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Von Dr. Alexander Fink, Universität Leipzig, Senior Fellow des IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues und Benjamin Buchwald, Research Fellow bei IREF, Student der Public Economics an der Leuphana Universität Lüneburg.

Nach der deutschen Wiedervereinigung war die Sorge groß, dass die neuen Bundesländer bei der Beschäftigung weit hinter den alten Ländern bleiben. Das Bild eines zweiten Süditalien zwischen Harz und Oder stand im Raum. Doch die Unterschiede bei der Arbeitslosigkeit haben sich nivelliert, einem flexiblen Arbeitsmarkt sei Dank.

Bei allen Unterschieden, die weiterhin bestehen und allen Fehlern, die in der Vergangenheit gemacht wurden, die Entwicklung der Arbeitslosenraten in den ostdeutschen Ländern stimmt optimistisch. Nicht nur im Bereich der Arbeitslosigkeit herrscht Konvergenz, auch das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf nähert sich dem westdeutschen Niveau an. Die Gefahr eines zweiten Mezzogiornos scheint gebannt. Ostdeutschland hat sich nicht zu einem ökonomischen Pendant Süditaliens entwickelt.

Arbeitslosigkeit in den Neuen Ländern deutlich gesunken

Es geht voran in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Ein Blick auf die Entwicklung der Arbeitslosigkeit im Zeitverlauf offenbart ein positiv stimmendes Bild: Die Arbeitslosenraten in den östlichen Flächenländern sind verglichen mit den 1990er Jahren deutlich gefallen.

Die Arbeitslosenquoten Sachsens und Thüringens – bezogen auf alle zivilen Erwerbspersonen – liegen heute unter derjenigen von Nordrhein-Westfalen. Auch die Quoten der übrigen ostdeutschen Länder nähern sich denen der westdeutschen immer weiter an. Seit Mitte der 1990er Jahre ist Konvergenz zu beobachten.

Ostdeutschland ein zweites Mezzogiorno?

Einige sollte die Entwicklung angesichts düsterer Vorhersagen für die wirtschaftliche Entwicklung des ostdeutschen Bundesgebietes nach der Wiedervereinigung überraschen. So wurde vor der Entstehung eines zweiten Mezzogiorno-Problems gewarnt. Gemeint war, dass die Volkswirtschaft in den östlichen Bundesländern hinsichtlich Produktivität, Bruttoinlandsprodukt, Wachstum und Arbeitslosigkeit deutlich von derjenigen der westdeutschen Länder abgehängt werden würde – ähnlich der Situation, wie sie in Italien zwischen dem nördlich-zentralen und dem südlichen Teil des Landes zu beobachten ist.

Noch 2001 argumentierten die Ökonomen Hans-Werner Sinn und Frank Westermann, dass es zwischen Ostdeutschland und Süditalien auffallende Gemeinsamkeiten gäbe und sprachen von einem zweiten Mezzogiorno. Beide Regionen wiesen ähnliche Produktivitätslücken zum Rest des Landes auf und waren auf Transferleistungen angewiesen. Als Gründe nannten die beiden Ökonomen überzogene Löhne, zu hohe Sozialleistungen und eine problematische Verteilung von Arbeitskräften auf bestehende Tätigkeitsbereiche.

Konvergenz auf dem deutschen Arbeitsmarkt

Die jüngere Entwicklung auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt ist weit weniger düster als diese vor über 15 Jahren formulierten wenig hoffnungsvollen Aussichten. Stiegen die jeweiligen Arbeitslosenquoten in den 1990er Jahre noch an und erreichten zu Beginn der 2000er Jahre ihre Höchststände, sind sie seitdem stark gefallen. Die heutigen Arbeitslosenraten aller ostdeutschen Flächenländer befinden sich nunmehr deutlich unter den Niveaus, welche unmittelbar nach der Wiedervereinigung zu verzeichnen waren.

Vergleicht man die Entwicklung der Arbeitslosenraten in Ostdeutschland mit derjenigen in den westdeutschen Bundesländern, kann seit Mitte der 1990er Jahre von Konvergenz gesprochen werden. Der Osten holte in jüngerer Vergangenheit auf.

Die Zahlen in den jeweils bevölkerungsreichten Ländern Nordrhein-Westfalen und Sachsen stehen dafür beispielhaft. 1994 betrug die Arbeitslosenquote in NRW noch 9,8 %. Im selben Jahr verzeichnete das Land Sachsen eine Quote von 14,8 %. 2005 waren Arbeitslosenhöchststände von 12,0 % in NRW bzw. 18,3 % in Sachsen zu vermelden. Auch angetrieben durch die Hartz-Reformen, sind die Arbeitslosenraten seitdem gefallen – in Sachsen jedoch deutlich stärker als in NRW. Im vergangenen Jahr betrug die sächsische Arbeitslosenquote nur noch 7,5 % und konnte damit Nordrhein-Westfalen (7,7 %) unterbieten.

Natürlich bestehen auch heute noch größere Unterschiede zwischen den ostdeutschen Bundesländern und den volkswirtschaftlich robustesten westdeutschen Ländern. Doch auch dieser Vergleich zeigt einen positiven Trend: 2016 wies Bayern mit 3,5 % die niedrigste Arbeitslosenrate auf. Den niedrigsten Wert in Ostdeutschland hatte Thüringen mit 6,7 % zu verzeichnen. Damit lag der Abstand des von der Performance her „besten“ westdeutschen Flächenlandes zum „besten“ ostdeutschen bei 3,2 Prozentpunkten. 22 Jahre zuvor fiel dieser Abstand noch deutlich größer aus. Er betrug damals 9,5 Prozentpunkte.

Auch BIP pro Kopf nähert sich westdeutschem Niveau

Trotz aller wirtschaftspolitischer Fehler, die nach der Wiedervereinigung gemacht wurden, konnte im Falle von Ostdeutschland ein zweites Mezzogiorno anscheinend abgewandt werden.

Die Arbeitslosenquoten in den süditalienischen Regionen, die substantielle Transfers aus dem Nordern erhalten und von organisierter Kriminalität sowie einem unverlässlichen Justizwesen geplagt sind, reichten von 12,1 % bis 23,2 %. Während sich das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in Italien zwischen Nord und Süd zudem immer weiter auseinanderentwickelt, holen die ostdeutschen Bundesländer gegenüber den westdeutschen auch hier auf. Lag das ostdeutsche BIP pro Kopf zur Zeit der Wiedervereinigung noch bei weniger als 40 % des Durchschnitts in Westdeutschland, machte es 2015 bereits knapp unter 70 % aus.

Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt entscheidender Faktor

Die Ökonomen Andrea Boltho, Wendy Carlin und Pasquale Scaramozzino sehen als einen wesentlichen Grund für die positive Entwicklung der ostdeutschen Bundesländer die im Vergleich zu den süditalienischen Regionen stärker ausgeprägte Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt. Es wäre wünschenswert, diese positive Entwicklung durch weitere Reformen zu unterstützen und so für zusätzliche Flexibilität auf dem deutschen Arbeitsmarkt zu sorgen.

Bedauerlicherweise scheint in Deutschland seit den Hartz-Reformen eher der Drang vorzuherrschen, den Arbeitsmarkt weniger flexibler zu gestalten. Der Mindestlohn ist dabei die offensichtlichste Maßnahme. Die Konsequenzen derartiger häufig gut gemeinter Maßnahmen, die den Arbeitsmarkt regider machen, sind langfristig oft nicht wünschenswert.

Zuerst erschienen bei IREF.

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Von Dr. Alexander Fink, Universität Leipzig, Senior Fellow des IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues und Kalle Kappner, Promotionsstudent an der Humboldt-Universität zu Berlin, Research Fellow bei IREF, Fackelträger von Prometheus.

Die Regierungen der letzten Jahre haben zahlreiche Gesetze erlassen, um Deutschland aus ihrer Sicht umweltfreundlicher und vor allem sozial gerechter zu machen. Doch das Gegenteil ist der Fall: Die Zeche von Mietpreisbremse, PKW-Maut und EEG zahlen überproportional die einkommensschwächeren Haushalte.

Staatliche Regulierungen sollen Verhaltensänderungen bewirken, Risiken reduzieren oder zwischen Marktteilnehmern umverteilen. Insbesondere Regulierungen, die nicht allgemeiner Natur sind wie beispielsweise die Buchführungspflicht, sondern ausgewählte Güter oder Märkte betreffen, wirken jedoch regressiv. Sie verursachen also bei Menschen mit niedrigem Einkommen relativ höhere Kosten als bei Menschen mit hohem Einkommen. Drei jüngere Beispiele regulativer Eingriffe mit regressiver Wirkung sind das Erneuerbare-Energien-Gesetz, die Pkw-Maut und die Mietpreisbremse. Der regressive Charakter vieler spezifischer Regulierungen gibt weiteren Anlass, eine zurückhaltendere Rolle des Staates im Marktprozess zu befürworten.

Spezifische Regulierungen und ihre Ziele

Güterspezifische Regulierung kann verschiedenen Zielen dienen: Sie kann darauf ausgerichtet sein, Marktversagen zu korrigieren, gesellschaftlich unerwünschte Verhaltensweisen zu sanktionieren, Risikoexponiertheit zu mindern oder Ressourcen an Bedürftige umzuverteilen. Schwer zu rechtfertigen sind hingegen Regulierungen, die weniger Wohlhabende relativ zu ihrem Einkommen stärker belasten als Wohlhabende. Das erklärte Ziel moderner Sozialstaaten ist es, Einkommen anzugleichen, statt sie zu spreizen.

Weshalb kommt es dennoch zu regressiv wirkender Regulierung? In einigen Fällen ist die regressive Wirkung vermutlich schlicht eine unintendierte Nebenfolge, in anderen Fällen ein bewusst durch einflussreiche Interessengruppen angestrebtes Ergebnis. Die Präferenzen wohlhabender Wähler werden im politischen Prozess überproportional berücksichtigt: Sie gehen öfter wählen, betreiben erfolgreicher Lobbyarbeit und politische Entscheidungsträger sind selbst oft wohlhabend und neigen dazu, die Interessen von ihnen ähnlichen Menschen stärker zu gewichten. Regulierungen mit unintendierten Nebenfolgen werden daher mit einer höheren Wahrscheinlichkeit abgewendet oder angepasst, wenn sie Wohlhabende relativ stärker belasten. Ob intendiert oder nicht, regressive Effekte sind zu erwarten.

Regulierungen der Großen Koalition

Beispiele für marktspezifische Regulierungen, die weniger Wohlhabende relativ stärker belasten, liefern jüngste Maßnahmen der Großen Koalition. In der aktuellen Legislaturperiode wurden rund 500 neue Gesetze verabschiedet. Zu den wichtigsten Eingriffen in spezifische Märkte gehören die Mietpreisbremse, die Pkw-Maut und eine Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes. Wenngleich sich Vertreter der Regierungskoalition damit brüsten, die Interessen der weniger Wohlhabenden zu vertreten, haben die genannten Regulierungen regressive Wirkungen.

Beispiel 1: Mietpreisbremse

Die 2015 in Kraft getretene Mietpreisbremse soll die in Mietverträgen vereinbarte Miethöhe auf maximal 10 % über der ortsüblichen Vergleichsmiete deckeln. Sie verfolgt damit ein Umverteilungsziel – von Vermietern zu Mietern. Zwar gibt es Hinweise darauf, dass die Preisbremse von vielen Mietern bewusst ignoriert wird, doch in dem Maße, in dem sie greift, wirkt sie regressiv.

Als mehr oder weniger flexible zusätzliche Preisobergrenze schwächt die Mietpreisbremse die Reaktion der Angebotsseite auf den Mietanstieg ab. Steigen wie seit einigen Jahren vor allem in Ballungsgebieten die Mieten an, reduziert die Mietpreisbremse den Umfang der aufgrund des Mietanstiegs neu gebauten Wohnungen. Anstatt vornehmlich zu mietsenkenden Mengenanpassungen durch Angebotsausweitungen, kommt es mittelfristig zu einem stärkeren Preisdruck. Preisanstiegen schiebt die Mietpreisbremse jedoch einen Riegel vor. Der Preis kann also die angebotene und nachgefragte Menge an Wohnungen nicht ausgleichen.

Halten sich die Marktteilnehmer an die Regeln der Mietpreisbremse, übersteigt die Nachfrage das Angebot und viele Wohnungssuchende verbringen viele Stunden in Treppenhäusern. Dass unter vielen Bewerbern um eine Wohnung gerade diejenigen mit relativ niedrigen Einkommen zum Zuge kommen, ist unwahrscheinlich. Greift die Mietpreisbremse und werden ihre Regeln beachtet, leiden also weniger Wohlhabende unter der schleppenden Ausweitung des Wohnungsangebots, während Wohlhabende relativ günstige Wohnungen beziehen können.

Führt die Mietpreisbremse dazu, dass auch lanfgristig weniger Wohnungen angeboten werden, leiden unter höheren Mieten sowohl Wohlhabende als auch weniger Wohlhabende. Aber die weniger Wohlhabenden trifft es stärker, geben sie doch einen größeren Teil ihres Einkommens fürs Wohnen aus.

Beispiel 2: Erneuerbare-Energien-Gesetz

Das Gesetz für den Ausbau erneuerbarer Energien (EEG) geht auf das Jahr 2000 zurück, wurde von der derzeitigen Regierungskoalition aber zwei Revisionen unterzogen und marginal marktkonformer ausgestaltet. Es dient dem erklärten Ziel, die Risiken des Klimawandels durch geringeren CO2-Ausstoss zu mindern und hat keine offizielle Umverteilungsfunktion. Dennoch ist die regressive Verteilungswirkung des EEG wohlbekannt.

Im Rahmen des EEG wird die private Stromeinspeisung aus erneuerbaren Energieträgern subventioniert. Davon profitieren Menschen, die in förderwürdige Energiequellen investieren oder Stakeholder entsprechender Unternehmen sind – das sind tendenziell Wohlhabende. Finanziert wird die Subvention über eine von allen entrichtete Umlage auf den Strompreis, der bei Geringverdienern einen größeren Anteil der Ausgaben ausmacht als bei Wohlhabenden. Auch der nun eingeleitete Übergang von fixen Einspeisevergütungen zu Ausschreibungen beseitigt den regressiven Charakter des EEG nicht.

Die regressive Wirkung des EEG kommt auch zum Tragen, wenn dessen tatsächliche Bedeutung für den Klimaschutz bewertet wird. Im Rahmen des EU-Emissionshandels werden in Deutschland erfolgende CO2-Einsparungen durch höhere Emissionen in anderen Ländern kompensiert – eine direkte klimapolitische Wirkung hat das EEG also nicht. Das Klimawandelrisiko senkt es nur insofern, als es den Ausbau erneuerbarer Energien bis hin zur Marktreife beschleunigt und mittelfristig auch zur Verbreitung dieser auch in anderen Ländern beiträgt. Eine derart teure Maßnahme zur Risikoreduktion mag den Präferenzen wohlhabender Wähler entsprechen, würde durch weniger Wohlhabende privat aber kaum nachgefragt.

Beispiel 3: Pkw-Maut

Die vor einigen Monaten in Kraft getretene Pkw-Maut auf deutschen Fernstraßen hat viele Ökonomen enttäuscht: Statt kilometergenaue, nutzungsabhängige Gebühren zu erheben, wird lediglich die Zugangsberechtigung in Form einer Vignette bepreist. Zwar müssen ausländische Fahrer in Zukunft stärker für durch sie verursachte Kosten aufkommen und Menschen, die Fernstraßen nie nutzen, werden entlastet.

Doch innerhalb der Gruppe inländischer Fernstraßennutzer profitieren Vielfahrer auf Kosten von Wenigfahrern. Menschen mit höherem Einkommen sind im Schnitt mobiler und nutzen Autos häufiger. Würden Fernstraßen über an das tatsächliche Nutzerverhalten gekoppelte Gebühren finanziert, etwa mittels Mautstation oder GPS-Ortung, so könnte die faktische Subvention von Vielfahrern mit tendenziell höherem Einkommen durch Wenigfahrer mit niedrigerem Einkommen vermieden werden.

Unerwünschte Umverteilung vermeiden

Die Große Koalition der Jahre 2013-2017 hat wie ihre Vorgängerregierungen viele Gesetze mit dem Anspruch auf den Weg gebracht, Ressourcen an Bedürftige umzuverteilen. Doch regressiv wirkende Gütermarktregulierungen wie die Mietpreisbremse, die Pkw-Maut und das novellierte Erneuerbare-Energien-Gesetz konterkarieren dieses Ziel.

Über regressive Verteilungswirkungen marktspezifischer Regulierungen wird selten diskutiert, doch sind sie weder überraschendes Ergebnis des demokratischen Prozesses, noch bilden sie ein zu vernachlässigendes Randphänomen. Unerwünschte Verteilungswirkungen regulativer Eingriffe sollten stärker berücksichtigt werden und der Regulierungsrahmen sollte marktkonformer sowie verteilungsneutraler gestaltet werden.

Zuerst erschienen bei IREF.

Photo: Rich Dahlgren from Unsplash (CC 0)

Von Prof. Roland Vaubel, emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre und Politische Ökonomie an der Universität Mannheim.

Es war zu erwarten, dass das Projekt einer europäischen Einlagensicherung nach der Bundestagswahl wiederbelebt werden würde. Auch Wolfgang Schäuble war ja schon vor der Wahl für diese Ideen aufgeschlossen gewesen. Er hatte lediglich darauf bestanden, dass die Zeit noch nicht reif sei und dass dafür eine Vertragsänderung nötig sei. Nun hat Peter Altmaier als geschäftsführender Finanzminister und ehemaliger Kommissionsbeamter das Entscheidungsverfahren in Gang gebracht. Er will einen „Fahrplan“ aufstellen. Bis zum Sommer wollen die Finanzminister der Eurozone die Bedingungen festlegen, unter denen die Einlagensicherung beginnen kann und soll. Vier Kriterien sollen darüber Aufschluss geben, ob oder inwieweit die Risiken der Banken in allen Euroländern auf ein vergleichbares Niveau gesunken sind: 1. die notleidenden Kredite, 2. die von den Banken gehaltenen Staatsanleihen, 3. die Angleichung des Insolvenzrechts, 4. die Umsetzung der Bail-in-Vorschriften. Diese vier Konvergenzkriterien sollen näher definiert und dann angewendet werden.

Mangel an Risikovorsorge

Es besteht weithin Einigkeit, dass das Insolvenzrisiko der Banken in Europa heute vor allem vom Umfang der notleidenden Kredite abhängt. In dieser Hinsicht bestehen auch die größten Unterschiede. Notleidende Kredite sind kein Problem für die Einlagensicherung, soweit die Banken sie offen ausweisen und eine angemessene Wertberichtigung und Risikovorsorge vornehmen. Aber das ist oft nicht der Fall. Diejenigen, die die Kredite vergeben haben, sind versucht, Geld nachzuschießen, damit der eigentlich insolvente Kreditnehmer seinen Schuldendienst weiter leisten kann und der eigene Fehler nicht offenbar wird. Solche faulen Kredite wird die europäische Bankenaufsicht nur in den seltensten Fällen entdecken. Man könnte sie anhand gesamtwirtschaftlicher Indikatoren wie Insolvenzquote, Rückgang der Immobilienpreise und Auslastung der Sachkapazitäten schätzen. Aber Peter Altmaier weiß selbst am besten, dass das politisch nicht durchsetzbar ist. Das Problem der verdeckten faulen Kredite ist schlicht nicht lösbar. Das sollte zu denken geben.

Wenn es sich nicht mehr vermeiden lässt, einen faulen Kredit als notleidend auszuweisen, hat die Bank ein Interesse daran, eine zu geringe Wertberichtigung und Risikovorsorge vorzunehmen, denn die Risikovorsorge geht zu Lasten des Eigenkapitals. Mit kreativer Buchführung ist zu rechnen. Deshalb ist der Umfang der als notleidend ausgewiesenen Kredite ein Indikator der nicht abgedeckten Bankrisiken und sollte sich in den Beitragsätzen der Einlagenversicherung maßgeblich niederschlagen.

Um effizient zu sein müsste die Einlagensicherung Beitragssätze vorsehen, die einigermaßen risikogerecht sind. Wahrscheinlich würde das Insolvenzrisiko so – oder ähnlich – berechnet werden, wie es der Einheitliche Abwicklungsausschuss der Eurozone bereits für seinen Bankenabwicklungsfonds tut. Deshalb ist von erheblichem Interesse, inwieweit das Ausmaß der als notleidend ausgewiesenen Kredite in der Risikokomponente berücksichtigt wird, die der Abwicklungsausschuss bei der Berechnung seiner Beitragssätze zugrunde legt.

Risiken berechnen

Die Risikokomponente – ein Multiplikator – wird als gewichteter Durchschnitt von im Regelfall elf Indikatoren berechnet. Dabei geht es um Kapitalquoten, Liquiditätsquoten, Verschuldungsquoten, Handelsbestände, außerbilanzielle Positionen, Derivate usw. Die notleidenden Kredite sind nicht darunter. Einige wenige Indikatoren – z. B. die Kapitalquoten – hängen zwar unter anderem von den Wertberichtigungen und der Risikovorsorge ab, aber eher schwach und geringer als von anderen Einflüssen. Ihr Gewicht ist nicht sehr groß.

Es kommt hinzu, dass die Spannweite des Risikomultiplikators künstlich beschränkt wird. Der größtmögliche Wert wird mit 1,5, der geringstmögliche mit 0,8 festgesetzt. Das bedeutet, dass die Risikokomponente für die Banken der höchsten Risikoklasse noch nicht einmal doppelt so groß sein darf wie für die niedrigste Risikoklasse. In der Einlagensicherung der USA (FDIC) kann die höchste Risikokomponente dagegen das 18-fache der niedrigsten betragen. 2017 betrug der Anteil der als notleidend ausgewiesenen Kredite an der gesamten Kreditsumme 47 Prozent in Griechenland, 34 Prozent in Zypern, 18 Prozent in Portugal, 14 Prozent in Slowenien und 12 Prozent in Irland und Italien – aber nur zwei Prozent in Deutschland. Im Durchschnitt der Eurozone liegt der Anteil bei 5,15 Prozent – also ebenfalls deutlich höher als in Deutschland. Vergleicht man die einzelnen Banken in der Eurozone, so ist die Spanne zwischen den riskantesten und den stabilsten noch viel größer. Damit ist klar: die soliden Banken subventionieren von vorneherein die unsoliden.

Rat und Parlament haben die Risikoindikatoren des europäischen Abwicklungsfonds ausgewählt. Die Kommission hat die Gewichte und die Spanne im Rahmen einer delegierten Verordnung (2015/63) mit einfacher Mehrheit festgelegt. Sie kann die Gewichte und die Spanne auch mit einfacher Mehrheit ändern. Sie könnte zum Beispiel die Spanne weiter komprimieren, um die Banken in den exponiertesten Ländern (auf Kosten der anderen) noch stärker zu entlasten. Der Rat kann die Delegation nur mit qualifizierter Mehrheit widerrufen (Art. 290 Abs.2 AEUV). Das Übereinkommen über den Abwicklungsfonds (Rat 8457/14) kann zwar bei einer grundlegenden Änderung der Umstände gekündigt werden, aber über die Frage, ob sich die Umstände durch die Novellierung  grundlegend geändert haben, würde der Gerichtshof der Europäischen Union entscheiden (Art. 9 des Übereinkommens). Für die Banken der stabileren Länder und ihre Kunden – die Sparer – lauert hier ein beachtliches Risiko.

Wenn die Beitragssätze nicht risikogerecht sind, womit auch in der europäischen Einlagenversicherung zu rechnen ist, werden die Anreize der Banken verzerrt: sie gehen zu hohe Risiken ein. Wenn der Beitragstopf der Einlagensicherung – wie der Abwicklungsfonds – erst allmählich aufgefüllt wird, womit ebenfalls zu rechnen ist, besteht außerdem ein Anreiz, die Restrukturierung der maroden Banken aufzuschieben, bis der Topf sein endgültiges Volumen erreicht hat und die Kosten der Insolvenzen in größtmöglichem Umfang auf die anderen Euroländer abgewälzt werden können. Beides erhöht die Gefahren.

Abwicklungsfonds und Einlagensicherung werden damit begründet, dass die Risiken in einer größeren Versicherung stärker diversifiziert werden können. Aber es gibt – wie wir sehen – in diesem Fall gewichtigere Gründe, die gegen eine größere Versicherung sprechen. Auch im Markt ist nicht unbedingt die größte Versicherung die beste. Fast immer können sich mehrere Versicherungen halten. Nationale Einlagensicherungen gibt es bereits. Zentralisierung kann schaden.

Frühe Warnung

Schon 2012 haben 279 Wirtschaftsprofessoren davor gewarnt, die Haftungsunion auf den Bankensektor auszudehnen. Die Bundestagsabgeordneten von CDU/CSU und SPD haben die europäische Einlagensicherung am 04.11.15 in einem gemeinsamen Entschließungsantrag strikt abgelehnt. Ihre Parteifreunde im Europäischen Parlament hat das allerdings nicht davon abgehalten, im März 2016 für das Projekt zu stimmen.

Letzten Monat hat eine Gruppe von vierzehn französischen und deutschen Wirtschaftsprofessoren in einer gemeinsamen Erklärung dafür geworben, die europäische Einlagensicherung im Rahmen eines Verhandlungspakets zu beschließen, das auch zwei sinnvolle Reformen enthält: auch für Staaten soll es eine Insolvenzordnung geben, und auch Staatsanleihen sollen von den Banken in gewissem Umfang mit Eigenkapital hinterlegt werden. Diese beiden Reformen würden allen beteiligten Ländern nützen. Sie stellen daher nicht einen Nachteil dar, für den die schwächeren Volkswirtschaften entschädigt werden müssten – zum Beispiel, indem die anderen in einer gemeinsamen Einlagensicherung Haftung übernehmen. Das Paket der Professorengruppe ist daher kein Tauschgeschäft.  Außerdem darf man in der Einlagensicherung nicht nur das Verteilungsproblem sehen. Eine Zwangsversicherung, deren Beitragssätze bei weitem nicht risikogerecht sind, ist ineffizient und gehört daher in kein wie auch immer geartetes Verhandlungspaket.

Dieser Beitrag ist am 03.03.2018 in der Börsen-Zeitung erschienen.

Photo: morzaszum from pixabay.com (CC0)

Von Dr. Alexander Fink, Universität Leipzig, Senior Fellow des IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues und Florian Hartjen, Head of Strategy & Development bei Prometheus das Freiheitsinstitut.

Es ist ein häufig geäußertes Vorurteil, dass sich Verfechter einer offenen Marktwirtschaft für etablierte Unternehmen einsetzen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Fürsprecher einer offenen Marktwirtschaft wünschen sich, dass Verbraucher in den Genuss möglichst vieler Angebote kommen – auch und vor allem von noch nicht etablierten Unternehmen. Alteingesessene Unternehmen haben offensichtlich gute Gründe, ihnen dienliche staatliche Eingriffe zu befürworten. Freunde der offenen Marktwirtschaft hingegen sprechen sich gegen derartige Bevorteilungen etablierter Anbieter aus, um bessere Voraussetzungen für Kooperation, Innovation und einen sinnvollen Ressourceneinsatz zu schaffen; vor allem zum Vorteil der Verbraucher.

Wider offene Märkte: Privilegien für etablierte Unternehmen

Etablierte Unternehmen erhalten regelmäßig viel politische Aufmerksamkeit. Gerät ein großes deutsches Unternehmen nach jahrelanger oder gar jahrzehntelanger Misswirtschaft ins Wanken, ruft dies immer wieder die Politik auf den Plan. Landesregierungen, Bundeswirtschaftsminister und häufig auch das Kanzleramt verfallen in hektischen Aktionismus, um eine in akute Schwierigkeiten geratene „Ikone der deutschen Wirtschaft“ zu retten. Air Berlin ist kein Einzelfall. Die lange Liste derartiger Interventionen umfasst Opel, Holzmann sowie die Commerzbank auf Bundesebene; Beiersdorf, Hapag-Lloyd und Salzgitter auf Landesebene.

Man könnte den Eindruck gewinnen, es sei Aufgabe einer marktwirtschaftlich ausgerichteten Wirtschaftspolitik Unternehmen zu schützen. Nicht zuletzt deshalb ist es ein häufiges Vorurteil, dass eine offene Marktwirtschaft zuvorderst den etablierten Unternehmen dienen würde. Doch staatliche Rettungsaktionen für Unternehmen und andere wettbewerbsbeschränkende Maßnahmen sind mit der Idee einer offenen Marktwirtschaft gerade nicht vereinbar.

Offene Marktwirtschaft: Kooperation, Allokation und Innovation

Eine Marktwirtschaft bietet die Möglichkeit zu vielfältigen freiwilligen Kooperationen zwischen Marktteilnehmern. Seien es Transaktionen zwischen Unternehmen und Konsumenten oder das gemeinsame Arbeiten an einem Ziel innerhalb eines Unternehmens – Menschen, die auf Märkten und in Unternehmen arbeitsteilig kooperieren, können Dinge leisten, zu denen der Einzelne nicht im Stande wäre. Eine offene Marktwirtschaft zeichnet sich zudem dadurch aus, dass Käufer, Verkäufer, Arbeitgeber und Arbeitnehmer frei entscheiden können, welche Leistungen sie erbringen und mit wem sie einen Vertrag schließen. Staatliche Markteintrittsbarrieren, die einigen Marktteilnehmer die freiwillige Kooperation verwehren, unterminieren die offene Marktwirtschaft.

Gleichzeit verringert die offene Marktwirtschaft negative Auswirkungen von Fehleinschätzungen. Setzt ein Unternehmen Ressourcen auf eine Weise ein, die von Verbrauchern nicht ausreichend gutgeheißen wird, erzielt es Verluste. In der offenen Marktwirtschaft werden solche Unternehmen früher oder später durch jene ersetzt, die durch Gewinne von ihren Kunden das Signal gesandt bekommen, dass sie den Ressourceneinsatz des Unternehmens befürworten. Dieser fortwährende Auswahlprozess, maßgeblich gelenkt durch die Verbraucher, mindert den verschwenderischen Umgang mit Ressourcen. Erhält der Staat durch seine Maßnahmen Unternehmen am Leben, deren Produkte von den Verbrauchern nicht mehr in ausreichender Weise nachgefragt werden, bleiben Ressourcen weiterhin an diese Unternehmen gebunden und werden nicht bestmöglich eingesetzt.

Die offene Marktwirtschaft minimiert durch das Ausscheiden ineffizienter Unternehmen nicht nur die Verschwendung von Ressourcen. Sie ist gleichfalls ein Innovationsgarant, da sie den Wettbewerb zwischen unterschiedlichen Lösungen für ein Problem ermöglicht. Der Wettbewerb zwischen Unternehmen um Konsumenten ähnelt einer endlosen Casting-Show, bei der die Konsumenten die besten Kooperationspartner suchen und Unternehmen fortwährend als Kandidaten in die Show einsteigen können. Nur wer mit guter Produktqualität und angemessenen Preisen Konsumenten von den Vorteilen seiner Güter überzeugen kann, ist als Kooperationspartner interessant. Innovationen durch etablierte Unternehmen und Marktneulinge werden so angeregt.

Regulierungen: Häufig im Interesse etablierter Unternehmen

Nicht nur in Notsituationen können sich etablierte Unternehmen regelmäßig auf die Hilfe des Staates verlassen. Auch in ruhigen Zeiten setzen, wie schon Adam Smith zu berichten wusste, insbesondere etablierte Unternehmen auf den Staat, um den für sie unangenehmen Druck durch Konkurrenten zu mindern. Um zu verhindern, dass ihre Kunden bessere Kooperationsangebote anderer Unternehmen erhalten, sind sie versucht, staatliche Regulierung dahingehend zu beeinflussen, dass ihre Marktposition geschützt wird. Wieso stehen Ihre Chancen diesbezüglich nicht schlecht?

Die simple Logik: Gut organisierte und kleine Interessengruppen sind besonders schlagkräftig. Beispielsweise ist ein Verband, der einige weniger oder ein paar hundert Unternehmen vertritt, gut organisiert im Vergleich zu den Millionen Kunden dieser Unternehmen und den Steuerzahlern. In Verbänden organisierte Unternehmen können sich recht schnell auf gemeinsame Positionen einigen und ihre Koordination erfordert relativ wenig Aufwand. Eine gemeinsame Position der Verbraucher zu ermitteln und wirkungsvoll zu koordinieren, ist nahezu aussichtslos.

Fronten, die so entstehen, sind mitunter erstaunlich. So setzt sich beispielsweise eine Arbeitsgemeinschaft kleiner und mittlerer Unternehmen gegen die Freihandelsabkommen CETA und TTIP ein, während sich der BDI für TTIP ausspricht. Die kleinen und mittleren Unternehmen fürchten die Konkurrenz ausländischer Unternehmen auf ihren Heimatmärkten. Doch es ist gerade die Konkurrenz unter Unternehmen, die zum Wohle von Verbrauchern wirkt.

Konkrete Beispiele staatlich durchgesetzter Interessenpolitik finden sich viele. Prominent sind in Deutschland das Verbot von Fahrdienstleistern wie Uber und die Preisbindung für Bücher oder Medikamente. Immer wieder wird Verbrauchern der Zugang zu Kooperationspartnern verwehrt, die ihnen gegebenenfalls bessere Angebot machen könnten – häufig mit Hinweisen auf den Schutz der Verbraucher selbst.

„Für offene Märkte“ nicht „für Unternehmen“

Eine durch offene Märkte geprägte Wirtschaftsordnung gibt Marktteilnehmer die Freiheit, zwischen Kooperationspartnern zu wählen. Wer als Kooperationspartner zu unattraktiv ist, hat das Nachsehen. Anders als im Falle Air Berlins geschehen, sollte der Staat etablierten Unternehmen, auch wenn sie straucheln, nicht helfend zur Seite stehen. Wer für offene Märkte eintritt, steht deshalb in vielen Fällen nicht auf der Seite alteingesessener Unternehmen. Vielmehr stellt er sich den Interessen etablierter Unternehmen entgegen, die von etwaigen Wettbewerbsbarrieren profitieren.

Der offene Markt ist gerade kein Raum, in dem Unternehmen wie Haifische und unterstützt von Marktbefürwortern wehrlose Verbraucher ausnehmen. Ist ein Markt offen, werden Kooperation, Innovation und der effiziente Ressourceneinsatz von Unternehmen befördert. Von der Teilnahme an diesem Positivsummenspiel profitieren in ihren Rollen als Konsumenten, Arbeitnehmer und Unternehmer am Ende alle Mitglieder der Gesellschaft.

Erstmals veröffentlicht bei IREF.

Photo: Timothy Krause from Flickr (CC BY 2.0)

Von Bill Wirtz, Policy Analyst für das Consumer Choice Center.

Angesichts des Austritts Großbritanniens aus der Europäischen Union werden die Mitgliedstaaten aufgefordert, ihre Beiträge nach Brüssel zu erhöhen. In einer Presseerklärung zu den Plänen, eine Plastiksteuer zum Ausgleich dieser Verluste einzuführen, fügte EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger hinzu, dass die Union „von den positiven Ergebnissen, die wir in Ländern wie Irland gesehen haben” sehr überzeugt sei. Die Einführung einer Plastiktütensteuer brachte dem Land über einen Zeitraum von 12 Jahren 200 Millionen Euro in die Kassen, und reduzierte außerdem die Verschmutzung durch Tüten von 5% auf 0,13%.“ Nach mehreren Kritiken an einer solchen Plastiksteuer hat die Kommission das Thema in ihrer Pressemitteilung zur neuen Plastikverordnung nicht mehr erwähnt.

Und nicht nur Brüssel diskutiert dieses Thema: Theresa May mag den Punkt bezüglich einer Erhöhung der Steuereinnahmen ausgelassen haben, aber sie besteht darauf, dass die Besteuerung von Kunststoffprodukten zum Schutz der Umwelt beitragen wird. May unterstrich, dass sie plastikfreie Supermarktregale sehen möchte und fügte hinzu: „In den kommenden Jahren denke ich, dass die Leute schockiert darüber sein werden, wie wir heute zulassen, dass so viel Plastik unnötig produziert wird.“

Umweltverbände begrüßen die Bewegung auf beiden Seiten der Brexit-Debatte der, da insbesondere Plastiktüten seit langem als weniger umweltfreundlich als ihre Alternativen angesehen werden. Bei näherer Betrachtung es regen sich jedoch Zweifel an dieser These.

EU-Kommissar Oettinger griff in seinem Zitat das Beispiel Irlands auf, das vor Jahren eine Plastiktütensteuer einführte. In einem Forschungspapier des Connecticut Office of Legislative Research aus dem Jahr 2008 wurde festgestellt, dass die Maßnahme unbeabsichtigte Konsequenzen hatte. Eine wichtige Erkenntnis was, dass Einzelhändler einen starken Anstieg an Mülltüten erlebt haben. In einem Artikel des “Irish Examiner” vom 23. Januar 2003 hatte die Zeitung berichtet, dass Lebensmittelhändler einen „77-prozentigen Anstieg des Verkaufs von Treteimer-Mülltüten erlebt hatten. Verkaufszahlen von anderen Müllsäcken stiegen um 75%.“ Plastiktütenhersteller ließen Arbeiter doppelte Schichten arbeiten, um mit einer Steigerung der Nachfrage von bis zu 400 Prozent Schritt zu halten.

Diese irische Erfahrung führte 2005 zu einer Folgenabschätzung in Schottland, die zu dem Schluss kam, dass alle Plastiktüten (einschließlich biologisch abbaubarer) besteuert werden müssen. Dessen ungeachtet würden die Verkaufszahlen von Mülltüten weiterhin stark zunehmen. In Australien schätzte eine Regierungsstudie den Verkaufsanstieg von Abfallbehältern zwischen 50 und 80 Prozent.

Unterm Strich wird der Rückgang des Verbrauchs von Plastiktüten durch eine Zunahme des Verbrauchs von anderen Müllbeuteln ausgeglichen, die mehr Energie und Rohöl zur Produktion benötigen. Schon unter diesem Gesichtspunkt sind die Auswirkungen auf die Umwelt fragwürdig. Es kommt allerdings noch schlimmer.

Im Jahr 2011 veröffentlichte die britische Umweltbehörde einen Bericht über die Umweltauswirkungen, die Verwendung und die Wiederverwendung von Kunststoffbeuteln und über ihre Alternativen. Der Bericht unterstrich: „Die Ergebnisse sollten politische Entscheidungen in Bezug auf Plastiktüten beeinflussen und Entscheidungsfindung ermöglichen.“ (S.69) Es stellt sich jedoch heraus, dass die Regierung nichts dergleichen getan hat. In dem Bericht heißt es, dass das „Treibhauspotenzial“ jedes Beutels bedeutet, dass Papierbeutel vier Mal und Baumwollbeutel insgesamt 173 Mal wiederverwendet werden müssten (S. 33). Im selben Bericht wird jedoch die Wiederverwendung von Papiertüten unter „Einmalgebrauch“ und Baumwollbeuteln im Durchschnitt mit 52 angegeben. Dies bedeutet, dass selbst eine Verdoppelung der Wiederverwendung von Baumwoll- und Papierbeuteln nicht ausreichen würde, um deren im Vergleich zu Plastikbeuteln deutlich höhere Umweltbelastung  auszugleichen. Die realistische Schlussfolgerung lautet, dass die Verwendung alternativer Beutel für die Umwelt tatsächlich schlechter ist als bei Kunststoff.

Öffentliche Richtlinien funktionieren ähnlich wie die Entscheidungen, die Einzelpersonen in einem Geschäft treffen: Ausgewählte Optionen gehen auf Kosten Ihrer nächstbesten Alternative. In der Volkswirtschaft nennt man das Opportunitätskosten. Dies gilt auch für die Gesetzgebung zu Plastiktüten: Niemand behauptet, dass Plastiktüten von Natur aus gut für die Umwelt sind. Wenn man jedoch die Umweltauswirkungen vergleichbarer Alternativen ignoriert, nur um eine öffentliche Wohlfühlpolitik umzusetzen, dann ist die Umweltpolitik komplett pervertiert.

Wenn wir über die Auswirkungen des Verbraucherverhaltens auf die Umwelt sprechen, reicht es nicht aus, den “idealen” Konsumenten als Richtlinie heranzuziehen. Wir müssen das tatsächliche Verbraucherverhalten beobachten, um zu beurteilen, ob unsere Politik eine gute oder eine schlechte ist. Denn wenn wir das nicht tun, dann handeln wir nur nach subjektiven Gefühlen.

Kunststoffsteuern, wie sie von der EU und dem Vereinigten Königreich vorgeschlagen werden, sind ein Irrweg. Sie bringen nicht nur zusätzliche Unannehmlichkeit für die Verbraucher mit sich, sie schaden der Umwelt am Ende sogar mehr, als sie ihr nützen.