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Photo: Herb Neufeld from Flickr (CC BY 2.0)

Die Politik wird immer übergriffiger. Die projektierte Große Koalition will jetzt einen Minister für Heimat stellen. Das erinnert in geradezu grotesker Weise an George Orwells Buch „1984“. In solchen Bereichen hat der Staat in einer freiheitlichen Demokratie nichts verloren!

Selbstbeglücker statt Weltbeglücker

„Ministerium für Frieden“, „Ministerium für Überfluss“, „Ministerium für Liebe“, „Ministerium für Wahrheit“ – mit diesen vier Ministerien zeichnete Orwell in seinem Roman das Bild von einem Staat, der die volle Kontrolle über das Leben der Bürger übernimmt. Mit blumigen Worten wird die eiserne Faust geschmückt, die Selbstbestimmung und Selbstverantwortung erdrückt. Der dystopische Staat, den Orwell schildert, ist das Gegenteil der freiheitlichen Demokratie, die wir über Jahrhunderte in der westlichen Welt entwickelt, ja erkämpft haben. In ihr ist der Bürger ein selbstverantwortliches Individuum. Und der Staat ist eine Art Dienstleister, der nur innerhalb klar definierter Grenzen tätig werden darf. Unter all den Grenzen ist die Grenze der Selbstbestimmung die kostbarste, weil sie das Grundprinzip der freiheitlichen Demokratie, des Rechtsstaates und der Marktwirtschaft ist.

Die größten Feinde dieser modernen, aufgeklärten und zutiefst emanzipatorischen Staatsform sind die (vorgeblichen und überzeugten) Weltbeglücker. Während sie die Selbstbestimmung des Menschen zwar oft im Munde führen, sind ihre Taten in der Regel angetan, sie einzuschränken und zu ersetzen durch ihre scheinbar wohlwollende Fremdbestimmung. Das Gegenkonzept zu einer freiheitlichen Ordnung stammt aus alten Zeiten, als das Überleben abhing vom Zusammenhalt innerhalb kleiner Horden. Der Anführer, der weise Mann kannte sich aus und wusste, was das Beste ist für den Stamm. Darum vertrauten sich unsere Vorfahren seiner Leitung an. Die offene Gesellschaft ist ganz anders: Dank Wissenschaft und Technik, dank Institutionen und Regeln, dank Kommunikation und Kooperation ist es uns möglich geworden, diese Anführer loszuwerden und selber Frau oder Herr über unser Leben zu werden. Wir brauchen keine Weltbeglücker mehr – wir sind Selbstbeglücker geworden!

Die freiheitliche Demokratie lebt von der Zurückhaltung der Politik

In einer freiheitlichen Demokratie hat Politik die Aufgabe, zu organisieren. Das spiegelt sich tatsächlich auch sehr anschaulich wider in den Bezeichnungen der Ministerien: Eine Verkehrsministerin kümmert sich etwa um Autobahn- und Schienennetz. Ein Außenminister ist zuständig für Beziehungen mit anderen Staaten. Selbst wenn man in vielen Fällen der Ansicht ist, dass die Ministerien (viel) zu viele Aufgaben übernehmen, ist in der Regel klar, dass sie deutlich umrissene und klar zuweisbare Aufgaben haben. Was aber soll ein Heimatministerium für eine Aufgabe haben? Wie taucht der Bereich „Heimat“ im Bundeshaushalt auf? Welche exekutiven Befugnisse verbindet man mit diesem neuen Teilbereich des Innenministeriums?

Man kann dieses neue Ministerium auch als PR-Gag abtun. Ein netter Einfall des (noch-)CSU-Vorsitzenden, um die eigene Klientel zu beglücken. Man kann es als den Versuch der neuen Regierung interpretieren, verlorene AfD-Wähler zurückzuholen. Im Grunde genommen ist es aber vor allem eines: Eine ganz und gar unzulässige Überschreitung der Kompetenzen der Politik. Politik muss sich um konkrete Aufgaben kümmern. Man kann sich dann trefflich streiten, wie weit die Überwachung gehen soll, wie groß die Umverteilung sein soll oder welche Bildungsaufgabe wie finanziert und organisiert sein soll. Aber Politik darf sich nicht um Gefühle kümmern. Und Heimat ist keine klar umrissene Aufgabe, sondern ein durch und durch subjektives Gefühl. Was der Rostocker Werftarbeiter, die Saarbrücker Restaurantbesitzerin, der Kindergärtner im Prenzlauer Berg und die IT-Spezialistin aus Coburg unter Heimat verstehen, kann selbst von einem Herrn Seehofer nicht verstanden und erst recht nicht bedient werden.

Identitätspolitik: das Grundübel unserer Zeit

Ähnlich aberwitzig wie das neue Heimatministerium wäre es, wenn die SPD ein Ministerium für soziale Gerechtigkeit eingeführt hätte oder die Grünen eines für Genderfragen. Der Begriff Heimat bezieht seine Bedeutung daraus, dass er Identität stiftet. Man begreift Arnsberg, das Sauerland, Westfalen, Deutschland oder gar Europa irgendwie als Orte, denen man sich zugehörig fühlt – wegen der besonderen Küche, wegen der Sprache, der Schulklasse, der Architektur, der Landschaft, des Schützenvereins … Und jeder wird eine andere Mischung aus Gründen haben, warum er sich dort zuhause fühlt. Diese Identität ist immer etwas ganz und gar Singuläres. Das sagt schon die eigentliche Wortbedeutung.

Das Grundübel politischer Diskussionen in unserer Zeit ist das Thema Identität. Es gibt nichts Privateres als Identität. Dass diese Frage in die Politik gezerrt wurde, hat übergriffigen Politikern Tor und Tür geöffnet. Hier beginnt der Weg zurück in die Vormoderne – oder voran in Orwellsche Dystopien. Identitätspolitik ist so schwammig, dass sie sich demokratischer Kontrolle entzieht. Und gleichzeitig so gewalttätig, dass sie Diskurse verunmöglicht. Die Entprivatisierung, die Verstaatlichung, die Nationalisierung von Identität fügt der freiheitlich-demokratischen Ordnung mittel- bis langfristig einen schweren Schaden zu. Man sollte das Heimatministerium nicht als PR-Gag belächeln. Es ist weit mehr: Es ist der Einstieg in eine Politik, die nicht mit Argumenten und Zahlen argumentiert, sondern mit Gefühlen und Geboten – mit Moral. Wohin das führen kann, lässt sich in Venezuela und Kuba genau so beobachten wie in der Türkei und Russland. Politik darf nicht den Anspruch moralischer Führerschaft erheben – weder, wenn es um den Veggie Day geht, noch, wenn es um die Heimat geht. Denn, um den berühmten bayerischen Dichter Ludwig Thoma zu zitieren, „kein Laster ist so widerwärtig wie die Tugend, die sich vor der Öffentlichkeit entblößt.“

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Von Prof. Roland Vaubel, emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre und Politische Ökonomie an der Universität Mannheim. Von Prof. Vaubel erschien kürzlich das Buch „Das Ende der EUromantik – Neustart jetzt“.

Geld weckt Begehrlichkeiten. Jüngstes Beispiel ist die „Roadmap“ der Kommission zur Umgestaltung des sogenannten „Europäischen Stabilitätsmechanismus“. (In Wirklichkeit ist der ESM ein Destabilisierungsmechanismus, denn die Aussicht auf seine subventionierten Kredite schwächt den Anreiz, Überschuldungskrisen zu vermeiden.) 500 Mrd. Euro sind ein stattliches Kapital. Damit kann man sich viele Wünsche erfüllen. Aber der ESM darf seine verbilligten Kredite nur vergeben, „um die Stabilität des Eurogebiets insgesamt zu wahren“ – und auch das nur unter „strengen Auflagen“ (Art. 136 Z. 3 AEUV). Eine neue Finanzkrise ist für die Eurozone insgesamt nicht in Sicht. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass sich Macron, Juncker und die Schäuble-CDU immer neue Vorschläge ausdenken, wie das Kapital des ESM auf andere Weise eingesetzt werden könnte. Mit der Annahme, dass die Mittel des ESM für diese anderen Zwecke zur Verfügung stehen, wird übrigens stillschweigend eingestanden, dass er für seinen ursprünglichen Zweck nicht als Dauerinstitution gebraucht worden wäre.

Der ESM ist nicht nur reich, sondern auch gefährdet. Er könnte leicht wieder abgeschafft werden. Er beruht nicht auf EU-Recht, sondern auf einem eigenständigen völkerrechtlichen Vertrag, der von jedem einzelnen Unterzeichnerstaat mit Hinweis auf die grundlegende Änderung der Umstände gekündigt werden kann. Die FDP zum Beispiel hat in ihrem Wahlprogramm die Forderung aufgestellt, dass „die Ausleihekapazität des ESM kontinuierlich wieder zurückgefahren wird und dieser langfristig ausläuft“. Für die Europapolitiker geht es daher nicht nur darum, die Mittel des ESM stärker auszuschöpfen, sondern zunächst einmal zu verhindern, dass er wieder abgeschafft wird.

Um das Überleben des ESM zu sichern, verfolgen seine Anhänger zwei verschiedene Strategien. Die erste besteht darin, den ESM in EU-Recht zu überführen. Wenn das durchkäme, wäre es nicht mehr möglich, den ESM zu verlassen, ohne aus der EU auszutreten. Das ist die Strategie von Juncker und Macron. Dagegen ist die Schäuble-CDU. Schäuble verfolgt die zweite Strategie. Auch er möchte den ESM – sein Werk – vor der Abschaffung bewahren. Aber wenn der ESM in EU-Recht überführt würde, bestünde die Gefahr, dass Deutschland überstimmt werden könnte. Die Kommission schlägt das zwar in diesem Fall nicht vor, aber normalerweise wird im EU-Recht mit (qualifizierter) Mehrheit entschieden. Außerdem soll der Ministerrat der 28 ein Vetorecht erhalten. Nach dem ESM-Vertrag besitzt der deutsche Finanzminister im Gouverneursrat ein Vetorecht. Anstatt den ESM in EU-Recht zu überführen, will die Schäuble-CDU sein Überleben sichern, indem sie  ihm wichtige zusätzliche Kompetenzen überträgt, die ihn für alle Zeiten unentbehrlich machen. Konkret geht es um zwei Zuständigkeiten:

  1. Der ESM soll anstelle der sogenannten Troika aus Kommission, EZB und IWF darüber wachen, dass die Empfänger der ESM-Kredite ihre wirtschaftspolitischen Auflagen einhalten.
  2. Der ESM soll anstelle der Kommission dafür zuständig sein, die Haushaltspolitik aller Euro-Staaten zu überwachen.

Diese Vorschläge laufen den Interessen der Kommission zuwider. Sie will nicht Kompetenzen abgeben, sondern neue hinzugewinnen. Deshalb möchte sie ja den ESM in EU-Recht überführen. Auf diese Weise könnte sie sich – wie sie ausdrücklich erwähnt – vielfältige neue Mitwirkungsrechte verschaffen. Aber das ist keine Begründung, die bei den Mitgliedstaaten verfängt. Um die anderen Mitgliedstaaten gegen Schäuble-Deutschland zu mobilisieren, muss die EU-Kommission für den ESM Verwendungszwecke vorschlagen, an denen Frankreich und seinen Bundesgenossen gelegen ist. Das hat sie am 6. Dezember getan. Konkret geht es um zwei Verwendungen:

  1. Der ESM soll seine billigen Kredite auch an den Bankenabwicklungsfonds der Eurozone vergeben dürfen. Da freuen sich die Länder, die die marodesten Banken haben: Italien, Spanien und natürlich Griechenland und Zypern.
  2. Der ESM soll – wenn auch nicht sofort – bei asymmetrischen makroökonomischen Schocks verbilligte Kredite zur Finanzierung von Investitionen vergeben. Für die Finanzierung von Investitionen gibt es aber bereits europäische Institutionen: die Europäische Investitionsbank und den sogenannten Juncker-Fonds. Außerdem betreffen asymmetrische makroökonomische Schocks per definitionem nicht die Stabilität des Euroraums insgesamt.

Die Kommission sieht weitere Verwendungszwecke vor: „The proposal refers to the possibility for the European Monetary Fund to develop new financial instruments. Over time, such instruments could supplement or support other financial instruments and programmes“. Dabei ist vor allem an zwei weitere Vorschläge aus dem Nikolaus-Paket der Kommission zu denken:

  1. Mitgliedstaaten, die wichtige Wirtschaftsreformen durchführen, sollen spezielle Finanzhilfen erhalten. Das ist für Macron und die Mittelmeerländer attraktiv. Auch Angela Merkel ist dafür. Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte meint dagegen: „Wir in den Niederlanden haben ohne jede ausländische Hilfe zahlreiche Reformen ergriffen – und jetzt sollen wir denen, die Reformen unterlassen haben, dafür Geld geben?“
  2. Länder, die der Währungsunion beitreten wollen, sollen stärker gefördert werden. Dabei handelt es sich zurzeit um Kroatien, Bulgarien und Rumänien. Die Kommission wirbt also auch in Osteuropa um Unterstützung.

Wie schneiden im Vergleich Schäubles Vorschläge ab? Wenn in Zukunft nicht mehr die Troika, sondern der ESM dafür zuständig wäre, die Einhaltung der wirtschaftspolitischen Auflagen zu überwachen, hätten die Schuldnerländer noch leichteres Spiel. Denn das ESM-Personal ist nicht daran interessiert, Kreditprogramme wegen Nichterfüllung der Auflagen abzubrechen. Die ESM-Beamten wollen möglichst viele Kredite vergeben, denn über ihre Zinsmarge erzielen sie die Einkünfte, die sie zur Finanzierung ihrer Gehälter und sonstigen Ausgaben benötigen. Außerdem ist die Kreditvergabe ein Weg, Macht auszuüben und Prestige zu gewinnen. Dieses Anreizproblem ist aus der Geschichte des Internationalen Währungsfonds sattsam bekannt. Zwar hat der IWF zum Beispiel im Zeitraum 1991-2012 insgesamt 41 Kreditprogramme wegen Nichterfüllung der Auflagen abgebrochen, aber auf dreißig dieser Programme folgte innerhalb eines Jahres das nächste Programm (Urbaczka, Vaubel, Cato Journal 2013). Schäubles Vorschlag müsste daher bei den Schuldnerstaaten gut ankommen. Er ist nicht im Interesse Deutschlands.

Seinen zweiten Vorschlag hat Schäuble folgendermaßen begründet: „Der ESM würde die Haushaltsentwürfe nicht politisch, sondern streng nach den Regeln beurteilen“ (Stuttgarter Zeitung, 15.10.16). Das hören die deutschen Wähler gerne, aber es ist falsch. Der Gouverneursrat des ESM besteht aus den Finanzministern der Euro-Staaten – also den Politikern, die die Haushaltsdefizite höchstpersönlich zu verantworten haben. Sie haben kein Interesse daran gerügt zu werden oder gar Geldbußen zu zahlen. Ein Finanzminister hackt dem anderen kein Auge aus.  Man würde die Böcke zu Gärtnern machen. Insofern hat auch dieser Vorschlag in den notorischen Defizitländern gute Chancen. Er wird auch von der FDP unterstützt, obwohl doch Kompetenzübertragungen, die auf Dauer angelegt sind, die gewünschte langfristige Abschaffung erheblich erschweren würden. Im deutschen Interesse sind diese Pläne nicht, und die Kommission bekämpft sie.

Aber es gibt auch Punkte, bei denen Kommission und Schäuble übereinstimmen. Um das Überleben des ESM zu sichern, wollen sie den ESM nicht nur – jeder auf seine Weise -umfunktionieren, sondern auch optisch aufwerten. Dazu gehört, dass der ESM einen neuen Namen erhält: „Europäischer Währungsfonds“. Außerdem soll der Vorsitzende des Gouverneursrats zugleich Chef der Eurogruppe sein. Als neuer Vorsitzender der Eurogruppe ist gerade der Portugiese Mario Centeno gewählt worden. Er ist Finanzminister seines Landes und Mitglied der sozialistischen Fraktion. Nach den Vorstellungen der Kommission soll die Eurogruppe einen Vize-Präsidenten der Kommission zu ihrem Vorsitzenden wählen. Dieser soll – einem Vorschlag des französischen Präsidenten folgend – den Titel „Europäischer Finanzminister“ erhalten.

Wer könnte sich dem entgegenstellen?

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Als Luther-Jahr präsentierten sich die zurückliegenden zwölf Monate. Angemessener wäre es gewesen, die gesamte Reformation in den Fokus zu rücken. Denn auch wenn er eine beeindruckende Persönlichkeit war: Luther steht wahrhaft nicht für das Beste an dieser Bewegung, die vor einem halben Jahrtausend die Welt veränderte. Andere Akteure hätten weitaus mehr Aufmerksamkeit und Würdigung verdient.

Des Deutschen Liebe zum Helden

Der Deutsche liebt seine Helden. Ob Hermann der Cherusker und Siegfried, Bismarck und Hindenburg oder in jüngster Zeit Helmut Schmidt – wir sehnen uns nach Persönlichkeiten, zu denen wir aufschauen können. Bedauerlicherweise sind das in der Regel selten Menschen, die das Penicillin erfunden haben, sich für Frauenrechte eingesetzt haben oder ein Unternehmen gegründet haben, das einen wichtigen Beitrag zur sharing economy leistet. Meist sind es Politiker und sogenannte Staatsmänner (bemerkenswert, dass sich der Begriff Staatsfrauen noch nicht durchgesetzt hat), die in den Bann ziehen.

Luther war schon immer ein solcher Held. Geschichten gab es genug von dem Mann, der es mit Papst und Kaiser aufgenommen hatte und uns nebenbei noch die Sprache der Dichter und Denker geschenkt hat. Ein wackerer Deutscher, der sich wie einst Hermann im Teutoburger Wald für Selbstbestimmung einsetzte – gegen den Papst in Rom und den „spanischen“ Kaiser. Als Projektionsfläche diente er gerade in dieser Deutung nicht selten den Mächtigen und Herrschern. Auch den zwei Diktaturen auf deutschem Boden.

Luther – ein Pessimist und Anti-Rationalist

Im vergangenen Jubiläumsjahr haben sich die protestantischen Kirchen und auch die staatlichen Akteure wieder voll auf die Person Luther konzentriert. Bis hin zu einem vollkommen bizarren Luther-Musical, das das ZDF mit mehreren tausend Sängern veranstaltete. Zwar wurden pflichtschuldig auch heikle Aspekte wie sein eklatanter Anti-Judaismus thematisiert. Aber am Ende des Tages wurden die Schattenseiten des Reformators eher noch zu seinem Vorteil gewendet, indem man nun auch herausstellen konnte, dass Luther ja auch nur ein Mensch und ein Kind seiner Zeit gewesen sei. Das mache ihn doch gerade so sympathisch …

Er habe, so könnte man meinen, nun einmal diese eine problematische Seite gehabt. Darüber hinaus sei er aber eine bedeutende Persönlichkeit gewesen – ein deutscher Held –, den man getrost seinem Kind als Playmobil-Figur in die Hand drücken kann. Darüber wurde viel zu sehr ignoriert, was für eine hochproblematische Gestalt er war, auch unabhängig von seiner Aversion und Gehässigkeit gegenüber den Juden. So vertrat Luther ein sehr negatives Bild vom Menschen und nicht zuletzt von dessen Rationalität. Die Vorstellung von Luther als dem Ersten der Aufklärer ist also nicht nur unpassend, sondern glattweg falsch. Viel eher könnte man in ihm einen wichtigen Vertreter jener Stimmung des Anti-Intellektualismus sehen, der heute noch ein definierendes Moment populistischer Bewegungen ist. Seine Ablehnung Roms war nicht nur gegen den päpstlichen Pomp gerichtet, sondern war auch eine Ablehnung der Renaissance und deren optimistischer Sicht auf den Menschen.

Luther – der Wegbereiter des absoluten Staates

Was genau der Vielschreiber Luther beabsichtigt haben mag, ist Gegenstand für seine Biographen. Die Auswirkungen seiner oft mit heißer Nadel gestrickten Texte waren freilich über die Jahrhunderte fatal. So liest sich seine 1523 erschienene Schrift „Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei“ in der Rückschau wie eine Bedienungsanleitung für absolutistische Herrscher. Zwei bedeutende Historiker des 19. Jahrhunderts, Lord Acton und Jacob Burckhardt, ziehen eine direkte Linie von Luther und seinem Umfeld zum Entstehen von Absolutismus und Totalitarismus als definierenden Staatsformen der Neuzeit.

Viele Aspekte des Staates, die uns heute noch Schwierigkeiten bereiten, können auch auf Luther zurückgeführt werden. Etwa das Entstehen von mächtigen Bürokratien und die Verdrängungen privater Solidarität durch einen ausufernden Wohlfahrtsstaat. Der Reformator begründet auch, warum und wie ein anständiger Bürger der Obrigkeit hörig sein sollte: „Nun das Schwert aber aller Welt ein großer nötiger Nutzen ist, daß Friede erhalten, Sünde gestraft und den Bösen gewehrt werde, so ergibt er [der rechte Christ] sich aufs allerwilligste unter des Schwertes Regiment, zahlt Steuern, ehrt die Obrigkeit, dient, hilft und tut alles, was er kann, das der Gewalt förderlich ist, auf daß sie im Schwang und in Ehren und Furcht erhalten werde“.

Luther geht weit zurück vor die schon zu seiner Zeit üblichen rechtsstaatlichen Standards, indem er einer archaischen Unterscheidung zwischen Gut und Böse huldigt und eine „angemessene“ Bestrafung den ordentlichen Prozessen vorzieht – auch hier ein Vorläufer der Populisten heutiger Tage. Der philippinische Präsident Duterte könnte das wohl so unterschreiben: „Wenn die Gewalt und das Schwert ein Gottesdienst ist, wie oben erwiesen ist, so muß auch das alles Gottesdienst sein, was der Gewalt nötig ist, um das Schwert zu führen. Es muß ja einer sein, der die Bösen fängt, verklagt, erwürgt und umbringt, die Guten schützt, entschuldigt, verteidigt und errettet.“ Diese simple Weltsicht kulminiert schließlich in der Rechtfertigung des Krieges, die wahrlich verstörend ist: „Und in solchem Krieg ist es christlich und ein Werk der Liebe, die Feinde getrost zu würgen, zu rauben und zu brennen und alles zu tun, was (den Feinden) schädlich ist, bis man sie nach Kriegsbräuchen überwinde, nur daß man sich vor Sünden hüten, Weiber und Jungfrauen nicht schänden soll.“

Die Wiege der offenen Gesellschaft stand nicht in Wittenberg

Man kann und sollte vielleicht auch Luthers Leistungen anerkennen. Aber jegliche Verehrung seiner Person ist mehr als unangebracht. Die vielen im Zorn und Eifer des Gefechts geschriebenen und gesprochenen Worte waren damals schon schwer vereinbar mit der christlichen Botschaft wie mit den sich langsam entwickelnden Ideen der Aufklärung. Ihre Wirkung ist, wenngleich von Luther so vielleicht nicht intendiert, noch viel fataler gewesen. Luther ist eine wichtige und spannende Figur. Aber er gehört nicht auf einen Sockel.

Das vergangene Jahr hätte man besser nutzen sollen, um der Personen und Denktraditionen in der Reformation zu gedenken, die einen wesentlichen Anteil daran haben, dass unsere offene und freiheitliche Gesellschaft erstehen konnte. Deren Wiege stand nicht in Wittenberg, sondern in Straßburg, Basel und im westfriesischen Pingjum, im polnischen Luslawice und in Philadelphia jenseits des Atlantik. Toleranz und Individualismus, Rechtsstaat und Meinungsfreiheit entstanden weder an den Fürstenhöfen, bei denen Luther Unterschlupf fand, noch in Genf, wo Calvin eine Theokratie errichtete, die es mit den Taliban aufnehmen könnte. Sie wurden vorgedacht und erstritten von Männern und Frauen, die auch heute noch oft abseits der Geschichte stehen. Darum sollen hier in Kürze fünf jener Persönlichkeiten vorgestellt werden, die wichtige Rollen gespielt haben bei der Entwicklung der Ideen und Institutionen, die heute zum geistigen und moralischen Kernbestand unserer Gesellschaft gehören. Dies sind die Reformatoren, die wirklich einen Sockel verdient hätten …

Menno Simons (1496-1561) – Pazifismus

Eine der bekanntesten reformatorischen Bewegungen waren die sogenannten „Täufer“, deren radikale Vertreter in den 1520er und 1530er Jahren in Münster und Thüringen Aufstände anzettelten. Dagegen wandten sich viele friedfertige Anhänger dieser Theologie, unter ihnen auch der westfriesische Pfarrer Menno Simons. Er und seine Mitstreiter in der Bewegung propagierten ein Christentum, das jeglicher Form von Gewalt widersagte. In ihrem Pazifismus gingen sie so weit, jeglichen Gebrauch von Waffen abzulehnen. Gleichzeitig setzten sie sich ein für allgemeine Religionsfreiheit, was in Zeiten, in denen der jeweilige Landesherr über die Konfessionszugehörigkeit der Untertanen entscheiden konnte, einer Revolution gleichkam. Entsprechend fühlten sich auch katholische, lutherische und reformierte Autoritäten gleichermaßen provoziert und verfolgten die kleine Minderheit blutig. Es ist Leuten wie Menno zu verdanken, dass die Gemeinden dennoch unerschütterlich zu ihren Prinzipien standen und so den Ideen von Gewaltlosigkeit und Meinungsfreiheit als leuchtende Beispiele dienten.

Sebastian Franck (1499-1542) – Aufklärung

Auch der nordschwäbische Publizist Sebastian Franck war den weltlichen und geistlichen Autoritäten ein Dorn im Auge, wo auch immer er sich gerade aufhielt. Er fand kaum Unterstützung oder Sympathie für seine Ansichten, die heute fast durchgängig akzeptiert sind – in den verschiedenen Kirchen wie auch in der gesamten Gesellschaft. So postulierte er etwa, dass selbstverständlich auch „Türken und Heiden“ ein rechtes und gottgefälliges Leben führen könnten – eine Vorstellung, die die wenigsten damals auch nur ihren Mit-Christen in einer anderen Konfession einräumen wollten. Franck war tatsächlich ein Vorreiter der Aufklärung, weil er sich gegen das strukturell konservative Verständnis von Luther wandte, allein die Bibel sei eine Quelle der Offenbarung. Im Gegenteil: für Franck spielte das „innere Wort“ des Menschen, also sein Gewissen und seine Vernunft, die wesentliche Rolle bei der immer besseren Erkenntnis des Glaubens. Entsprechend wandte er sich auch vehement gegen jegliches Wahrheitsmonopol. Aus seiner Sicht war absolute Gewissensfreiheit unumgänglich, weil sie allein garantierte, dass keine Autorität den Fortschritt der Erkenntnis hemmen konnte und es zu einem echten Wettbewerb der Ideen kommt. Francks Welt- und Menschenbild war so anti-autoritär und pluralistisch wie unsere Gesellschaft erst im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde.

Sebastian Castellio (1515-1563) – Toleranz

Nur ganz wenige Zeitgenossen brachten Sebastian Franck Wertschätzung entgegen. Einer von ihnen war Sebastian Castellio. Im Jahr 1553 ließ der Reformator Jean Calvin den spanischen Arzt und Theologen Michael Servetus verbrennen. Der protestantische Theologe Castellio war entsetzt über diese Eskalation des religiös verbrämten Terrorregimes, das in Genf errichtet worden war, und wandte sich in sehr deutlichen Worten gegen die Rechtfertigung von Gewalt zur Durchsetzung religiöser Ziele. So schrieb er den für die damalige Zeit wahrhaft revolutionären Satz: „Einen Menschen töten, heißt nicht, eine Lehre zu verteidigen, sondern einen Menschen zu töten.“ Er wird heute als einer der ersten systematischen Vordenker des Toleranz-Gedankens gesehen. So wundert es nicht sehr, dass eines seiner Alterswerke den Titel trägt: „Über die Kunst zu zweifeln“. Wie Franck war er auch ein Vordenker der Aufklärung und scharfer Kritiker des Antirationalismus, der insbesondere in der lutherischen und calvinistischen Tradition fröhliche Urstände feierte.

Fausto Sozzini (1539-1604) – Trennung von Religion und Staat

Zu den Opfern zunächst katholischer und anschließend innerprotestantischer Verfolgung zählten auch Fausto Sozzini und dessen Onkel Lelio Sozzini. Zuflucht fand der gebürtige Italiener, wie viele Verfolgte damals, in der außergewöhnlich toleranten polnisch-litauischen Adelsrepublik. Dort übte er großen Einfluss auf die Bewegung der Polnischen Brüder aus, die ähnlich wie die Anhänger Menno Simons‘ für eine Trennung von Staat und Religion, Gewissensfreiheit und bedingungslose Toleranz eintraten. Der englische Historiker Lord Acton formulierte einmal, die große Errungenschaft jener Reformatoren sei es gewesen, dass sie den Anspruch erhoben, „die Freiheit der anderen zu hegen wie die eigene, sie zu verteidigen aus Liebe zu Rechtschaffenheit und Menschenfreundlichkeit und nicht nur als einen Anspruch“. Toleranz sollte also nicht mehr als ein Sonderrecht einer Minderheit gegenüber der Mehrheit begriffen werden, sondern als ein allgemein gültiges Prinzip. Dies war ein kaum zu überschätzender Schritt hin zu einer friedvollen Gesellschaft und zu einem Rechtsstaat, der jeden gleichbehandelt. Theologisch war Sozzini – im Gegensatz zu Luther und Calvin – ein glühender Vertreter der These, dass der Mensch einen freien Willen hat.

William Penn (1644-1718) – Gleichheit der Menschen

Als William Penn geboren wurde, war Luther schon fast hundert Jahre tot. Dennoch gehört er in diese kleine Aufzählung, weil er einen wesentlichen Anteil daran hatte, dass die hier vorgestellten reformatorischen Ideen, die bis dahin nur in marginalisierten kleinen Gruppen eine Rolle spielten, eine nachhaltige Wirkung entfalten konnten. Ideen wie die Gleichheit aller Menschen, revolutionäre Veränderungen wie die Abschaffung der Sklaverei und viele Prinzipien des politischen Liberalismus verdanken sich wesentlich der von ihm groß gemachte Bewegung der Quaker. Zu den wesentlichen Kennzeichen dieser religiösen Gruppierung zählen ihr radikaler Pazifismus und ihre Forderung nach bedingungsloser politischer Toleranz. George Fox, einer der Gründer der Bewegung schrieb 1661 in einem Brief an den damaligen englischen König: „Mögen es Juden, Papisten, Türken, Heiden, Protestanten oder sonst etwas sein, oder solche, die Sonne, Mond, Stöcke und Steine anbeten, gib ihnen Freiheit, so dass jeder von ihnen zeigen kann und davon sprechen darf, worin er seine Stärke sieht.“ Indem William Penn in Nordamerika die Kolonie Pennsylvania gründete, schuf er einen sicheren Hafen für Verfolgte aus der ganzen Welt, die dort unter den Prinzipien der Meinungsfreiheit und demokratischen Selbstbestimmung Zuflucht finden konnten. Auch die einheimischen Indianerstämme wurden wie vollwertige Mitbürger behandelt. Mit dem von ihm so genannten „heiligen Experiment“ hatte Penn erstmals die Möglichkeit geschaffen, die Prinzipien der Reformatoren Wirklichkeit werden zu lassen. Die Anziehungskraft, die diese Prinzipien von dort über die Amerikanische Unabhängigkeit in die ganze Welt bis heute ausstrahlen, ist überwältigend.

Wir müssen uns an die richtigen erinnern!

Moderne, offene und freie Gesellschaften gründen sich ganz wesentlich auf den Gedanken dieser Männer und Frauen, denen in der Geschichtsschreibung der Reformation eine so viel unbedeutendere Rolle zugewiesen wird als Leuten mit einer sehr gemischten Bilanz wie Martin Luther oder veritablen Diktatoren wie Calvin. Simons, Franck, Castellio, Sozzini, Penn und ihre Mitstreiter haben standgehalten in der Verfolgung, die für viele von ihnen auch grausame Ermordung bedeutete. Diesem unbeirrbaren Idealismus hätte man im zurückliegenden Jahr Aufmerksamkeit zukommen lassen müssen. Er war der Motor, der den Fortschritt in Richtung individueller Freiheit in Gang hielt.

Der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig hat im Jahr 1936, natürlich vor den historischen Hintergründen seiner Zeit, ein Buch verfasst mit dem Titel „Castellio gegen Calvin oder Ein Gewissen gegen die Gewalt“. Aus diesem Werk sei hier schließlich noch zitiert. Er bringt es genau auf den Punkt:

Gerade dies aber, daß Sebastian Castellio von Anfang an die Aussichtslosigkeit seines Kampfes vorauswusste und ihn, gehorsam gegen sein Gewissen, dennoch unternahm, dies heilige Dennoch und Trotzalledem rühmt für alle Zeiten diesen ‚unbekannten Soldaten‘ im großen Befreiungskriege der Menschheit als Helden; schon um solchen Mutes willen, als einzelner und einziger leidenschaftlichen Protest gegen einen Weltterror erhoben zu haben, sollte die Fehde Castellios gegen Calvin für jeden geistigen Menschen denkwürdig bleiben.

Erstmals erschienen auf dem Blog der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft.

Photo: Lennart Tange from Flickr (CC BY 2.0)

Von Claus Vogt, Börsenbrief „Krisensicher investieren“.

Die Regeln, welche sich die EU-Länder zur Eindämmung der Staatsverschuldung gegeben haben, sind in den letzten Jahren immer weiter verschärft worden. Einige EU-Länder haben sich hiervon aber nicht sonderlich beeindrucken lassen und setzen ihren Kurs des Schuldenmachens fort. Die EU-Kommission, welche die Einhaltung der Regeln überwacht, hat solche Verstöße mit fragwürdigen Begründungen hingenommen.

Allgemein bekannte Vorgaben zur Begrenzung der Staatsverschuldung sind die Maastricht-Kriterien, die schon seit 1992 gelten und später in die EU-Verträge aufgenommen wurden. Danach darf der staatliche Schuldenstand nicht höher als 60 Prozent des Bruttoinlandprodukts sein, das jährliche Haushaltsdefizit darf nicht mehr als drei Prozent des Bruttoinlandprodukts betragen. Es folgte im Jahr 1997 der Stabilitäts- und Wachstumspakt, der vorsieht, dass das strukturelle Haushaltsdefizit ein Prozent des Bruttoinlandprodukts nicht überschreiten darf.

Auch verpflichteten sich die unterzeichnenden Mitgliedstaaten, bei Überschreitung des Schwellenwerts von 60 Prozent ihren Schuldenstand um jährlich ein Zwanzigstel zurückzuführen. An diese Vorgaben knüpft der sogenannte Fiskalvertrag an, den 25 EU-Mitgliedstaaten im Jahr 2012 beschlossen haben. Er sieht unter anderem vor, dass die EU-Kommission finanzielle Sanktionen gegen hartnäckige Defizitsünder verhängen kann.

Verfahren wegen übermäßiger Defizite

Aufgrund der genannten Regelwerke sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, der EU-Kommission eine Fülle von Daten über ihre finanzielle Situation und insbesondere den Umfang der Verschuldung zur Verfügung zu stellen. Werden die Schwellenwerte überschritten, kann ein Verfahren wegen eines übermäßigen Defizits eingeleitet werden. Gegen fast alle EU-Länder wurden in den letzten Jahren solche Verfahren durchgeführt. Auch die Bundesrepublik Deutschland sah sich in den Jahren 2003 und 2009 entsprechenden Nachfragen ausgesetzt. Die Verfahren gegen Deutschland wurden dann allerding nach einiger Zeit wieder beendet. In jüngster Zeit liefen entsprechende Verfahren gegen Frankreich, Griechenland, Irland, Kroatien, Portugal, Slowenien, Spanien, das Vereinigte Königreich sowie Zypern.

Noch nie gab es Sanktionen gegen einen Schuldensünder

Ob ein Defizitverfahren eingeleitet wird, entscheidet der Ministerrat der EU, also die Finanzminister der Mitgliedstaaten, auf Vorschlag der EU-Kommission. Nach Einleitung eines Verfahrens sind die Schuldensünder verpflichtet, die EU-Kommission fortwährend über die geplanten und ergriffenen Maßnahmen sowie die Entwicklung ihrer Haushalts- und Wirtschaftslage zu unterrichten. Die EU-Kommission überwacht, ob die angekündigten Maßnahmen zur Korrektur der übermäßigen Defizite auch umgesetzt werden. Wurden keine wirksamen Maßnahmen ergriffen, können in letzter Konsequenz finanzielle Sanktionen gegen sparunwillige Mitgliedsländer verhängt, zum Beispiel Zahlungen aus EU-Fonds ausgesetzt werden. Bisher ist es noch in keinem Fall zu Sanktionen der EU gegen säumige Mitgliedstaaten gekommen.

Nur in wenigen EU-Ländern liegt die Gesamtverschuldung unter 60 Prozent

Wie wenig wirksam die komplizierten Regelungen zur Schuldenbegrenzung und die geschilderte Vorgehensweise der EU-Kommission sind, zeigt sich beispielhaft daran, dass die meisten Mitgliedstaaten nach wie vor einen höheren Schuldenstand als 60 Prozent des Bruttoinlandprodukts aufweisen. Lediglich bei einigen osteuropäischen Mitgliedsländern sowie Luxemburg und Malta liegt die Gesamtverschuldung unter 60 Prozent. Der offizielle Schuldenstand Deutschlands ist in den letzten Jahren zwar stark gesunken, liegt mit derzeit rund 68 Prozent aber immer noch über dem Schwellenwert.

Viel Verständnis der EU-Kommission für den Defizitsünder Frankreich

Die Schuldenstandsquote Frankreichs wird sich nach den Berechnungen der EU-Kommission von 92 Prozent im Jahr 2013 auf 97 Prozent im Jahr 2020 erhöhen. Zu Recht läuft deshalb derzeit ein Defizitverfahren gegen unser Nachbarland. In diesem Verfahren zeigte sich die EU-Kommission bislang ausgesprochen verständnisvoll gegenüber der französischen Schuldenpolitik. Trotz des erwarteten Anstiegs der Gesamtverschuldung und obwohl Frankreich einen Teil der vorgeschriebenen Unterlagen und Daten nicht lieferte, vertrat die EU-Kommission die Auffassung, dass das Land die Anforderungen der geltenden Bestimmungen erfülle. Das Defizit könne in einem ruhigeren Tempo unter den Schwellenwert gebracht werden.

Kein Defizitverfahren gegen Italien trotz enormer Staatsverschuldung

Noch einfacher machte es sich die EU-Kommission in Bezug auf das hochverschuldete Italien. Gegen Italien wurde 2009 ein Defizitverfahren eingeleitet, welches im Jahr 2013 aufgehoben wurde. Im Jahr 2015 führte die Kommission erneut eine Bewertung Italiens durch und kam zu dem Schluss, dass Italien das Schuldenstandskriterium „prima facie“ verletze. Die Schuldenstandsquote Italiens lag seinerzeit bei 133 Prozent. Trotz dieser Zahl kam die EU-Kommission zu dem Ergebnis, dass Italien das Schuldenstandskriterium einhalte. Begründet wurde dies mit der ungünstigen Wirtschaftslage und den angekündigten Strukturreformen. Diese würden sehr positive Auswirkungen auf die öffentlichen Finanzen in Italien haben. Derzeit läuft kein Defizitverfahren gegen Italien.

Kritik an der unterschiedlichen Vorgehensweise der EU-Kommission

Gegen andere Defizitsünder zeigte sich die EU weitaus weniger nachsichtig. In anderen EU-Ländern wurden Sparmaßnahmen nicht nur eingefordert, sondern tatsächlich durchgesetzt. In der Fachwelt wird die unterschiedliche Vorgehensweise der EU-Kommission bei den einzelnen Mitgliedstaaten kritisiert. Die Ermessenspielräume der EU-Kommission in den Defizitverfahren müssten reduziert werden. Die Einhaltung der Regeln müsse zielgenauer und weniger politisch bewertet werden. Gegebenenfalls müsse eine andere Institution als die EU-Kommission in die Bewertung eingeschaltet werden.

Die EU-Kommission will die Schuldenregeln aufweichen

Die geäußerte Kritik scheint der EU-Kommission lästig geworden zu sein. Dieser Tage hat sie die Fachwelt mit einem Vorschlag überrascht, der in eine ganz andere Richtung geht als von den Kritikern gefordert. Nach Presseberichten will Kommissionspräsident Juncker erreichen, dass das Defizitkriterium von drei Prozent künftig als europaweite Gesamtzahl ermittelt wird. Es käme dann deutlich weniger darauf an, dass jeder Mitgliedstaat sein Haushaltsdefizit unter die Marke von drei Prozent des Bruttoinlandprodukts drückt, sondern die Eurozone als Ganzes müsste diesen Wert erreichen. Damit würde ein klarer Anreiz für jedes einzelne Land geschaffen, auf Kosten der anderen über seine Verhältnisse zu leben. Und das möglichst schnell, bevor die Gesamtgrenze erreicht wird.

Überdies möchte die EU-Kommission diejenigen Regelungen nicht mehr anwenden, die sich zu sehr auf den Schuldenstand der Mitgliedsländer konzentrierten. Na toll, kann ich dazu nur sagen, dann muss sich die EU-Kommission keine abenteuerlichen Begründungen mehr ausdenken, wenn sie wichtige Länder trotz hoher Gesamtverschuldung mit Nachsicht behandeln möchte. Man kann nur hoffen, dass die Mitgliedstaaten den Vorschlägen der EU-Kommission eine deutliche Abfuhr erteilen.

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Der Gesetzgeber engt den Spielraum von Unternehmern und Konsumenten in einem schleichenden Prozess immer stärker ein – und die Gerichte machen mit. Der missionarische Eifer dieser Weltbeglückungsträume zwingt den Bürgern immer mehr ein Wertesystem auf. Darf die Politik das?

Die Politik erweitert ihren Handlungsspielraum

Ludwig Erhard, Helmut Schmidt, Gerhard Schröder – Kanzler, die sich ständig mit Rauchwaren im Mund abbilden lassen oder vor laufender Kamera ein Bier bestellen, wären heute nur noch schwerlich denkbar. Eine moderne Prüderie hat Einzug gehalten in der Sphäre der Politik. Das hat auch damit zu tun, dass zumindest halbwegs das Gleichgewicht zwischen Reden und Handeln gewahrt werden muss. Und in Bezug auf das Reden hat eine zunehmend freudlose Stimmung immer mehr die Oberhand gewonnen. Alkohol, Tabak, Zucker, Fett, Fleisch – was früher einmal unverzichtbarer Grundbestandteil von Schützenfest, Karneval und Omas 80. Geburtstag war, wird von verschiedensten Seiten für das Unglück in dieser Welt verantwortlich gemacht. Kein Wunder also, dass man inzwischen erleben kann, wie Politiker Fotografen darum bitten, sie nicht beim Fleisch-Essen abzulichten.

Eine krude Mischung aus Puritanismus und Selbstoptimierung ist auf dem Vormarsch. Natürlich kann man nicht leugnen, dass die Politik auf diesem Feld durchaus eine bestehende Nachfrage bedient. Es sind inzwischen bei weitem nicht mehr nur „die Ökos“, die sich einem gesundheitsbewussten Lebensstil verpflichtet fühlen. Unabhängig davon, ob man diese Entwicklung nun begrüßt oder bedauert, muss man sich die Frage stellen: Nutzt die Politik diesen Trend, um hemmungslos die Grenzen ihres legitimen Handelns zu überschreiten und mithin diese Grenzen im allgemeinen Bewusstsein zu verschieben? Auch Freunde des gesunden Lebens sollten hier Acht geben, weil es eben nicht nur um konkrete Fragen geht, sondern um prinzipielle.

Gleichheit vor dem Gesetz war gestern

Vor zwei Wochen hat der Bundesgerichtshof entschieden, die ohnehin schon exzessiven Regeln zu Tabakwerbung im Internet so streng wie möglich auszulegen. Nicht einmal auf ihren eigenen Webseiten dürfen die Hersteller von Rauchwaren mehr Menschen beim munteren Konsum von Tabakprodukten zeigen. Wie rechtfertigen Gesetzgeber und Richter eigentlich solche massiven Eingriffe in die unternehmerische Freiheit? Staatliche Akteure sind inzwischen völlig außer Rand und Band geraten, wenn es darum geht, die Bürger vor ihrer eigenen „Dummheit“ zu schützen. Und bedauerlicherweise gibt es auch eine große Zahl an Bürgern, die das tolerieren oder gar selber einfordern. Gerade diese Unterstützung in Teilen der Bevölkerung macht es Politikern immer leichter, die Grenzen der geduldeten Eingriffe in die Entscheidungen ihrer Bürger weiter zu verschieben. Während sie dabei vermeintlichen Schutz ermöglichen, zerstören sie in Wirklichkeit Stück für Stück die Grundlagen des freiheitlichen Rechtsstaats.

Die Argumente für die einzelnen Eingriffe kommen in der Regel im pragmatischen Gewand daher nach dem Schema: In diesem konkreten Fall sei jetzt eine bestimmte Maßnahme gerechtfertigt, weil sie ein erwünschtes Ziel begünstige. Was im Einzelfall dann sinnvoll und vernünftig erscheinen mag und darum Zustimmung erntet, untergräbt zunehmend die Freiheit, die sich unsere Vorfahren mühsam erarbeitet haben. Denn eine zentrale Grundlage unserer individuellen Freiheit ist es, dass wir keinen willkürlichen Eingriffen der Herrschenden ausgesetzt sind, sondern in einem verlässlichen System aus allgemeinen und gleichen Regeln leben. Die Gleichheit vor dem Gesetz ist, wie die Philosophin Hannah Arendt einmal herausstellte, das Gegenstück zu Machtausübung. Das ursprünglich griechische Konzept der „Isonomie“, das später von mittelalterlichen Rechtsgelehrten und den Denkern der Aufklärung weiterentwickelt wurde, und die Grundlage unseres Rechtsverständnisses bildet, wird laut Arendt dadurch gekennzeichnet, dass hier das Konzept der Herrschaft durch Personen vollständig fehle. Es ist das Ideal der Herrschaft des Rechts.

Diskriminierung für einen guten Zweck

Dieses Bollwerk gegen Willkür der Politik untergraben die paternalistischen Einzelmaßnahmen gegen alle möglichen Produkte und Verhaltensweisen, die als schädlich angesehen werden. Der Tabakproduzent und der Hersteller von Katzenfutter werden vollkommen unterschiedlich behandelt. In diesem Geiste dürfte es nicht mehr allzu lange dauern, bis auch die Süßwarenhersteller und die Computerspielentwickler ins Visier genommen werden. Wir geraten immer tiefer in einen Strudel der Diskriminierung hinein. Politiker und Meinungsmacher entscheiden, wer bestraft und wer belohnt werden soll, denn sie entscheiden auch, was schädlich ist und was nicht; was bekämpft werden muss und was in Ruhe gelassen wird; und was dem Bürger (oder sollte man sagen: dem Untertan?) zu einem besseren Leben verhilft.

Pragmatismus statt Prinzipienreiterei – mit diesem Argument werden Einwände gegen die diskriminierenden Maßnahmen der Politik oft vom Tisch gewischt. Was zählt schon die unternehmerische Freiheit, wenn Leben gerettet werden können? Diese Logik ist ein bewährtes Mittel, um Macht auszuweiten und Freiheit einzuschränken. Diesen süßen Sirenengesängen nicht zu folgen, erfordert Stehvermögen. Während man für ein abstraktes Prinzip streitet, werden einem Raucherlungen und Drogenstatistiken entgegengeschleudert. Man darf sich davon nicht irremachen lassen. Früher wurde die Willkür der Herrschenden gerechtfertigt mit religiösen Begründungen oder dem nationalen Interesse – heute eben mit der Sorge um die Gesundheit und das Wohlergehen der Bürger. Was Friedrich August von Hayek 1961 in dem Artikel „Die Ursachen der ständigen Gefährdung der Freiheit“ schrieb, ist in diesem Zusammenhang zeitlos gültig: „dass die Freiheit nur erhalten werden kann, wenn sie nicht bloß aus Gründen der erkennbaren Nützlichkeit im Einzelfall, sondern als Grundprinzip verteidigt wird, das der Erreichung bestimmter Zwecke halber nicht durchbrochen werden darf.“