden Verbreitung immer weiter abnehmen. Dies liegt daran, dass sich durch die zunehmende Verbreitung, Angebot und Nachfrage immer mehr normalisieren.

Plötzliche Wertschwankungen von bis zu 50 oder gar 60 Prozent kommen darüber hinaus auch beim Goldpreis oder auf dem Aktienmarkt vor, während bei staatlichen Währungen historisch betrachtet mehrfach sogar der Totalverlust eintrat. Erst kürzlich hat sich der Butterpreis quasi über Nacht verdoppelt. Solche Wertschwankungen sind also nichts Ungewöhnliches. Staaten, die sich den Vorteilen neuer Technologien, wie den Kryptowährungen versperren, werden auf Dauer wettbewerbliche Nachteile erfahren. Insgesamt haben Staaten auf die Frage, ob sich Kryptowährungen als Technologie durchsetzen werden, genauso wenig Einfluss wie auf die Durchsetzungskraft anderer Technologien, wie etwa der Eisenbahn, dem Flugzeug, dem Computer, der Elektrizität und vieler mehr. Staaten treten häufig als Konsumenten dieser Technologien auf und haben im globalen Wirtschaftsgeflecht einen schwereren Stand, wenn sie nicht in der Lage oder gewillt sind, diese zu nutzen und ein innovationsfreundliches Umfeld zur Schaffung neuer Technologien zuzulassen. Längst hat beispielsweise das viel kleinere Japan China beim Bitcoin-Handel überholt.

Was das richtige Geld ist, ist also keine ideologische Frage, sondern hängt vom praktischen Nutzen ab, also von der Frage, welcher Stoff die Geldfunktionen Tauschmittel, Wertaufbewahrung und Recheneinheit am besten erfüllt. Hier bieten Kryptowährungen klare Vorteile gegenüber staatlichen Währungen, aber eben auch Klassikern wie Gold und Silber. Und es liegt auf der Hand, dass weder Gold, noch Silber und ganz bestimmt auch nicht das Zentralbankgeld der Staaten auf veralteten IT-Systemen, Papierscheinen oder Metallmünzen das Geld der Zukunft im digitalen Zeitalter sein können. Die Zukunft gehört den Kryptowährungen.

Photo: Harrygoucas from Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0)

Das Verfassungsreferendum in der Türkei ist eine Mahnung an den demokratischen Rechtsstaat. Er ist nicht gefeit vor grundsätzlichen Änderungen. Wer könnte ein Lied davon singen, wenn nicht wir Deutschen? Grundsätzliche Änderungen der Regierungsform, auch wenn sie sich schleichend vollziehen, sind eine ständige Gefahr. Sie werden häufig für einzelne Personen gezimmert. Darin liegt auch das Dilemma der Türkei. Die neue Präsidialverfassung ist auf den aktuellen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan zugeschnitten. Darin liegt schon ihr grundsätzlicher Fehler. Der Putschversuch am 15. und 16. Juli 2016, nach dem anschließend über 40.000 Personen festgenommen und über 80.000 Beschäftigte im Öffentlichen Dienst ihren Job verloren, bot für Erdogan die entscheidende Begründung, die Machtfülle anzustreben, die ihm das Referendum jetzt zugestanden hat.

Das neue „Präsidialsystem“ wird von AKP-Politikern mit der Verfassung der USA verglichen. Das ist sehr vermessen. Nicht nur, weil die Vereinigten Staaten eine lange und große Verfassungstradition haben, die die Türkei nicht hat. Die US-Verfassung unterscheidet sich auch in sehr grundsätzlichen Fragen von der der Türkei. Die Gründerväter der USA um John Adams, Thomas Jefferson und James Madison mussten seinerzeit einen klassischen Konflikt lösen. Zum einen wollten sie das positive, das eine Regierung verspricht, zulassen, und zum anderen Freiheitsbedrohungen durch die Regierung und ihren Präsidenten verhindern. Aus diesem Anspruch folgten für sie zwei wesentliche Grundsätze.

Erstens musste der Spielraum des Präsidenten und der Regierung beschränkt werden. Zwar gilt der amerikanische Präsident als der mächtigste Mann der Welt, dennoch darf auch er nicht alles. Bei allem Unterschied zwischen Theorie und Praxis ist er an die Verfassung gebunden, Gesetze können von ihm nur verhindert, aber nicht durchgesetzt werden. Sein Regierungshandeln wird von Gerichten überprüft. Unabhängige Medien kontrollieren und kritisieren sein Handeln.

Präsidenten Donald Trump kann ein Lied davon singen. Er stößt permanent an Grenzen. Die Rücknahme von Obama-Care scheiterte bereits zu Beginn seiner Amtszeit im Parlament. Der Einreisestopp für Menschen aus Staaten mit überwiegend islamischer Bevölkerung wurde durch Bundesrichter verhindert. Und die wichtigste Zeitung Amerikas, die New York Times, hat seit seiner Wahl im November ihre Abonnentenzahl um 250.000 auf 3 Millionen erhöht. Der Aktienkurs stieg seitdem um 30 Prozent.

Der zweite Grundsatz der Verfassungsväter war die Einflussbeschränkung des Präsidenten und seiner Regierung durch eine vertikale Machtverteilung. Regierungsmacht wurde auf verschiedene Ebenen verteilt. Sie waren überzeugt, dass es besser ist, wenn Regierungsmacht in Städten, Landkreisen und Bundesstaaten ausgeübt wird, anstatt im fernen Washington. Wer sich dieser Regierungsmacht entziehen wollte, konnte von einer Stadt in die andere ziehen, von einem Landkreis in den nächsten und von einem Bundesstaat in einen weiteren. Wer also mit dem Schulsystem, mit der Besteuerung oder mit der sozialen Fürsorge nicht einverstanden war oder ist, konnte weiterziehen und sich der Macht der lokalen oder regionalen Administration entziehen.

Hier setzt der Politikstil der Erdogans an. Er und seine Helfershelfer wollen Macht zentral ausüben. Sie behaupten, dass Regierungshandeln dadurch viel effektiver werden kann und dies auch im Interesse der Öffentlichkeit sei. Doch wie immer gibt es hier zwei Seiten. Effektives Regierungshandeln kann zum Guten, aber auch zum Schlechten führen. Niemand, auch kein Präsident, weiß alles und trifft immer richtige Entscheidungen. Dennoch müssen alle Bürger dafür geradestehen. Sie haben keine Ausweichmöglichkeiten. Es bringt ihnen nichts, von Istanbul nach Ankara oder nach Izmir umzuziehen. Der lange Arm Erdogans reicht in jeden Winkel der Türkei.

Hinzu kommt, dass selbst die Erdogan-Anhänger nicht die Gewähr haben, ob nicht nach Erdogan ein Präsident an die Macht kommt, der noch viel stärker gegen Grundrechte vorgeht. Vielleicht ändern sich dann die Gegner der Regierung. Wer heute meint, die Unterstützung der Regierung zu haben, wird morgen unter einem neuen Präsidenten vielleicht ebenfalls unterdrückt und verfolgt. Denjenigen, die das „Präsidialsystem“ der Türkei unterstützt haben, muss nicht generell eine böse Absicht unterstellt werden. Die Tragödie ist jedoch, dass diese Entwicklungen häufig von Leuten guten Willens angeführt werden, die dann die ersten sind, die das Ganze bereuen. Daher ist ein Gesellschaftssystem der Machtbegrenzung durch eine horizontale und vertikale Verteilung von Regierungsmacht einem zentralistischen System überlegen. Hier wirken sich Fehlentscheidungen einzelner nicht für alle aus, sondern nur für wenige. Es ist letztlich das Gesellschaftssystem „des Westens“. Dieser Non-Zentrismus existiert nicht nur in den Regierungssystemen moderner Demokratien, sondern ist auch der Erfolg in anderen Gesellschaftsbereichen, in der Architektur, der Wissenschaft, der Literatur, der Kunst und selbst der Religion. Die Marktwirtschaft ist die Voraussetzung für diese Freiheit.

Erstmals erschienen bei Tichys Einblick.