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Photo: Jean-Pierre Dalberá from Flickr (CC BY 2.0)

Friedrich August von Hayek gibt tiefe und zeitlose Anregungen, welchen Wert ein Projekt wie die Europäische Union auf der einen Seite haben kann, aber gleichzeitig auch, welche Gefahren eine solche Gemeinschaft birgt, wenn sie auf den falschen Prinzipien beruht.

In dem Aufsatz „Die wirtschaftlichen Voraussetzungen föderativer Zusammenschlüsse“ von 1939 schreibt Hayek im Kontext des aufkommenden Zweiten Weltkrieges von den Gefahren des nationalistischen Protektionismus, der schlussendlich in den Krieg zwischen den Völkern münden kann. Seine Lösung für die Zukunft ist eine ökonomische Union der europäischen Länder, welche als Hauptzweck die Sicherung des Friedens und die Förderung von Wohlstand durch einen gemeinsamen Binnenmarkt hat. Nicht nur der Optimismus Hayeks in solch dunkler Stunde, sondern auch die Übereinstimmungen zwischen seiner Vision für die europäischen Nationalstaaten und den tatsächlichen Leitlinien der Römischen Verträge sind erstaunlich. So schreibt er:

„Es wird mit Recht als einer der großen Vorteile eines Bundesstaates angesehen, dass in ihm die Hindernisse für die Bewegung von Menschen, Gütern und Kapital zwischen den Staaten wegfallen und die Schaffung gemeinsamer Gesetze eines einheitlichen Geldwesens und gemeinsame Regulierung des Verkehrs möglich wird. Die materiellen Vorteile, die die Schaffung eines so großen Wirtschaftsgebietes mit sich bringt, können kaum überschätzt werden.“

In vielerlei Hinsicht dürfte die Europäische Union, zumindest in ihren Anfängen, somit in den Augen Hayeks ein Erfolgsprojekt gewesen sein. Und auch heute sollten wir trotz aller Schwierigkeiten und gerechtfertigter Kritik an der Europäischen Union nicht die Errungenschaften der Römischen Verträge vergessen, welche weiterhin das Fundament der Europäischen Union bilden: Freier Waren- und Dienstleistungsverkehr, freier Kapitalverkehr und die Personenfreizügigkeit.

Hayek skizziert allerdings nicht nur die Vorzüge einer Europäischen Union, sondern auch die damit verbundenen Probleme. So warnt er im letzten Kapitel „Ausblick auf die internationale Ordnung“ seines 1944 erschienen Klassikers „Der Weg zur Knechtschaft“ vor den Gefahren einer länderübergreifenden Wirtschaftsunion, welche er fünf Jahre vorher noch so wohlwollend beschrieben hatte. Selbst wenn nationaler Protektionismus in einer Europäischen Union überwunden würde, so sei Planwirtschaft auf einer internationalen Ebene ein noch viel größeres Übel. „Die Probleme der bewussten Lenkung des Wirtschaftsprozesses nehmen notgedrungen ein noch größeres Ausmaß an, wenn dasselbe auf internationaler Grundlage versucht wird.“

Eine politische Union kann zudem schnell zur Gefahr für alle Freiheiten werden, denn „je geringer die Übereinstimmung in den Anschauungen ist, umso mehr wird man sich auf Gewalt und Zwang verlassen müssen.“

Es gibt eine Reihe von Trends in der Europäischen Union, die als eine solche Bedrohung der freiheitlichen Ordnung gesehen werden müssen: Die Kommission, der Rat und das Parlament mischen sich in viele Einzelfragen ein und fühlen sich dafür zuständig. Unveräußerliche Bürgerrechte werden bei der anlasslosen Vorratsdatenspeicherung beschränkt, die Dezentralität der Marktwirtschaft wird durch eine zunehmende zentrale Investitionslenkung ersetzt, der Binnenmarkt wird durch die Verschärfung der Entsenderichtlinie untergraben und die Altersvorsorge der Bürger wird durch den Geldsozialismus der EZB bedroht. Seit Jahren versucht die EU-Kommission, die Mehrwertsteuersätze zu harmonisieren und die Bemessungsgrundlage für die Unternehmensteuern anzugleichen, um dann später mit einheitlichen Steuersätzen gänzlich die Unterschiede abzuschaffen. Selbst die Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Union dienen im Zweifel oft dem Machtzuwachs der Institutionen der Europäischen Union gegenüber den Mitgliedsstaaten.

Dieser Weg, der letztlich in die Unfreiheit und Knechtschaft zu führen droht, dient einem höheren Ziel: der Vollendung des europäischen Superstaates. Es sind diese kollektivistischen Ideen, die den Gründungsmythos der europäischen Einigung gefährden und letztlich zerstören.

Will man hingegen ein Europa der Vielfalt und der Freiheit, welches Hayek wie auch den europäischen Gründervätern vorschwebte, dann braucht es einen institutionellen Ordnungsrahmen, der Recht und Freiheit gegenüber politischer Willkür schützt und sichert. Und es braucht klare Regeln, die allgemein, abstrakt und für alle gleich sind, damit sie nicht umgangen oder interpretiert werden können.

Dazu gehört auch, dass die EU Abschied vom Dogma einer „ever closer union“ nimmt und stattdessen das Prinzip der Subsidiarität wieder in den Mittelpunkt ihrer Gemeinschaft stellen muss. Es muss freiwillige vertiefte Zusammenarbeit dort geben, wo ein Konsens erzielt werden kann. Dieser Konsens muss nicht für alle Zeiten gelten, sondern Mitgliedsstaaten müssen ein Recht erhalten, Kompetenzen zurückzufordern. Die Union muss flexibel und vielfältig sein. Als monolithischer Einheitsblock würde sie sich auf das Abstellgleis der Geschichte begeben, unfähig zur Anpassung, unfähig zur Entwicklung.

Erstmals erschienen in Tichys Einblick.

Photo: Markus Reinhardt from Flickr (CC BY 2.0)

Im 17. Jahrhundert öffnete das kleine Altona in Hamburgs Norden seine Grenzen für Verfolgte aus ganz Europa. Diese durften sich nur um die Straße „Große Freiheit“ herum ansiedeln, wurden dafür aber von der örtlichen Bevölkerung akzeptiert und machten Altona reich und groß. Die neue Regierung könnte manches von diesem Vorbild lernen.

Rotlichtviertel, Beatles, durchfeierte Nächte. Wer heute den Namen „Große Freiheit“ hört, verbindet unwillkürlich Ausschweifung und Freizügigkeit mit dieser Straße im Zentrum des bekannten Hamburger Party-Viertels St. Pauli. Abzweigend von der Reeperbahn zieht die Große Freiheit mit Beatles-Platz, Dollhouse und 99-Cent Bar allnächtlich Scharen von Touristen und jungen Hamburgern an. Heute steht sie für die Freiheit zum Exzess und zur, zumindest nächtlichen, Abweichung von der Alltagsnorm. Tatsächlich ist die Große Freiheit seit ihrer Entstehung im 17. Jahrhundert ein Projekt der einer Einwanderungspolitik mit Augenmaß, die auch heute als Vorbild für das Einwanderungsland Deutschland dienen kann.

Der Aufstieg Altonas zum liberalen Vorreiter Europas

Zu Beginn des 17. Jahrhunderts war das kleine Altona („all zu nah“) ein kleines ärmliches Dorf außerhalb der Stadtmauern der reichen Handelsstadt Hamburg. Die Herren Altonas, die Grafen von Schauenburg, residierten westlich des fernen Hannover und hatten daher vordergründig nur ein Interesse: Mit ihrem Altonaer Besitz möglichst reichen Ertrag zu erwirtschaften. Um Bürger und Kaufkraft anzuziehen, erlaubten sie daher aus religiösen Gründen Verfolgten, sich in Altona niederzulassen. Diesem Ruf folgten Mennoniten, Katholiken und Juden aus ganz Europa.

Die neuen Nachbarn waren bei den alteingesessenen Altonaern jedoch nicht sonderlich beliebt. Die Altonaer fürchteten neue Konkurrenz für ihre ohnehin stets durch das nahe Hamburg gefährdeten Geschäfte. Die zur Ausübung eines Gewerbes auch in Altona notwendige Zunftmitgliedschaft blieb den Einwanderern verwehrt. Da aber arbeitslose Einwanderer keinen Ertrag erwirtschaften, nahm sich der Schauenburger Landesherr des Problems an.

Seine Lösung: Er schuf eine frühe Form der Sonderbewirtschaftungszone, indem er aus zwei bereits existierenden Straßen das neue Viertel „Freiheit“ formte. In der „Großen Freiheit“ und der „Kleinen Freiheit“ durften sich die Einwanderer von nun an niederlassen, ihre Religionen praktizieren und, gegen eine Abgabe, ihr Handwerk ausüben. Die alten Altonaer mussten nicht mehr befürchten, ein fremdes Gotteshaus oder gar wirtschaftliche Konkurrenz direkt vor die Nase gesetzt zu bekommen. Auch mag es ihrem Gerechtigkeitsempfinden entgegenkommen sein, dass die Einwanderer eine besondere Gebühr zur Ausübung ihres Handwerks zahlen mussten.

Akzeptanz mag nicht auf der Stelle in Toleranz umgeschlagen sein, doch der Grundstein war gelegt: In den folgenden Jahrhunderten entwickelte sich Altona zu einem Zentrum der europäischen Aufklärung, und erlangte als nach Kopenhagen zweitgrößte Stadt des Königreichs Dänemark auch wirtschaftlich und politisch große Bedeutung. Das Wappen, das anderes als jenes des großen Nachbarn ein geöffnetes und nicht ein geschlossenes Stadttor zeigt, sollte bis zur Eingemeindung Altonas im Jahr 1937 das Leitbild dieser weltoffenen und toleranten Stadt prägen. Noch heute findet sich auf der Großen Freiheit inmitten von Nachtclubs und Bars die katholische St. Josephs-Kirche und zeugt von den einst fünf Gotteshäusern religiöser Minderheiten, die hier Zuflucht fanden.

Schlüsselloch-Lösungen statt Abschottung

Was ist die Moral von der Geschicht? Anstatt aus Sorge vor der Reaktion der einheimischen Bevölkerung den Zuzug von Migranten pauschal zu unterbinden, wählte der Schauenburger Landesherr einen wesentlich intelligenteren Weg. Im Grunde hätten sich die Altonaer über den Zuzug neuer Kunden freuen können. Doch Vorbehalte gegenüber den anderen Glaubensrichtungen und die Angst vor ökonomischen Verlusten schürten Ablehnung und Missgunst. Deshalb begrenzte der Landesherr die Rechte der Migranten, indem er ihre Niederlassungsfreiheit einschränkte und „unzünftiges“ Gewerbe nur gegen Gebühr in einem abgegrenzten Bereich gestattete. Eine solche Vorgehensweise wird als „Schlüsselloch-Lösung“ bezeichnet. Schlüsselloch-Lösungen zielen auf eingrenzbare Probleme (in diesem Fall die mangelnde Akzeptanz der Altonaer) innerhalb eines größeren Politikfelds (hier die Einwanderungspolitik).

Auf dieser Weise schuf der Landesherr eine Lösung, von der beide Seiten profitieren konnten. Die Altonaer akzeptierten ihre neuen Nachbarn und legten damit den Grundstein für den Aufstieg der Stadt. Die Verfolgten fanden ein neues Zuhause und mussten im Gegenzug eine relativ geringfügige Benachteiligung gegenüber den Einheimischen in Kauf nehmen. Viel wichtiger war: Sie erhielten die Chance auf ein neues Leben und wirtschaftliche Betätigung an einem sicheren Ort.

Altona im 21. Jahrhundert

Es mag nicht unbedingt intuitiv erscheinen, doch wenn sich Union, FDP und Grüne am Ende auf eine Koalition einigen können, könnte es zu solchen Schlüsselloch-Lösungen im Bereich der Einwanderungspolitik kommen. Die Koalitionäre nehmen dabei unterschiedliche Rollen ein. Die Union stellt die Akzeptanzprobleme in den Vordergrund und propagiert Beschränkungen. Grüne und FDP betonen humanitäre Argumente und die ökonomischen Vorteile der Freizügigkeit. Die von der Union geforderten jährlichen Quoten könnten dabei ebenso eine Lösung sein wie die Begrenzung von Sozialleistungen für Einwanderer. Auch eine Besteuerung von Migranten beispielsweise über einen Lohnsteueraufschlag könnte erheblich zur Akzeptanz beitragen.

Aufgrund der großen Vorbehalte innerhalb der Bevölkerung bleibt eine zunehmende Personenfreizügigkeit, auch über die EU hinaus, immer eine gewisse Herausforderung. Selbst wenn die Geschichte zeigt, dass die Vorteile in der Regel überwiegen, muss der Weg dorthin immer mit Augenmaß, Klugheit und Respekt vor der Bevölkerung genommen werden – so wie damals die Grafen von Schauenburg. Gelingt es, Sorgen der Bevölkerung mit Schlüsselloch-Lösungen gezielt auszuräumen, könnte Deutschland ein erfolgreiches Einwanderungsland werden wie einst das kleine Örtchen Altona, das heute noch nicht nur für Wohlstand und Erfolg steht, sondern vor allem für das große Ziel unserer westlichen Gesellschaften: Die individuelle Freiheit, die eben für den Besucher des Dollhouse genauso gilt wie für den des katholischen Gottesdienstes.

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Der Gesetzgeber engt den Spielraum von Unternehmern und Konsumenten in einem schleichenden Prozess immer stärker ein – und die Gerichte machen mit. Der missionarische Eifer dieser Weltbeglückungsträume zwingt den Bürgern immer mehr ein Wertesystem auf. Darf die Politik das?

Die Politik erweitert ihren Handlungsspielraum

Ludwig Erhard, Helmut Schmidt, Gerhard Schröder – Kanzler, die sich ständig mit Rauchwaren im Mund abbilden lassen oder vor laufender Kamera ein Bier bestellen, wären heute nur noch schwerlich denkbar. Eine moderne Prüderie hat Einzug gehalten in der Sphäre der Politik. Das hat auch damit zu tun, dass zumindest halbwegs das Gleichgewicht zwischen Reden und Handeln gewahrt werden muss. Und in Bezug auf das Reden hat eine zunehmend freudlose Stimmung immer mehr die Oberhand gewonnen. Alkohol, Tabak, Zucker, Fett, Fleisch – was früher einmal unverzichtbarer Grundbestandteil von Schützenfest, Karneval und Omas 80. Geburtstag war, wird von verschiedensten Seiten für das Unglück in dieser Welt verantwortlich gemacht. Kein Wunder also, dass man inzwischen erleben kann, wie Politiker Fotografen darum bitten, sie nicht beim Fleisch-Essen abzulichten.

Eine krude Mischung aus Puritanismus und Selbstoptimierung ist auf dem Vormarsch. Natürlich kann man nicht leugnen, dass die Politik auf diesem Feld durchaus eine bestehende Nachfrage bedient. Es sind inzwischen bei weitem nicht mehr nur „die Ökos“, die sich einem gesundheitsbewussten Lebensstil verpflichtet fühlen. Unabhängig davon, ob man diese Entwicklung nun begrüßt oder bedauert, muss man sich die Frage stellen: Nutzt die Politik diesen Trend, um hemmungslos die Grenzen ihres legitimen Handelns zu überschreiten und mithin diese Grenzen im allgemeinen Bewusstsein zu verschieben? Auch Freunde des gesunden Lebens sollten hier Acht geben, weil es eben nicht nur um konkrete Fragen geht, sondern um prinzipielle.

Gleichheit vor dem Gesetz war gestern

Vor zwei Wochen hat der Bundesgerichtshof entschieden, die ohnehin schon exzessiven Regeln zu Tabakwerbung im Internet so streng wie möglich auszulegen. Nicht einmal auf ihren eigenen Webseiten dürfen die Hersteller von Rauchwaren mehr Menschen beim munteren Konsum von Tabakprodukten zeigen. Wie rechtfertigen Gesetzgeber und Richter eigentlich solche massiven Eingriffe in die unternehmerische Freiheit? Staatliche Akteure sind inzwischen völlig außer Rand und Band geraten, wenn es darum geht, die Bürger vor ihrer eigenen „Dummheit“ zu schützen. Und bedauerlicherweise gibt es auch eine große Zahl an Bürgern, die das tolerieren oder gar selber einfordern. Gerade diese Unterstützung in Teilen der Bevölkerung macht es Politikern immer leichter, die Grenzen der geduldeten Eingriffe in die Entscheidungen ihrer Bürger weiter zu verschieben. Während sie dabei vermeintlichen Schutz ermöglichen, zerstören sie in Wirklichkeit Stück für Stück die Grundlagen des freiheitlichen Rechtsstaats.

Die Argumente für die einzelnen Eingriffe kommen in der Regel im pragmatischen Gewand daher nach dem Schema: In diesem konkreten Fall sei jetzt eine bestimmte Maßnahme gerechtfertigt, weil sie ein erwünschtes Ziel begünstige. Was im Einzelfall dann sinnvoll und vernünftig erscheinen mag und darum Zustimmung erntet, untergräbt zunehmend die Freiheit, die sich unsere Vorfahren mühsam erarbeitet haben. Denn eine zentrale Grundlage unserer individuellen Freiheit ist es, dass wir keinen willkürlichen Eingriffen der Herrschenden ausgesetzt sind, sondern in einem verlässlichen System aus allgemeinen und gleichen Regeln leben. Die Gleichheit vor dem Gesetz ist, wie die Philosophin Hannah Arendt einmal herausstellte, das Gegenstück zu Machtausübung. Das ursprünglich griechische Konzept der „Isonomie“, das später von mittelalterlichen Rechtsgelehrten und den Denkern der Aufklärung weiterentwickelt wurde, und die Grundlage unseres Rechtsverständnisses bildet, wird laut Arendt dadurch gekennzeichnet, dass hier das Konzept der Herrschaft durch Personen vollständig fehle. Es ist das Ideal der Herrschaft des Rechts.

Diskriminierung für einen guten Zweck

Dieses Bollwerk gegen Willkür der Politik untergraben die paternalistischen Einzelmaßnahmen gegen alle möglichen Produkte und Verhaltensweisen, die als schädlich angesehen werden. Der Tabakproduzent und der Hersteller von Katzenfutter werden vollkommen unterschiedlich behandelt. In diesem Geiste dürfte es nicht mehr allzu lange dauern, bis auch die Süßwarenhersteller und die Computerspielentwickler ins Visier genommen werden. Wir geraten immer tiefer in einen Strudel der Diskriminierung hinein. Politiker und Meinungsmacher entscheiden, wer bestraft und wer belohnt werden soll, denn sie entscheiden auch, was schädlich ist und was nicht; was bekämpft werden muss und was in Ruhe gelassen wird; und was dem Bürger (oder sollte man sagen: dem Untertan?) zu einem besseren Leben verhilft.

Pragmatismus statt Prinzipienreiterei – mit diesem Argument werden Einwände gegen die diskriminierenden Maßnahmen der Politik oft vom Tisch gewischt. Was zählt schon die unternehmerische Freiheit, wenn Leben gerettet werden können? Diese Logik ist ein bewährtes Mittel, um Macht auszuweiten und Freiheit einzuschränken. Diesen süßen Sirenengesängen nicht zu folgen, erfordert Stehvermögen. Während man für ein abstraktes Prinzip streitet, werden einem Raucherlungen und Drogenstatistiken entgegengeschleudert. Man darf sich davon nicht irremachen lassen. Früher wurde die Willkür der Herrschenden gerechtfertigt mit religiösen Begründungen oder dem nationalen Interesse – heute eben mit der Sorge um die Gesundheit und das Wohlergehen der Bürger. Was Friedrich August von Hayek 1961 in dem Artikel „Die Ursachen der ständigen Gefährdung der Freiheit“ schrieb, ist in diesem Zusammenhang zeitlos gültig: „dass die Freiheit nur erhalten werden kann, wenn sie nicht bloß aus Gründen der erkennbaren Nützlichkeit im Einzelfall, sondern als Grundprinzip verteidigt wird, das der Erreichung bestimmter Zwecke halber nicht durchbrochen werden darf.“

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Von  Prof. Dr. Stefan Kooths, Leiter des Prognosezentrums im Institut für Weltwirtschaft an der Universität Kiel und Professor für Volkswirtschaftslehre an der Business and Information Technology School (BiTS) in Berlin.

Wenn Umfragen zutage fördern, dass sich die große Mehrheit der Befragten für überdurchschnittlich gute Autofahrer hält, sorgt das allenfalls für allgemeine Erheiterung. Offenkundig trifft hier die individuelle Selbstüberschätzung als Massenphänomen auf die faktische Unmöglichkeit des Einzelnen, sich ein gehaltvolles Urteil über eine unüberschaubare Grundgesamtheit zu bilden. Und die Gesetze der Statistik legen diese Diskrepanz schonungslos bloß: der Durchschnitt kann eben nicht überdurchschnittlich gut Auto fahren. Derartige Umfragen nimmt daher zu Recht niemand ernst. Fragt man indes nach den wirtschaftlichen Verhältnissen im Land, sind zwar die Ergebnisse ähnlich widersprüchlich, die politische Reaktion darauf ist jedoch eine ganz andere. So zeigt sich in den Haushaltsbefragungen für Deutschland, dass die persönliche wirtschaftliche Lage (bis hin zur allgemeinen Lebenszufriedenheit) ganz überwiegend günstig eingeschätzt wird, während das Urteil derselben Befragten über die Lage der breiten Masse der Bevölkerung dahinter zurückfällt. Statt sich auch hier auf die Logik der Statistik zu besinnen, nimmt man die Umfrageergebnisse im öffentlichen Diskurs regelmäßig zum Anlass, angeblich wachsende soziale Schieflagen anzuprangern. Und dies, obwohl im Gegensatz zur Selbstauskunft über die eigenen Fahrkünste kaum davon auszugehen ist, dass die Befragten ihre individuelle wirtschaftliche Situation systematisch überschätzen. Damit bleibt für die Diskrepanz in den Ergebnissen die mangelhafte Einschätzung der Grundgesamtheit. Ein adäquater Befund über die Gesamtlage in einem Land ist angesichts des überaus komplexen sozialen Gefüges bereits für die wissenschaftliche Analyse extrem schwierig. Für die repräsentativ Befragten dürfte es in praktisch allen Fällen unmöglich sein. Das spricht dafür, dass sich in den Umfrageergebnissen letztlich nur ein politisches Narrativ reproduziert („zunehmende soziale Ungerechtigkeit“), das seit Jahren das Bild einer düsteren Entwicklung der Einkommensentwicklung der breiten Masse der Bevölkerung postuliert. Meist sind dann Forderungen nach zusätzlichen Umverteilungselementen nicht weit.

Unabhängig vom selbstreferentiellen Charakter der Debatte, der an sich schon problematisch ist, sind auch die meist mit dem Nimbus der Wissenschaftlichkeit dargebotenen Ergebnisse zur sozialen Entwicklung hochproblematisch. Den Dreh- und Angelpunkt bilden hierbei die Indikatoren zur Messung der Verteilung von Einkommen und Vermögen, mit den jeweiligen Gini-Koeffizienten als Speerspitze (mit Werten zwischen Null für die Gleichverteilung und Eins für die maximale Ungleichheit). Das reine Zahlenwerk der empirischen Forschung mag weitgehend stimmig sein (auch wenn die Erhebung oft erhebliche Schwierigkeiten bereitet), problematisch ist aber die Interpretation der Werte. Und hierbei begibt sich mancher schnell auf sehr dünnes Eis, das öfter einbricht als dass es trägt, wenn man aus dem Befund zunehmender Ungleichheit auf Fehlentwicklungen schließt. Insbesondere wird viel zu leichtfertig von Ungleichheitsmaßen auf eine angeblich grassierende „soziale Ungerechtigkeit“ geschlossen, eine sinnfreie Vokabel, die seriöse Sozialwissenschaftler besser meiden sollten.

Gründe für den Anstieg der Einkommensungleichheit

Abgesehen davon, dass etwa der Gini-Koeffizient zur Einkommensverteilung in Deutschland seit über zehn Jahren nahezu konstant und auch international unauffällig ist, folgt aus einem Anstieg der Einkommensungleichheit zunächst wenig. Da es für diese Größe keinen Optimalwert gibt, lässt sich auch nicht sagen, ob man sich bei einem Anstieg zu einem Optimum hin- oder von diesem wegbewegt. Das liegt letztlich daran, dass die Einkommensverteilung das Ergebnis eines komplexen sozialen Prozesses ist, dessen vielschichtige Aspekte sich nicht in einer Zahl verdichten lassen. So spiegelt sich in der Einkommensungleichheit nicht zuletzt auch eine geänderte Haushaltsstruktur wider – das Leben als Single oder Alleinerziehender ist nun mal pro Kopf gerechnet teurer als der Konsum im Familienverband (88 Prozent des für Deutschland ausgewiesenen Anstiegs der Einkommensungleichheit in den Jahren 1985 bis 2005 geht auf diesen Effekt zurück). Diese individuellen Entscheidungen hat der Staat nicht zu bewerten, er ist aber auch nicht dazu da, alle ökonomischen Konsequenzen geänderter individueller Lebensstile auf die Allgemeinheit abzuwälzen. Dies wäre jedenfalls nicht per se „gerechter“. Letztlich hat überhaupt erst der allgemeine Wohlstandszuwachs – neben dem Gesinnungswandel in weiten Bevölkerungsschichten – dazu beigetragen, dass derartige Lebensentwürfe möglich wurden und sich speziell Frauen aus der ökonomischen Abhängigkeit ihrer Männer befreien konnten. Dies dürften wohl nur die wenigsten als sozialen Rückschritt einstufen. Auch die höhere Bildungsbeteiligung von Frauen erhöht tendenziell die Einkommensungleichheit im Haushaltsquerschnitt, weil die tertiären Bildungseinrichtungen und die Arbeitsstätten zugleich wichtige Partnerbörsen darstellen. Wenn zwei berufstätige Akademiker einen gemeinsamen Haushalt bilden, konzentrieren sich zwei Besserverdiener und die gemessene Verteilung wird ungleicher. Zu Zeiten, als akademische Weihen und hohe Berufsqualifikationen noch weitgehend den Männern vorbehalten waren, hat sich über den Heiratsmarkt die Einkommensungleichheit dagegen auf Haushaltsebene abgeflacht. Ähnliches gilt für die soziale Akzeptanz von schwulen und lesbischen Partnerschaften, die für sich genommen ebenfalls die Einkommensungleichheit erhöht. Diese wenigen Beispiele machen deutlich, dass ein steigender Gini-Wert kaum zur Skandalisierung taugt.

Auch macht es einen Unterschied, ob der Anteil von Niedriglohnbeziehern steigt, weil Menschen weniger verdienen als früher oder ob mehr Menschen zu niedrigen Löhnen beschäftigt werden, die zuvor arbeitslos waren. Letzteres ist für Deutschland maßgeblich, die Quote selbst schweigt aber zu diesen Ursachen. Grotesk wird es, wenn aus dem jüngsten Anstieg der Armutsgefährdungsquote auf eine sich verschärfende soziale Schieflage geschlossen wird. In dieser Quote spiegelt sich derzeit der Zuzug von Flüchtlingen wider, die aus verschiedenen Gründen zunächst am unteren Ende der Einkommensskala rangieren. Soziale Kälte sieht anders aus.

Die vermeintlichen Bösewichte: Kapitalismus und Globalisierung

Zu jeder guten Gruselgeschichte gehören die Bösewichte. Im Falle der Erzählung von der zunehmenden sozialen Unwucht übernehmen der „ungezügelte Kapitalismus“ und die „deregulierte Globalisierung“ diese Rolle, die regelmäßig als Triebkräfte hinter den Fehlentwicklungen verdächtigt werden.

Die Kapitalismuskritik macht sich vor allem an der Vermögensungleichverteilung fest. Auch hier versperrt der Blick auf das Symptom tieferliegende Erkenntnisse. Vermögenspositionen sind in einem kapitalistischen System nicht funktionslos, sondern spielen eine wichtige Rolle für die Kapitalallokation. Weil die Zukunft per se unsicher ist, kann es auch keine sicheren Anlageformen geben. Um ein (wie auch immer) erlangtes Vermögen bewahren zu können, muss es der Eigentümer in einem freien Marktsystem immer wieder dem Risiko aussetzen. Setzt er auf das richtige Pferd (rentable Investitionen), so kann er sein Vermögen wahren und mehren. Damit erfüllt er zugleich eine sozial nützliche Aufgabe, weil von der rentablen Anlage des knappen Kapitals auch die Arbeitskräfte profitieren, deren Produktivität durch eine höhere marktgerechte Kapitalausstattung steigt, was höhere Löhne zur Folge hat. Setzt der Investor auf das falsche Pferd (erweist er sich also als Ressourcenverschwender), so büßt er in Form von Verlusten die Verfügungsgewalt über knappes Kapital ein. Korrigiert er seine Entscheidungen nicht, wird er in Form der Insolvenz ganz aus dem Spiel genommen und entscheidet künftig nicht mehr über die Verwendung knapper Ressourcen. Auf diese Weise erfüllt ein freier Kapitalmarkt eine wichtige soziale Koordinationsfunktion. Dieser Mechanismus setzt privates Eigentum und – damit einhergehend – das Haftungsprinzip voraus. Letzteres wird in antikapitalistischer Weise immer dann verletzt, wenn der Staat (oder seine Zentralbank) private Verluste sozialisiert, wie es in großem Stil während der jüngsten Finanzkrisen geschah. Die Vermögensverteilung wäre heute weniger ungleich, wenn die Fehlinvestitionen im Boom vor der Krise voll auf die Vermögenspositionen der Investoren hätten durchschlagen können (die untere Hälfte der Haushalte auf der Vermögensskala hätte mangels Geldvermögen auch nichts zu verlieren gehabt). Auch die Staatsverschuldung ist in dieser Hinsicht problematisch, weil sie den Vermögenden ein Ruhekissen bietet, das sie ihrer sozialen Funktion als Kapitalist entbindet. Das Risiko dieses vermeintlich sicheren Anlagevehikels wird stattdessen auf alle Steuerzahler abgewälzt, insbesondere wenn man – wie im Euroraum – staatliche Wertpapiere explizit als risikofrei deklariert und lieber Vertragsbrüche hinnimmt als Staatspleiten. An der staatlichen Protektion von Vermögenspositionen kann daher mit guten Argumenten viel kritisiert werden. Es ist indes nicht der ungezügelte, sondern der durch den Staat gehemmte Kapitalismus, der hier zu gravierenden Fehlentwicklungen führt.

Ähnlich wie der Kapitalismus steht auch die Globalisierung zu Unrecht am Pranger. Sieht man genauer hin, ist es schwierig, die Verlierer der immer engeren weltwirtschaftlichen Verflechtung zu identifizieren. Zwar wirken sich auf der Einkommensseite globalisierungsbedingte Produktionsverlagerungen typischerweise nachteilig auf die geringer Qualifizierten Arbeitskräfte in den Industrieländern aus, die dort im Sektor der handelbaren Güter beschäftigt sind. Dies ist aber nur ein Aspekt, der nicht isoliert betrachtet werden darf. Zum einen geht ein ganz überwiegender Teil des Strukturwandels – und mit ihm die Veränderung der Arbeitswelt – auf den technischen Fortschritt zurück. Dies gilt umso mehr, je größer das betrachtete Land ist. Neue Zollmauern würden daher allenfalls einen sehr kleinen Teil einfacher Tätigkeiten in die Industrieländer zurückbringen, der überwiegende Teil würde stattdessen von neuen Maschinen übernommen, sofern die Beschäftigten nicht bereit sind, zu den Löhnen zu arbeiten, die derzeit in den Schwellenländern bezahlt werden. Dies sind sie offenbar nicht, weil es in den entwickelten Volkswirtschaften für sie bessere Alternativen gibt. Zum anderen darf man bei der Analyse nicht bei den Einkommenseffekten stehen bleiben, sondern muss die Konsumseite und damit die Kaufkrafteffekte in den Blick nehmen. Hierbei zeigt sich, dass die unteren Einkommensgruppen als Konsumenten überproportional vom freien Welthandel profitieren, weil der Anteil handelbarer Güter in ihrem Einkaufskorb größer ausfällt als bei höheren Einkommensgruppen. Millionäre lassen sich heute wie vor zweihundert Jahren ihre Kleidung vom ortsansässigen Schneider auf den Leib schneidern, während einkommensschwächere Haushalte von günstigen Textilimporten profitieren. Auch wäre wohl ein Handy „made in Germany“ auch heute noch ein Luxusprodukt für die oberen Zehntausend. Darüber hinaus schafft der unbestrittene Nettowohlstandsgewinn aus der Globalisierung auch Raum für Transfers an einkommensschwächere Haushalte, den es sonst nicht gäbe. Die Lebensbedingungen der vermeintlichen Globalisierungsverlierer, die sich bei Werksschließungen medienwirksam vorführen lassen, sähen ohne eine integrierte Weltwirtschaft daher keinesfalls zwingend besser aus. Hinzu kommt, dass Globalisierungseffekte – wie der Strukturwandel insgesamt – nicht über Nacht auf die Menschen hereinbrechen, sondern sich nach und nach vollziehen. Erst wenn man diese Effekte eine Zeitlang durch politische Maßnahmen aufstaut, diese marktwidrigen Eingriffe dann aber später wegen Unfinanzierbarkeit wie eine Staumauer bersten, verschärft man die sozialen Probleme, weil den Betroffenen dann tatsächlich zu wenig Anpassungszeit bleibt. Disruptive Veränderungen rühren viel öfter von fehlerhaften staatlichen Eingriffen als vom freien ökonomischen Entwicklungsprozess her.

Die Konsumseite stellt auch ein anderes weitverbreitetes Narrativ in Frage, wonach bestimmte Einkommensgruppen in den Industrieländern seit Jahrzehnten keinen Wohlstandszuwachs mehr realisieren können. Diesem Befund liegen Realeinkommensberechnungen zugrunde, bei denen das nominelle Einkommen mit einem Preisindex kaufkraftbereinigt wird. Nun sind aber Preisindices gerade für Langzeitvergleiche besonders ungeeignet, weil sie Qualitätsverbesserungen nur sehr unzureichend erfassen können. Macht man sich die Konsummöglichkeiten klar, die sich heute einem Durchschnittshaushalt bieten, und vergleicht man diese mit denen der Vorgängergeneration, machen sich schnell Zweifel an den Ergebnissen breit. Es wäre lohnend, dies einmal systematisch zu untersuchen, indem man Haushalte unterschiedlicher Einkommensgruppen fragt, ob sie bereit wären, mit dem Konsumniveau ihrer Vorgänger vor zehn, zwanzig oder dreißig Jahren zu tauschen. Sind sie es nicht, haben sich offenbar die Konsummöglichkeiten verbessert. Hinzu kommen verbesserte Arbeitsbedingungen und eine höhere Lebenserwartung. Auch hier zeigt sich, dass man die Komplexität der Lebensbedingungen im sozialen Gefüge niemals auf eine Zahl verengen kann.

Die Erfolgsgeschichte von Kapitalismus und Globalisierung

Die Kombination aus Kapitalismus und Globalisierung hat in den letzten Jahrzehnten zu einer Wohlstandsexplosion in der Welt geführt. Die globale Massenproduktion kommt breiten Konsumentenmassen zugute. Niemals zuvor war der Anteil der Menschen, die in absoluter Armut leben, so gering wie heute – auch ihre absolute Zahl geht seit Jahrzehnten in großen Schritten zurück. Global betrachtet nimmt die Einkommensungleichheit dramatisch ab. Die Arbeitsbedingungen verbessern sich seit Jahrzehnten praktisch in allen Ländern der Welt. Die weltwirtschaftliche Integration führt zudem zu einer verstärkten Interessenharmonie und trägt damit auch zu einer Befriedung in der Welt bei. Aller schlimmen Nachrichten zum Trotz sterben heute bedeutend weniger Menschen in kriegerischen Konflikten als in früheren Epochen.

Diese Erfolgsgeschichte offener Märkte und globaler ökonomischer Kooperation trifft in den Industrieländern indes vermehrt auf Widerstand. Dabei finden sich nicht zufällig Sozialingenieure und Kapitalismusgegner mit Neoprotektionisten wie Donald Trump im selben Lager wieder. Was sie verbindet, ist ihr Unverständnis für die Funktionsbedingungen offener Gesellschaften. Sie übertragen Verhaltensweisen, die das Zusammenleben von Menschen in Kleingruppen stabilisieren (und die als Ur-Instinkte in der jahrtausendelangen Sozialisation der Menschen in Stammesgesellschaften wurzeln), auf die anonyme Großgesellschaft. Solidarität und Hierarchie, aber auch Abgrenzung bis hin zur Aggression gegenüber Fremden, ist der Kitt, der die für den Einzelnen überschaubare Gruppen zusammenhält. Eine offene Gesellschaft braucht hingegen Institutionen wie Eigentum, Tausch und Wettbewerb, insbesondere die freie Wahl des Tauschpartners. Dies ermöglicht eine soziale Komplexität und mit ihr eine ökonomische Leistungsfähigkeit, die niemals in einem hierarchischen Entwurf gelingen könnten und die in ihrer Evolution ergebnisoffen sind. Gerechtigkeit kann in der offenen Gesellschaft nur in der Gültigkeit abstrakter Regeln bestehen, nicht aber in normierten Quoten, Verteilungsmaßen oder anderen ergebnisorientierten Kennzahlen. Die darin liegende Unkontrollierbarkeit kann aber auch Ängste schüren, die sich Protektionisten nach innen wie nach außen immer wieder zunutze machen. Das Vehikel dazu ist der interventionistische Nationalstaat, der – an atavistische Instinkte appellierend – das soziale Gefüge im Inneren ordnet und sich nach außen abschottet. Auf diese Weise wird es dann wieder politisch belangvoll, ob zwischen zwei Tauschpartnern eine Landesgrenze verläuft. Märkte sind einst an den Stammesgrenzen entstanden („market“ kommt von „mark“), indem Menschen entdeckten, dass sich im Tausch mit Fremden auf Dauer mehr erreichen lässt als mit Raub. Das marktwirtschaftliche System ist daher von jeher auf Grenzüberwindung angelegt. Binnen- wie außenwirtschaftlicher Protektionismus läuft immer darauf hinaus, den freien Tausch einzuschränken, indem Märkte abgeschottet werden. Je öfter dies geschieht, desto mehr erstarrt die Gesellschaft und desto mehr Vorteile der einzelwirtschaftlichen Kooperation bleiben unentdeckt. Dies geht typischerweise zu Lasten der ökonomisch Schwächeren, die den desaströsen Folgen des Interventionismus besonders wenig gewachsen sind. Zudem sind es nicht selten die Stärkeren (und politisch Einflussreicheren), die unter dem Mantel der Solidarität und des „nationalen Zusammenhalts“ ihre Partikularinteressen schützen, etwa wenn ausländische Anbieter mit dem Hinweis auf nicht erfüllte „soziale Mindeststandards“ ausgesperrt werden. Diese Standards muss man sich leisten können, und dafür braucht es wirtschaftliches Wachstum. Marktöffnung beschleunigt dieses Wachstum und die Teilhabe der Schwächeren in den Entwicklungs- und Schwellenländern am globalen Wohlstand. Und im Inneren richten sich die Folgen von Mietpreisbremsen, Mindestlöhnen und andere Überregulierungen nicht selten gerade gegen diejenigen, zu deren Gunsten sie einst gedacht waren.

Die Voraussetzungen der offenen Gesellschaft nach innen wie nach außen sollte jeder bedenken, der nationale Verteilungsergebnisse zum Maßstab der Politik erhebt und deshalb nolens volens zum Steigbügelhalter des Protektionismus wird.

Erstmals veröffentlicht in CIVIS 2/2017

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Am Sonntag wird der 19. Bundestag gewählt. Zeit, sich einmal wieder mit der Frage zu beschäftigen, was die Aufgabe des Parlaments in einer Demokratie sein sollte. Denn es herrschen da mancherlei Missverständnisse.

Wir wählen nicht die Regierung, sondern deren Kontrolleure

Wenn die Bürger jetzt an die Urnen treten, wird nicht der Bundeskanzler oder irgendein anderer Spitzenkandidat gewählt. Es wird auch nicht die Regierung gewählt – genauso wenig wie eine Koalition oder auch nur eine Partei (auch wenn bedauerlicherweise der Wahl-O-Mat etwas anderes suggeriert). Gewählt werden Abgeordnete: zum einen Teil als Repräsentanten der Wahlkreise und zum anderen Teil als Kandidaten, die von den Parteien für die Landeslisten aufgestellt wurden. Der Wahlkampf der Parteien lässt bisweilen einen etwas anderen Eindruck entstehen. Das ist freilich ein tief in der Geschichte der Bundesrepublik verwurzeltes Phänomen. Die meisten Wahlen in den ersten Jahren des neugegründeten Staates waren Adenauer-Wahlen. 1972 propagierte die SPD „Willy wählen“. Selbst die Grünen haben sich irgendwann dazu durchgerungen, Spitzenkandidaten zu benennen. All das hat dazu geführt, dass sich in der Bevölkerung ebenso wie in der politischen Klasse eine gravierende Veränderung im Verständnis der Aufgaben des Parlaments ergeben hat. Die Leute, die sich etwa in der Glorious Revolution oder während der kurzen deutschen Revolution von 1848 für die Rechte des Parlaments eingesetzt hatten, drehen sich im Grabe herum.

Die Mütter und Väter des Grundgesetzes hatten durchaus gute Gründe dafür, an diese ehrwürdige Tradition anzuknüpfen. Schon der Erste Weltkrieg hatte mit einem unrühmlichen Kriegsermächtigungsgesetz begonnen, in dem viele Kompetenzen vom Reichstag auf die Regierung übertragen worden waren. Und erst recht saß vielen von ihnen die Erinnerung an den Beginn der NS-Diktatur im Nacken, die mit der Selbstentmachtung des Reichstags am 24. März 1933 ihren unheilvollen Anfang genommen hatte. Das Parlament sollte nicht wieder zum Jubelverein der Regierung werden. Seine Aufgabe sollte vielmehr sein, wie es schon 1659 die englischen Abgeordneten formulierten, „die Freiheit der Bürger gegen die Willkür der Regierung zu schützen“.

Gewissensentscheidungen sollten nicht die Ausnahme sein

Wenn wir unser Kreuzchen auf dem Wahlzettel machen, dann wählen wir, zumindest technisch gesehen, nicht eine Partei, sondern Frau Müller oder Herrn Meyer. Es ist gut möglich, dass Frau Müller auch antritt mit dem Versprechen, ihrerseits dann eine bestimmte Person zum Kanzler zu wählen. Aber sowohl in der Tradition des Parlamentarismus als auch im Wortlaut unseres Grundgesetzes ist klar: Aufgabe der Abgeordneten ist es nicht, die Wünsche eines Parteiführers zu erfüllen oder einer Regierung zu Diensten zu sein. Sie sind auch nicht Befehlsempfänger ihrer Wähler. Ihre vornehmste und wichtigste, ja unverzichtbare, Aufgabe ist die Kontrolle der Regierung. Sie müssen dem Finanzminister auf die Finger schauen, wenn er das Scheckbuch zückt; der Innenministerin, wenn sie die Überwachung ausdehnt; und dem Verkehrsminister, wenn unter seiner Verantwortung Geld im Nirwana verschwindet.

Hierzulande – wie in vielen anderen Demokratien auch – ist der Abgeordnete oft viel zu sehr eingeschränkt. Wie aberwitzig, dass es als besondere Ausnahme, fast als huldvoller Gunsterweis, dargestellt wird, wenn die Abstimmung einmal „freigegeben“ wird. Nicht der Fraktionszwang muss sich rechtfertigen, sondern die Gewissensentscheidung steht unter Druck. Es ist der erdrückenden Macht der Parteien geschuldet, dass sich kaum ein Abgeordneter traut, konsequent seinem Gewissen zu folgen, wie es das Grundgesetz vorsieht. Die Parteien bilden in gewisser Weise die Exekutive nach. Indem sie das einzige Umfeld sind, in dem man realistischerweise an ein Parlamentsmandat kommen kann, können sie die Trennung der Staatsgewalten und mithin die Kontrollfunktion des Parlaments unterminieren.

Wächter wählen, nicht Ja-Sager

Wie wählt man denn nun richtig? Wählen Sie nicht die Regierung, sondern wählen Sie diejenigen, denen Sie am ehesten zutrauen, die Kontrollfunktion gewissenhaft auszuüben. Insofern kann es durchaus Sinn ergeben, Abgeordnete zu wählen, die wahrscheinlich in der Opposition landen werden – denn hier können sie eventuell ungehinderter kontrollieren. Eine reine Protestwahl hingegen kann oft gerade den Mächtigen in die Hände spielen. Wer sich die Arbeitsweise linker und rechter Protestparteien in Bundestag und Landtagen genauer ansieht, kann sehen, dass sie ihre eigentliche Verantwortung zugunsten von Fundamentalopposition und Effekthascherei aufgeben. Richtig wählt man, indem man eine bewusste Entscheidung trifft. Indem man sich mit den Kandidatinnen und Kandidaten auf dem Wahlzettel und den Landeslisten auseinandersetzt.

Ludwig von Mises beobachtete schon vor neunzig Jahren in seinem Buch „Liberalismus“: „Jede einzelne Partei und Parteigruppe fühlt sich ausschließlich zur Vertretung bestimmter Sonderinteressen berufen, die sie ohne alle Rücksicht durchzusetzen bestrebt ist. Aus den Staatskassen soviel als möglich den ‚Eigenen‘ zukommen zu lassen, sie durch Schutzzölle, Einwanderungsverbote, durch ‚sozialpolitische‘ Gesetze, durch Vorrechte aller Art auf Kosten der anderen Teile der Gesellschaft zu begünstigen, ist das Um und Auf ihrer Politik.“ Wir brauchen auch heute in Deutschland dringend Frauen und Männer, die sich dem entgegenstellen. Wir brauchen Menschen, die ihrem Gewissen folgen. Wir brauchen Leute, die nicht selber Teil des Systems der Macht werden, sondern dieses System scharf beobachten und ihre Stimme erheben, um die Bürger vor Willkür und Machtmissbrauch zu schützen. Deshalb sind nämlich in den letzten Jahrhunderten immer wieder die Menschen in England, Frankreich, den USA, Polen und auch hierzulande auf die Straße gegangen und haben mitunter ihr Leben riskiert. Dieses Erbe sollten wir nicht verspielen, sondern ehren, indem wir eine verantwortliche Wahl treffen.