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Photo: Paxson Woelber from Flickr (CC BY 2.0)

Die Offene Gesellschaft lebt von Individuen, die für ihr Leben, Handeln, Reden und Denken Verantwortung übernehmen. Wenn ein Staat das seinen Bürgern abnimmt oder gar verbietet, gefährdet er die Grundlagen von Demokratie, Recht und Freiheit.

Der Dünkel der Meinungs-Hegemonie

In den letzten Tagen ist viel über die Gründe für die Wahl Donald Trumps zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten nachgedacht worden. Eine Erklärung, die häufig vorgebracht wird, lautet, sie sei ein Protest gegen Establishment und Elite gewesen. Auch wenn die Nachwahlerhebungen eher darauf hindeuten, dass ökonomische Überlegungen ausschlaggebend waren, hat dieses Element doch eine große Rolle gespielt. Nicht zuletzt, weil Trumps Anti-Eliten-Rhetorik sein vielleicht wichtigstes Markenzeichen war. Der Riss, der auch unabhängig von Trump durch die amerikanische Gesellschaft geht, hat viel mit der Meinungs-Hegemonie linksliberaler, progressiver Kreise zu tun. Die Dominanz und Aggressivität, mit der Safe Spaces und Veggie-Days eingefordert werden, ruft Gegenreaktionen hervor, die nicht minder aggressiv sind. Verbissenheit, Humorlosigkeit und Dünkel können selbst berechtigte Anliegen nachhaltig zerstören.

Einer der zentralen Punkte an der Eliten-Kritik – nicht nur in den USA – besteht darin, dass viele Menschen das Gefühl haben, ihnen werde vorgegeben oder gar vorgeschrieben, was sie zu denken, zu sagen und zu tun hätten. Dabei handelt es sich wohlgemerkt um ein Gefühl. Auch vor hundert Jahren haben Knigge, Beichtvater oder Mutter sexistische Sprüche sanktioniert. Und ein homosexueller Vegetarier muss sich in der Kleinstadt im amerikanischen Mittwesten wohl ebenso häufig rechtfertigen wie ein konservativer Soldat an einer Westküsten-Universität. Aber dennoch hat dieses Gefühl durchaus auch einen sehr realen Kern. Denn wenn (egal von welcher Seite) argumentiert wird, die eigene Position sei nicht nur maßgeblich, sondern auch objektiv richtig und gut, dann führt das bei Andersdenkenden natürlich zu Empörung. Zu recht.

Wie die Linke ihre antiautoritären und emanzipatorischen Grundsätze verriet

Besonders problematisch wird es dann, wenn aus der Überzeugung, im Besitz der Wahrheit zu sein, entsprechende Maßnahmen folgen. Sozialer Druck, der sich in der argumentativen Auseinandersetzung und auch in Tabus äußert, wird von Konservativen, Linken und Liberalen als Mittel genutzt und ist trotz aller Übertreibungen grundsätzlich ein legitimes Mittel, die eigene Position voranzubringen. Illegitim ist es hingegen, das Argument durch die Vorschrift zu ersetzen. Das sollten gerade Linke deutlich sehen. Ein wesentlicher Bestandteil ihrer Ideengeschichte handelt von der Emanzipation. Frauen, Juden, Sklaven, Farbige, Homosexuelle – sie alle wurden unterdrückt durch einen Staat, der seine Zwangsmittel einsetzte, um damals vorherrschende Gesellschaftsvorstellungen durchzusetzen.

Wie so oft trifft hier wieder die scharfsinnige Beobachtung des englischen Historikers Lord Acton zu, dass Macht die Tendenz hat, zu korrumpieren. Denn die Vormachtstellung, die linke Kreise im intellektuellen Diskurs über die vergangenen Jahrzehnte gewonnen haben, hat auch ihren ursprünglichen antiautoritären und emanzipatorischen Ansatz korrumpiert. Anstatt ihre Diskurs-Hoheit weise, klug und bedächtig einzusetzen, um in der Gesellschaft gegen Vorurteile und Diskriminierung vorzugehen, säen sie selber Vorurteile und diskriminieren Menschen, die anderer Meinung sind als sie.

Freiraum und Vertrauen

Und nicht nur das: sie nutzen zunehmend dieselben Formen der Macht, die einst genutzt wurden, um reaktionäre Überzeugungen durchzusetzen. Waren früher persönliche Entscheidungen wie Ehescheidung verboten und Homosexualität strafbar, so sollen heute ebenso persönliche Entscheidungen auch mit Strafen belegt und mit Verboten gesteuert werden: mit den Mitteln des „sanften Paternalismus“; mit einer Besteuerung, die unser Konsumverhalten lenken soll; mit repressiven Maßnahmen gegen Andersdenkende in Schulen und Universitäten. Von missionarischem Eifer beseelt sehen sie sich als Wiedergänger der Philosophenkönige, von denen Platon schwärmte. An den Hebeln der Macht angekommen wollen sie endlich auch die anderen Menschen zu den Höhen der Erkenntnis und Moral führen, auf denen sie sich wähnen.

Die Gegenbewegung, die wir derzeit gegen diese Weltverbesserung mit Zwangsmitteln erleben, wird das Problem nicht beheben. Viel zu wirr und erratisch sind die Thesen der Kämpfer wider „Genderwahn“ und Political Correctness. Und oft genug richten sie sich auch gegen die Fundamente der Offenen Gesellschaft und des respektvollen Umgangs. Die Antwort, mit der vielleicht alle Seiten leben könnten, ist die Rückbesinnung auf die Selbstverantwortung. Das heißt: Jedem Menschen zuzutrauen, dass er sein eigenes Leben verantwortlich leben kann. Die Gründe zu respektieren, die Menschen für ihre Überzeugungen und Handlungen haben, auch wenn man sie persönlich ablehnt. Freiraum und Vertrauen sind nicht nur in der Kindererziehung fundamentale Prinzipien – sie sind grundsätzlich die angemessenen Mittel im Umgang miteinander.

Friedliche Koexistenz statt einer uniformen Gesellschaft

Der wesentliche Unterschied zwischen Konservativen und Linken einerseits und Liberalen andererseits besteht darin, dass erstere eine konkrete Vorstellung davon haben, was richtig und falsch ist und ihre eigenen Werte für andere verbindlich machen wollen. Dagegen will der Liberale die Gesellschaft nicht gestalten. Sein Ziel ist einzig der Ordnungsrahmen, innerhalb dessen jeder seine eigenen Überzeugungen leben kann. Er will ein System, das die friedliche Koexistenz verschiedenster Überzeugungen und Lebensentwürfe möglich ist. Er will kein „einig Volk von Brüdern“, sondern eine Ordnung gegenseitiger Toleranz. Er vertraut weder auf die Macht des Establishments, noch auf die Macht der Straße – er vertraut auf die Macht der besseren Idee, deren natürlicher Nährboden der Respekt vor dem anderen ist. Das brachte schon vor über 70 Jahren Ludwig von Mises in seinem Buch „Bürokratie“ auf den Punkt mit den Worten:

„Wer seine Landsleute bessern möchte, muss dabei auf Überzeugung zurückgreifen. Dies allein ist der demokratische Weg, Veränderungen zu erreichen. Wenn jemand bei dem Versuch scheitert, andere von der Richtigkeit seiner Ideen zu überzeugen, sollte er die Schuld dafür seiner eigenen Unfähigkeit geben. Er sollte kein Gesetz – mit anderen Worten: Zwang und Nötigung durch die Polizei – fordern.“

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Helfen, Rücksicht nehmen, ein guter Mensch sein – wer würde das nicht wollen? All das sind freilich individuelle Tugenden. Wenn Staat und Politik versuchen, uns dabei zu „unterstützen“, etwa durch den Kampf gegen „Hass-Sprache“, führt das oft zu gravierenden Folgen, die eigentlich keiner wollen kann.

Das Anbrechen des Hass-Zeitalters?

Nach dem Brexit machten plötzlich alarmierende Berichte die Runde, dass es einen sprunghaften Anstieg sogenannter Hass-Verbrechen gegenüber Ausländern gegeben habe. Der deutsche Justizminister wies kürzlich auf den besorgniserregenden Anstieg von „Hass-Reden“ in den sozialen Netzwerken um 176 Prozent hin und drohte den Betreibern der Netzwerke mit staatlichen Eingriffen. Beim Europarat ist eine eigene „Kommission gegen Rassismus und Intoleranz“ angesiedelt, die sich um die Erfassung und Bekämpfung von Hass-Verbrechen kümmert.

Diese Kommission hat viel zu tun, wenn sie die 47 Länder des Europarates beständig im Blick behalten möchte. Und vor allem, wenn sie die Balance halten möchte: Sie muss autokratisch regierte Länder wie Russland und Aserbaidschan ebenso in den Blick nehmen wie offene Demokratien wie Island und Portugal. Das führt dann zu so schwammigen Formulierungen wie der aus dem Jahr 2013 (!), dass in Deutschland „der rassistische und besonders der fremdenfeindliche Charakter in Teilen der öffentlichen Debatte … immer noch nicht ausreichend verdeutlicht“ werde. Was genau ist denn ein fremdenfeindlicher Charakter? Oder auch: wo findet sich konkret die „erhebliche (sic!) Diskriminierung von LGBT-Personen“? Und sind anonyme Bewerbungsverfahren bei der „Vergabe von Aufträgen, Darlehen, Zuschüssen und anderen Leistungen“ in irgendeiner Weise sinnvoll durchführbar? Man merkt bei der Lektüre der Berichte, dass hier eine Bürokratie am Werk ist, die nicht darauf ausgerichtet ist, sich selbst überflüssig zu machen, um es vorsichtig zu formulieren.

Schwammige Zahlen, unklare Begriffe

Natürlich gibt es abstoßende, gefährliche und zum Teil auch in erheblichem Ausmaß strafbare Diskriminierung gegenüber Menschen, die als andersartig empfunden werden. Und natürlich folgt auf böse Worte nicht selten auch die böse Tat. Jedes hasserfüllte Wort und jeder Faustschlag sind Verletzungen, die nie passieren sollten. Sobald aber mit Trends, Daten, Zahlen argumentiert wird, wird es sehr schnell unübersichtlich. Wenn man zum Beispiel versucht, herauszufinden, wie es zu dem von der Bundesregierung festgestellten Stand von 3084 „Hass-Postings“ in sozialen Netzwerken kommt, landet man im Nirgendwo. Man muss sich zufrieden geben mit der Aussage, dass es in der Statistik für politisch motivierte Kriminalität keine eigenständige Kategorie für Hasspostings gibt: „Die Fallzahlen wurden über eine Abfrage des Themenfeldes ‚Hasskriminalität‘ unter Eingrenzung auf das Tatmittel ‚Internet‘ ermittelt.“

In einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage aus dem Bundestag zum Thema „politisch motivierte Kriminalität“ kommt dann zum Vorschein, dass es sich in etwa drei Vierteln der Fälle um Volksverhetzung handeln soll. Der Bundesrichter Thomas Fischer formuliert dazu pointiert: „Man könnte ja eigentlich sagen: Beleidigung ist strafbar; üble Nachrede und Verleumdung sind strafbar; Volksverhetzung, Bedrohung, Gewaltverherrlichung sind strafbar, Befürwortung von Straftaten ist strafbar: Also wo um Himmels willen soll da jetzt noch eine ‚Lücke‘ sein? Wie viele ‚Hater‘ konnten denn aufgrund des bestehenden Rechts nicht zu Strafe oder Schadensersatz verurteilt werden? Was soll das überhaupt für ein merkwürdiger Tatbestand sein, ‚Hass‘ zu formulieren?“

Die Opfer-Inflation

Gegen Hass zu sein, ist gut. Aber was ist Hass? 62.518 Hassverbrechen wurden von der britischen Polizei 2015/16 aufgenommen, rund Zehntausend mehr als im Vorjahr, fast 80 Prozent davon mit rassistischem Hintergrund. Was Hass ist, definiert hier aber nicht der Gesetzgeber, sondern derjenige, der das vorgebliche Verbrechen meldet. Definiert wird ein Hass-Verbrechen in den Leitlinien der britischen Polizei nämlich allein durch die Wahrnehmung des Opfers oder des Zeugen. Die Meldung kann über ein einfaches Online-Formular erfolgen, das man anonym und ohne Beweise oder Belege vorzuweisen benutzen kann. Kein Wunder, dass die Statistik Amok läuft …

Wir erleben derzeit einen weltweiten Trend zur Viktimisierung: In den USA tobt an den Universitäten die Debatte um sogenannte „safe spaces“, wo sich Studenten frei von jeder Diskriminierung aufhalten können sollten – und liefert beständig Wasser auf die Mühlen der Trump-Unterstützer. In vielen westlichen Staaten inszenieren sich Rechtspopulisten als Opfer eines Mainstreams, der ihre Meinungsfreiheit beschneide. Muslime beanspruchen für sich, die „neuen Juden“ zu sein. Es scheint ein Wettbewerb darum zu bestehen, wer nun mehr diskriminiert werde – gerade so, als befänden wir uns in einem repressiven Gesellschaftsumfeld wie dem Herrschaftsgebiet der Taliban.

Persönliche Verantwortung nicht verstaatlichen

Dieser inflationäre Gebrauch des Opfer-Konzepts führt zu anderen Folgen als denjenigen, die viele sich wünschen, die etwas gegen Diskriminierung tun wollen. Es führt etwa zu einem sich gegenseitig aufschaukelnden Konflikt: Wenn sich der hypersensible Akademiker beständig über die „falsche“ Sprache beschwert, führt das bei der rabiaten Kleinunternehmerin zu Gegenreflexen und so beginnt eine Spirale der Eskalation. Wenn man durch anonyme Meldeformulare Opfern von verbaler oder tätlicher Gewalt einen möglichst leichten Zugang zu Schutz und Gerechtigkeit ermöglichen möchte, führt das zum Missbrauch dieser Gelegenheit. Durch diese Opfer-Inflation auf allen Seiten wird der Begriff entwertet – was sich ja bereits im Sprachgebrauch von Jugendlichen niederschlägt, die demjenigen, dessen Bierflasche grade zu Boden gefallen ist, zurufen: „Du Opfer!“ Wirklichen Opfern ist dadurch nicht geholfen.

Der Schutz unserer Mitmenschen vor Übergriffen, vor Hass und Gewalt, auf welcher Seite sie auch immer stehen mögen, ist in Fällen klarer Gewaltanwendung natürlich Sache der Strafverfolgungsbehörden. Sie ist aber ganz oft auch Sache jedes Einzelnen – gerade in jenen Grauzonen, die als „Hass-Rede“ bezeichnet werden. Indem Politiker uns diese Verantwortung abnehmen, schwächen sie das Anliegen und die Gesellschaft als Ganze. Wir dürfen unsere persönliche Verantwortung nicht verstaatlichen. Es ist Aufgabe jedes einzelnen von uns, einzuschreiten, wenn jemand beschimpft oder diskriminiert wird. Es ist unsere Aufgabe, unsere Kinder so zu erziehen, dass sie im Modus des Respekts denken, reden und handeln. Es ist unsere Aufgabe, dafür zu werben, dass der soziale Druck wächst auf diejenigen, die aus Hass reden und handeln. Nur so kann eine nachhaltige Veränderung geschehen zum Besten aller. Alles andere ist Augenwischerei.

Photo: futurestreet from Flickr (CC BY 2.0)

Von Gottfried Heller, Vermögensverwalter und Autor des Buches „Der einfache Weg zum Wohlstand„.

Angela Merkel ist sauer. Mal wieder. Hat es doch der DGB gewagt, so kurz vor der Bundestagswahl auf die Krise der Rentenversicherung aufmerksam zu machen. Das befördere, klagte die Kanzlerin, ohne Not die Angst vor Altersarmut. Und  das nutze der AfD. Mit diesem Totschlagargument kann sie aber nicht jedes Problem unter den Teppich kehren. Vor allem dann nicht, wenn es so himmelschreiend ist wie bei der Altersvorsorge.

Die Kanzlerin hätte nur ihre Sozialministerin Andrea Nahles fragen müssen. Die hatte Ende September alarmierende Ergebnisse vorgestellt: Wenn alles bleibt wie es ist, wird das gesetzliche Rentenniveau von 47,8%bis 2030 auf 44% und bis 2045 auf 41,6% fallen. 2001 waren es noch 52,6% des Durchschnittslohns. Trotzdem von drohender Altersarmut keine Spur, meint Merkel. Was nicht sein darf, kann auch nicht sein.

Dabei sind die neuen Zahlen von der Tendenz her längst bekannt. 2012 hatte die damalige Sozialministerin von der Leyen vorgerechnet, 2030 müssten Arbeitnehmer, die weniger als 2500 Euro verdienen, „mit dem Tag des Renteneintritts den Gang zum Sozialamt“ antreten. Dabei fangen die Probleme ab 2030 erst richtig an, weil dann die geburtenstärksten Jahrgänge in Rente gehen.

Aber statt überfällige Reformen –auch schmerzhafte – durchzuführen, die von Schwarz-Rot mit 80% Stimmenmehrheit leicht umsetzbar gewesen wären, hat Kanzlerin Merkel die Chance leichtfertig vertan und das Thema „Rente“ in der Schublade versenkt. Mit ihrem üblichen Aussitzen hat sie wertvolle Zeit vergeudet, Zeit, die eine Reform der Alterssicherung nicht hat. Stattdessen verteilte die „GroKo“ mit abschlagfreier Rente mit 63 und Mütterrente neue Wohltaten, die bis 2030 zusätzlich 130 Milliarden Euro kosten.

Falls Frau Nahles in ihrem für November angekündigten neuen Rentenkonzept die Forderung ihres Parteichefs Sigmar Gabriel und des DGB erfüllt, das Rentenniveau auf dem jetzigen Stand einzufrieren, wird alles noch viel teurer – 2030 entstünden Mehrkosten von jährlich 19 Milliarden Euro und 2045 von sage und schreibe 40 Milliarden Euro. Finanziert werden müsste das mit einem Sprung des Beitragssatzes von 18,7% auf 26,4%. Nahles hat die Schleusen schon geöffnet und erklärt, die Beiträge blieben „nicht bei den 22% stehen“, die als Höchstgrenze bis 2030 festgeschrieben sind.

Wie man es dreht und wendet, die Regierung hat nur drei Stellschrauben: die Rentenhöhe, den Beitragssatz und das Renteneintrittsalter. Mal ist die Lösung zu teuer, mal menschlich nicht zumutbar oder ideologisch nicht akzeptabel. Die Rechenakrobaten im Sozialministerium mühen sich vergeblich: Der frühere SPD-Arbeitsminister Franz Müntefering hat es auf den Punkt gebracht: „Weniger Kinder, später in den Beruf, früher raus, länger leben, länger Rente beziehen: Wenn man das nebeneinander legt, muss man kein Mathematiker sein, da reicht Volksschule Sauerland, um zu wissen: Das kann nicht gehen!“ Recht hat er, der Sauerländer Müntefering. Er wollte bildhaft klarmachen, dass ein späterer Rentenbeginn und Abstriche bei der Rentenhöhe unvermeidbar sind. Nahles und Merkel hätten wohl Volksschule Sauerland nicht geschafft. Aber für die Bundesregierung hat es allemal gereicht.

Um wachsende Altersarmut zu vermeiden, muss schnellstens eine Stärkung der betrieblichen und privaten Altersvorsorge erfolgen. Das hat die Koalition zwar vor – aber mit den Mitteln, die schon in der Vergangenheit versagt haben, nämlich solchen, die auf Lebensversicherungen basieren. Die setzen  fast nur auf Zinsanlagen und verzichten weitgehend auf Aktien. Ausgerechnet  die langfristig ertragreichste Anlageform wird mit 4 % Anteil sträflich vernachlässigt.

Die heftig gescholtene Riester-Rente, die betrieblichen Pensionskassen und neue Lebensversicherungsverträge werfen deswegen lächerliche Renditen ab. Mit deutscher Gründlichkeit, mit Regulierungswut, teuren Garantieversprechen, Risikoscheu und Aktienfeindlichkeit ist das System der Altersvorsorge deshalb zur Zeitbombe geworden.

Schon in biblischen Zeiten gab es eine Regel, wie das Vermögen am besten aufzuteilen sei: Ein Drittel im Beutel, ein Drittel in Häusern, ein Drittel in Geschäften. Übersetzt heißt das: Ein Drittel in Festgeld und Festverzinslichen, ein Drittel in Immobilien und ein Drittel in Aktien. Die Deutschen dagegen sind in Geschäften – also Aktien mit 8 % Anteil am Gesamtvermögen – total unterinvestiert. Wollten sie bibeltreu anlegen, müssten sie den Aktienanteil vervierfachen. Das würde sich lohnen.

Aktien sind langfristig die mit Abstand ertragreichste Anlageform. Einschließlich wieder angelegten Dividenden betrugen die durchschnittlichen jährlichen Renditen in den 45 Jahren bis 2015 an den wichtigsten Börsen 10 bis 11 Prozent. Davon können die von Albträumen geplagten Zinssparer nur träumen.

Für die private und betriebliche Altersvorsorge ist deshalb ein viel höherer Aktienanteil unverzichtbar. Anstatt aber das Rad neu zu erfinden, würde ein Blick ins Ausland helfen, um bewährte Lösungen zu finden und zu übernehmen.

In der Schweiz können Einzahlungen in die „gebundene Vorsorge“ bis zu bestimmten Höchstbeträgen vom zu versteuernden Einkommen abgezogen werden, und die Kapitalzuwächse bei Aktien, Anleihen, Fonds, etc. sind in der Ansparphase steuerfrei. Der Maximalbetrag beläuft sich 2016 bei Personen ohne betriebliche Vorsorge auf 20% des Nettoeinkommens, maximal umgerechnet rund

31 000 Euro, bei Personen mit beruflicher Vorsorge – die in der Schweiz üblich ist – auf gut 6200 Euro. Nach der Auszahlung werden die Erträge  zu vergünstigten Sätzen besteuert.

In Frankreich gibt es den Aktiensparplan PEA (Plan d Épargne en Actions), in den Jeder bis zu 150 000 Euro in Aktien, Fonds und Zinsanlagen investieren kann. Voraussetzung: 75 % der Aktien sind von Unternehmen aus der EU. Die Erträge sind steuerfrei, ab fünf Jahren  Haltedauer auch die Kursgewinne. 2014hat die Regierung zusätzlich einen PEA für kleine und mittlere Unternehmen eingerichtet, in den weitere 75 000 Euro angespart werden können. Ein Ehepaar kann zusammen also bis zu 450 000 Euro in renditestarken Aktien und Fonds investieren. Im Vergleich dazu sind die Riester-Höchstbeträge ein Witz.

Die USA sind ein Musterbeispiel betrieblicher und privater Altersvorsorge. Da dort die Beitragssätze zur Rentenversicherung mit 12,4 % um 6,3 Prozentpunkte niedriger sind als in Deutschland – und seit über 30 Jahren unverändert – haben Arbeitnehmer netto mehr von ihren Löhnen übrig, und Unternehmen müssen weniger einzahlen. Dieses „eingesparte“ Geld fließt seit 1978 vielfach in die betriebliche Vorsorge, die mit dem 401(k) Plan eine rentable und flexible Lösung bietet. Viele Arbeitgeber beteiligen sich mit 50 bis 100% an den Beiträgen. Die Arbeitnehmer können bis zu 18 000 Dollar (2016) jährlich einzahlen, über 60-jährige zusätzlich 6000 Dollar. Die Beiträge fließen überwiegend in Aktien- und gemischte Fonds, bei denen die Anlagestrategie auf das erwartete Rentenalter abgestimmt wird. Sie sind für Arbeitnehmer steuerfrei, der Arbeitgeber kann seinen Anteil als Betriebsausgaben absetzen. Zusätzlich gibt es den Roth-IRA, mit dem aus versteuertem Einkommen Vorsorgevermögen bis zu jährlich 5500 Dollar gebildet werden kann. Kapitalwachstum, Dividenden und Zinsen sind nach fünf Jahren steuerfrei.

Die unkomplizierte, flexible und renditestarke Art der Altersvorsorge bewirkt, dass US-Bürger kurz vor Renteneintritt im Durchschnitt 360 000 Dollar auf ihren Vorsorge-Konten angespart haben.  Die Amerikaner besitzen laut dem Allianz Global Wealth Report über 202 000 Euro Durchschnittsvermögen, die Deutschen mit 68 000 Euro nur ein Drittel davon. Deutschland ist in der Industrie Weltklasse, bei Vermögensbildung und Altersvorsorge Provinzklasse. Das lässt sich leicht ändern.

Das Rad in der Altersvorsorge ist andernorts schon erfunden und läuft rund. Unsere überforderten Gesetzesgeber könnten es einfach kostenlos und zollfrei importieren.

 

Photo: metroplico.org from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Deutschland ist auch ein bisschen Griechenland. Zumindest was die kollektive Verantwortungslosigkeit im deutschen Föderalismus angeht. So trägt jeder Bremer die Schuldenlast seines Landes in Höhe von 32.735 Euro. Das ist mehr als jeder Grieche für sein Land. Dort beträgt die Schuldenlast pro Einwohner 28.500 Euro. Jeder Vergleich hinkt, so auch dieser. Es ist sicherlich nicht vermessen, wenn man behauptet, dass in den aktuellen griechischen Zahlen nicht alle Verbindlichkeiten enthalten sind, aber dies gilt auch für Bremen. Die Schuldenlast des Bundes von 1.100 Milliarden Euro müsste in diesem Vergleich auch anteilig auf jeden Bremer verteilt werden.

Wie in Griechenland ist auch in Bremen die Schuldenlast erdrückend und nicht mehr durch reines Wirtschaftswachstum nennenswert zurückzuführen. Und wie in Griechenland durch die EU und die EU-Mitgliedsstaaten erhält Bremen regelmäßig Transferzahlungen vom Bund und von den übrigen Bundesländern. Vom Bund kamen 2015 563 Millionen Euro Sonderzuweisungen und im Rahmen des Länderfinanzausgleichs über 600 Millionen Euro von den Ländern. Mit letzterem ist jetzt bald Schluss. Der Länderfinanzausgleich wird abgeschafft. Darauf haben sich der Bund und die Länder geeinigt. Das ist gut und richtig so. Er war schon immer leistungsfeindlich, weil nur wenige Geberländer eine große Mehrheit von Nehmerländern gegenüberstanden. Aktuell zahlen nur noch Hamburg, Hessen, Baden-Württemberg und Bayern ein. In 2015 waren es 9,5 Milliarden Euro. Das hört sich viel an, am gesamten Steueraufkommen von 620 Milliarden Euro sind es aber lediglich 1,5 Prozent.

Daher ist die Einigung nur ein Reförmchen. Eigentlich müsste eine viel grundlegendere Veränderung des Föderalismus stattfinden. Der deutsche Föderalismus schafft falsche Anreize. Er bestraft gute Politik und belohnt schlechte. Kommen Bremen oder auch das Saarland mit ihren Ausgaben nicht zurecht und steigt daher die Verschuldung immer weiter an, dann hilft der Bund in unregelmäßigen Abständen mit Sonderzahlungen – jetzt wieder. Damit die beiden Länder der Neuordnung des Finanzausgleichs ab 2020 zustimmen, erhalten sie erneut Sanierungshilfen von 800 Millionen Euro.

Geändert hat sich in den letzten Jahrzehnten an der grundsätzlichen Finanzsituation der beiden Schuldenländer dennoch nichts. Dabei ist die Größe der Bundesländer nicht das Problem. Das sieht man schon daran, dass das kleine Hamburg in den Länderfinanzausgleich bislang eingezahlt und das große Nordrhein-Westfalen Leistungen daraus bezogen hat.

Das Problem ist, wie in Griechenland auch, das Auseinanderfallen von Risiko und Haftung. Werden falsche Strukturentscheidungen der Länder getroffen, zu viele Beamte eingestellt oder zu viele Prestigeprojekte errichtet, haften nicht das Land Bremen und seine Bürger dafür, sondern alle Bürger in Deutschland. Es gibt in Deutschland keine Insolvenz von Kommunen und Ländern. Im Zweifel muss der Bund einspringen.

Das muss nicht so sein. Ein funktionierender Wettbewerbsföderalismus lässt die Verantwortung für die Entscheidungen auf der jeweiligen politischen Ebene. Leben eine Kommune oder ein Land über ihre Verhältnisse, dann müssen sie sich selbst um eine Konsolidierung bemühen. Gelingt dies nicht, dann muss mit den Gläubigern über eine Lösung verhandelt werden. Das ist nicht ungewöhnlich. Kann der Bundesstaat Kalifornien seine Beamten nicht mehr bezahlen, dann schickt er sie in den Zwangsurlaub. Die Zentralregierung in Washington käme nicht auf die Idee einzuspringen.

Und auch in unserem Nachbarland Schweiz kennt man nicht die Kollektivhaftung für das Versagen auf kommunaler oder kantonaler Ebene. Als 1998 die Gemeinde Leukerbad im Kanton Wallis zahlungsunfähig wurde, wollten sich die Gläubiger anschließend beim Kanton und bei der Zentralregierung schadlos halten. Diese verweigerten die Zahlung. Am Ende verzichteten die Gläubiger auf 78 Prozent ihrer Forderungen. Seitdem differieren die Finanzierungskonditionen zwischen Gemeinden, Kantonen und dem Bund in der Schweiz je nach Solidität. Dieser Wettbewerbsföderalismus funktioniert in der Schweiz auch deshalb, weil die jeweilige Ebene nicht nur über die Ausgaben in einem viel größeren Ausmaß als hierzulande bestimmen kann, sondern auch über die Einnahmen. Kantone und Gemeinden haben eine umfangreiche Steuerautonomie, die 80 Prozent des Steueraufkommens bei ihnen belässt. In Deutschland sind es nur rund 50 Prozent und das eigene Steuererhebungsrecht ist, von einigen Bagatellsteuern abgesehen, nicht vorhanden. Mehr Wettbewerbsföderalismus wäre daher auch für Deutschland gut.

Erstmals erschienen am 22. Oktober 2016 in der Fuldaer Zeitung.

Photo: United States Mission Geneva from Flickr (CC BY-ND 2.0)

Mit dem Verdikt „undemokratisch“ wird der Schrecken von TTIP und CETA anschaulich an die Wand geworfen. Es ist verwunderlich, dass dieser Vorwurf verstummt, sobald es um Organisationen wie die OECD, die WHO oder gar die Klimakonferenzen geht, die zum Teil erheblich gravierendere Defizite aufweisen.

Technokratie schlägt Demokratie

Als Beweis für den undemokratischen Charakter der Freihandelsabkommen mit den USA und Kanada wird immer wieder auf Schiedsgerichte verwiesen, die „in Hinterzimmern“ und jenseits „demokratischer Kontrolle“ tagen und entscheiden würden. Wie sieht es eigentlich mit der demokratischen Legitimation und der Kontrolle durch die Öffentlichkeit aus bei anderen transnationalen Abkommen und Organisationen? Die Weltgesundheitsorganisation etwa macht in regelmäßigen Abständen Vorschläge, die weit über die Bekämpfung von AIDS, Polio und Teenage-Schwangerschaften hinausgehen und dennoch häufig ohne große Diskussion in nationales Recht übernommen werden.

Erst vor kurzem schlug sie vor, zuckerhaltige Produkte mit einer Steuer von mindestens (!) 20 Prozent zu versehen. Zucker und Salz, Fett, Alkohol und Tabak – all das steht auf der Abschussliste. Und mittlerweile gehen die Ideen auch weit über bloße Aufklärung und Prävention hinaus: vom Werbeverbot über Zusatzsteuern bis hin zu neutralen Zigarettenschachteln („plain packaging“ – es gibt auch bereits Forderungen, dieses Konzept auf Alkohol und „ungesundes“ Essen auszuweiten). Solche Vorschläge, die im Gewand technokratischer Neutralität, wenn nicht gar wissenschaftlicher Objektivität daherkommen, werden in vielen Ländern unbesehen übernommen. Demokratischer Kontrolle und vor allem öffentlicher Diskussion entziehen sich die Befürworter solcher Regelungen indem sie sich mit der Aura internationalen Expertentums umgeben.

Eine Spielwiese für Bürokraten und Lobbyisten

Dabei ist die WHO selber eine durch und durch undemokratische Organisation – und zwar noch viel deutlicher als das internationale Schiedsgerichte sein können. Während es sich bei Letzteren um Gremien handelt, die jeweils von Fall zu Fall einberufen werden, hängt an der WHO ein gigantischer bürokratischer Apparat mit 8500 Mitarbeitern. Eine „Kontrolle“ findet statt durch Delegierte, die von ihren jeweiligen Mitgliedsstaaten gesandt werden: also zum Beispiel aus Nordkorea, Russland, Zimbabwe und Venezuela. Und natürlich steht auch die Pharmaindustrie nicht tatenlos beiseite, sondern nutzt diese weltweite Organisation auch zur Lobbyarbeit für ihre eigenen Produkte und gegen Konkurrenten, gerade in den weniger entwickelten Ländern.

Die OECD, die ganz ähnliche Politikempfehlungen gibt, von PISA bis zur Aufweichung von Datenschutz im Zusammenhang mit „Steuerflucht“, ist ebenso wenig durchschaubar. Die Delegationen werden von den Regierungen entsandt und können in ihren eigenen Hinterzimmern auch mancherlei Agenda ersinnen, die dann rasch Verbindlichkeit erlangt. Diese und viele andere Organisationen und ständige Konferenzen sind in vielerlei Hinsicht der Kontrolle durch Parlamente und Öffentlichkeit entzogen, betreiben ihre eigene Agenda und sind Einflüssen ausgesetzt, die zumindest zweifelhaft sind: von Industrielobbyisten bis zu Vertretern von Diktaturen und Unrechtsregimen.

Je stärker Menschen betroffen sind, umso mehr sollten sie mitreden können

Allein, in die Kritik kommen sie nur selten. Und das liegt wahrscheinlich daran, dass sie zum Teil tatsächlich „für die gute Sache kämpfen“, sich aber insbesondere auch immer diesen Anstrich geben. Wer etwas gegen dicke Kinder, Raucherbeine und Steuerflucht tut, der muss ja auf der guten Seite der Macht stehen. Aber so einfach ist es nicht. Ganz unabhängig davon, was die tatsächlichen Motive dieser Akteure sein mögen – ihre Lösungen sind in der Regel weder zielführend noch gerecht. Strafsteuern und Verbote für alle Konsumenten, Einheitsstandards oder weltweit verbindliche Vorgaben sind der sicherste Weg in eine tatschlich ungerechte Welt, wo sich alle den Vorgaben einer Technokraten-Elite zu beugen haben.

Wie findet eigentlich demokratische Kontrolle statt? Sie hat viel damit zu tun, wie unmittelbar, allgemein und langfristig etwas ist. Je stärker Menschen betroffen sind, umso mehr sollten sie mitreden können. Wenn – Stichwort Schiedsgerichte – die Stadt Hamburg ihren Verpflichtungen gegenüber Vattenfall nicht nachkommt und sich daraufhin auf einen Vergleich einigt, dann haben wir keinen Mangel an demokratischer Kontrolle. Kontrolliert werden müssen und können Senat und Bürgerschaft, die für die Vertragsverletzungen zuständig sind. Es ist ein Kernelement der repräsentativen Demokratie, dass bestimmte Aufgaben wie etwa Vertragsabschlüsse an Abgeordnete und Exekutivorgane delegiert werden und die Kontrolle dann alle paar Jahre für die Gesamtbilanz durchgeführt wird.

Demokratiedefizit: von missionarischem Eifer beseelte Technokraten

Ganz anders verhält es sich bei politischen Maßnahmen, also da, wo nicht einzelne und konkrete Entscheidungen getroffen werden, sondern allgemeinverbindliche Regeln bestimmt werden. Während etwa im Fall von Vattenfall nur mittelbar die Hamburger Steuerzahler und darüber hinaus einige Anwohner und einige Angestellte betroffen sind, treffen 20 % Zuckersteuer, erhöhte Überwachung oder ähnliche Repressalien alle Bürger, ja alle Konsumenten eines Staates. Hier ist viel deutliche demokratische Kontrolle gefordert!

Anstatt sich an der vermeintlichen und zum Teil auch tatsächlichen Intransparenz rund um TTIP und CETA aufzureiben, die die allermeisten Menschen ohnehin kaum irgendwie betrifft, sollten wir das Augenmerk auf diejenigen undemokratischen und intransparenten Akteure richten, die Maßnahmen durchsetzen, die fast jeden von uns betreffen. Nicht Unternehmen, die für sich, ihre Eigentümer, Angestellten und Kunden Rechtssicherheit haben wollen sind das Problem. Das Problem sind von missionarischem Eifer beseelte Technokraten, die uns alle zu besseren Menschen machen wollen. Notfalls auch gegen unseren expliziten Willen. Hier besteht ein gravierendes Demokratiedefizit, das angegangen werden will.