Beiträge

Das Buch „Freihandel – für eine gerechtere Welt„, in der „Edition Prometheus“ beim Finanzbuch Verlag erschienen und herausgegeben von Frank Schäffler, Clemens Schneider, Florian A. Hartjen und Björn Urbansky, wurde am 22. Januar 2018 in der Landesvertretung von Schleswig-Holstein präsentiert. Das Buch wurde vorgestellt vom ehemaligen „Super-Minister“ und nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Wolfgang Clement, der auch einen Beitrag für das Buch verfasst hat, und von dem Bundestagsabgeordneten und Finanzpolitiker Dr. Gerhard Schick von den Grünen. Neben Vertretern von Medien und Verbänden waren auch weitere fünf Bundestagsabgeordnete von CDU, FDP und Grünen anwesend. In freunschaftlicher Atmosphäre wurden durchaus klare und kontroverse Argumente ausgetauscht. Einig waren sich alle Beteiligten, dass Protektionismus eine sehr große Gefahr ist – nicht nur für die Weltwirtschaft, sondern für die freie und offene Gesellschaft insgesamt. Einige Ausschnitte aus der Debatte können Sie in diesem Video sehen:

 

Photo: Wikimedia Commons (CC 0)

Von Wolfgang Clement, Bundeminister für Wirtschaft und Arbeit a. D., Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen a. D., MdL a. D. und Kuratoriumsvorsitzender der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft.

Dieser Aufsatz ist erstmals veröffentlicht in dem in der „Edition Prometheus“ erschienenen Buch „Freihandel – für eine gerechtere Welt„.

Mit der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der Vereinigten Staaten haben die Freihandelsgegner in Deutschland Unterstützung aus einer wohl eher unerwarteten Ecke bekommen. Das Ergebnis dürfte sie zufriedenstellen: Der neue Mann im Weißen Haus setzt auf Abschottung. Das transatlantische Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und den USA, besser bekannt unter seinem Kürzel TTIP, liegt vorerst auf Eis.

Dabei liegt die Betonung jedoch auf „vorerst“. Politiker und Bürger hierzulande tuen gut daran, an der Idee festzuhalten, den transatlantischen Handel auf eine neue Stufe zu heben. Denn Deutschland wäre nicht das wohlhabende Land, das es heute ist, hätte es sich in der Vergangenheit nicht (fast) immer offen für den grenzüberscheitenden Warenaustausch gezeigt. Wie so oft hilft ein Blick in die Geschichte, auch für die künftige Gestaltung dieses Landes die richtigen Entscheidungen zu treffen.

Gemeinhin gelten Länder wie Großbritannien und die Niederlande als klassische Handelsnationen, doch auch Deutschland hat eine lange Tradition des Freihandels: Schon im 12. Jahrhundert schlossen sich niederdeutsche Kaufleute, die im Nord- und Ostseeraum Handel betrieben, zur Hanse zusammen und setzten sich gemeinsam für ihre Interessen ein. Im Laufe der Zeit entwickelte sich diese Hanse zu einem Städtebund, der die Interessen des Freihandels auch politisch vertrat. Noch heute tragen viele deutsche Städte ihren einstigen Status als Hansestadt stolz in ihren Stadtwappen.

Der Einsatz für den Freihandel war gerade im damals zersplitterten Deutschland mit seinen etwa 400 Staaten oder Staatsgebilden und hunderten, wenn nicht tausenden von Zollgrenzen bitter nötig. Ein Umdenken begann erst Ende des 18. Jahrhunderts, als in England schon die mechanischen Webstühle ratterten. Den deutschen Reformern galt allerdings nicht nur das liberale Großbritannien als Vorbild, sondern auch der starke Zentralstaat Frankreichs. Beeindruckt von der französischen Effektivität sowohl auf dem Schlachtfeld als auch in der Politik schufen sie zentral regierte Territorien und schraubten die ineffiziente Kleinstaaterei zu Beginn des 19. Jahrhunderts so nach und nach zurück.

Ein bedeutender Schritt zur wirtschaftlichen Integration gelang 1834. Der Deutsche Zollverein kann in seiner doppelten Bedeutung für die ökonomische Entwicklung und die politische Einheit gar nicht hoch genug geschätzt werden: Zwar sollte er durch die Abschaffung von Binnenzöllen sowie die Einführung von einheitlichen Maßen und Münzen vor allem den Handel forcieren. Dies ging jedoch mit einer Vertiefung der administrativen und politischen Beziehungen der Mitgliedsstaaten einher. Die Strukturen des europäischen Einigungsprozesses mehr als ein Jahrhundert später waren im Zollverein schon angelegt – was zeigt, welche Kraft der Freihandelsgedanke entfalten kann.

Diese Kraft behielt in Deutschland allerdings nicht durchgängig die Oberhand. Handelsregime sind immer auch Ergebnisse innenpolitischer Prozesse, in denen sich verschiedenen Interessengruppen gegenüber stehen. Ende des 19. Jahrhunderts schlug das Pendel mit Bismarcks Schutzzollpolitik zugunsten des Protektionismus aus. Die deutsche Landwirtschaft und die Industrie wollten sich damit gegen den Import von Getreide, Roheisen und Stahl und so auch gegen den Strukturwandel stemmen.

Im Nachhinein betrachtet wäre diese politische Schützenhilfe wohl nicht nötig gewesen. Denn  die deutsche Schwerindustrie hatte – insbesondere im heutigen Nordrhein-Westfalen – bereits begonnen, das aufzubauen, was noch heute ihre Stärke ist: die Produktion von hochwertigen Investitionsgütern, von Maschinen und Anlagen. Damit schufen die Unternehmen die Grundlagen für Deutschlands bis zum heutigen Tag anhaltende Exporterfolge. Die industriellen Strukturen und die Innovationskraft der Ingenieure halfen Deutschland schließlich auch, nach dem Zweiten Weltkrieg schnell wieder an den Weltmarkt zurückzukehren und das „Wirtschaftswunder“ möglich zu machen.

Die zweite Komponente des Nachkriegsaufschwungs war die Einbettung Deutschlands in ein sich neu ordnendes, liberal geprägtes internationales Gefüge. Unter dem Eindruck des sich anbahnenden „Kalten Krieges“ entstanden so Institutionen wie die Weltbank, der Internationale Währungsfonds und das GATT (die spätere Welthandelsorganisation), die als multilaterale Organisationen das Klein-Klein bilateraler Verhandlungen ersetzten. In Europa kam zugleich der Prozeß der politischen Einigung mehr und mehr in Gang. Auf diesem „alten“ Kontinent mit seinen vielen Völkerschaften, Staaten, Regionen  und Traditionen – dem Flickenteppich Deutschlands des frühen 19. Jahrhunderts durchaus ähnlich – haben unsere Vorväter in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Tiefe der beinahe völligen Zerstörung kommend gelernt, dass der grenzüberschreitende Handel, stabile Währungen und ein verlässlicher politischer Rahmen nicht nur nötig waren, um die Kriegsschäden zu beseitigen, sondern auch, um Frieden und Wohlstand für lange Zeit zu sichern. Mehr als 70 Jahre später kann niemand ernsthaft bestreiten, dass dies in beeindruckender Weise geglückt ist.

Ein wesentlicher Schritt auf diesem Weg war es, Westdeutschland nicht zu deindustrialisieren, sondern mit seiner wirtschaftlichen Stärke in die dafür offene,  liberale atlantische Welt aufzunehmen und einzubinden. Die Alliierten haben damit sowohl für die Bundesrepublik als auch für Europa eine wichtige und richtige Entscheidung getroffen. Denn Deutschland hat zum einen mit seinen Investitionsgütern zum Aufschwung der Welt beigetragen, sich zum anderen aber auch kontinuierlich für die europäische Einigung, Währungsstabilität und den Freihandel eingesetzt, indem es etwa nach dem Ende von Bretton Woods das Europäische Währungssystem und die Vertiefung der Europäischen Gemeinschaft voranzutreiben half.

Die Wiedervereinigung und die EU-Osterweiterung haben Deutschland sowohl geografisch als auch politisch unübersehbar in die Mitte Europas gerückt. Mit dem Euro, dem politischen Vermächtnis Helmut Kohls, ist der größte Währungsraum der Welt entstanden. So sehr man die EU für ihre ausgeuferte Bürokratie, ihre Demokratiedefizite und Bürgerferne auch kritisieren mag, so sehr ist sie doch eines der faszinierendsten und mutigsten politischen Projekte der Gegenwart. Ihre Existenz gründet in der Einsicht, dass das friedliche Zusammenleben von 500 Millionen Menschen sehr unterschiedlicher ethnischer, religiöser und  kultureller Herkünfte auf vergleichsweise engem  Raum nur auf der Grundlage gemeinsamer Werte gelingt: Dem Respekt vor der Würde des Einzelnen sowie einer staatlichen Ordnung, welche die Freiheit seiner Bürgerinnen und Bürger achtet und gewährleistet, also ihre eigenen Grenzen kennt – kurz, die Werte des Liberalismus´ und der sozialen Marktwirtschaft.

Im Rahmen der demokratischen Willensbildung wird das Zusammenspiel von Staat und Bürgern immer wieder neu ausgehandelt. Die Stellung der Wirtschaft als wichtiger Teil der Gesellschaft und der Freihandel sind zentrale Themen dieser Auseinandersetzung. Gerade der grenzüberschreitende Handel mit Waren und Dienstleistungen wird dabei oft verkürzt betrachtet – und das nicht nur von seinen Gegnern, sondern gelegentlich auch von seinen Verfechtern, wenn sie jegliches staatliches Handeln als freiheitsgefährdenden Eingriff zu brandmarken versuchen.

Tatsächlich machen verlässliche Rahmenbedingungen sowie wie eine effektive und berechenbare Administration, eine an transparenten Leitlinien orientierte Wirtschaftspolitik und eine zweifelsfrei unabhängige Gerichtsbarkeit den freien Handel erst möglich. Ein dafür ganz offensichtliches Beispiel sind Kartellbehörden, die einschreiten, wenn die Marktmacht einzelner Unternehmen den Wettbewerb zu Lasten von Verbrauchern und der weiteren Marktteilnehmer gefährdet. Nur ein handlungsfähiges und mutiges Kartellamt garantiert Wettbewerb. Der Staat setzt mit alldem den Rahmen, der den Wettbewerb lebendig hält und ist damit als Akteur zur Gewährleistung eines wirklich freien Handels nicht wegzudenken.

Grenzüberschreitender freier Handel macht also den Staat nicht überflüssig, stellt aber die  Aufgabenverteilung zwischen Staat und Markt immer wieder auf die Probe. Und das kann im Binnenverhältnis durchaus auch regional-, bildungs- oder sozialpolitisch flankierende Maßnahmen erfordern. In einer Zeit globaler Veränderungen von durchaus dramatischer Tiefe und hohem Tempo – wie heute – sollte das unübersehbar sein. Die gegenwärtigen rechtspopulistischen Blähungen in den USA wie in Teilen Europas sind jedenfalls eine Warnung. Wer sie übersieht, hat schließlich die (nicht wenigen) Opfer des von der Globalisierung forcierten Strukturwandels gegen sich. Freier Handel überzeugt nur, wenn der ökonomische Fortschritt, den er unzweifelhaft mit sich bringt, mit gerechten Chancen auf den „Wohlstand für alle“ verbunden ist.

Deutschland hat als Exportnation von Weltrang ein überragendes Interesse an freien Märkten. Für uns im Herzen Europas geht es im  Ringen um die Formulierung und Realisierung liberaler Werte aber um mehr als das. Offene Märkte bedeuten eben  nicht nur einen möglichst barrierefreien Austausch von Waren, Dienstleistungen und Kapital, sondern sie bedingen auch eine staatliche Ordnung, die schwindelfrei ist und die Balance hält, wo es um die Gewährleistung der Freiheit des und der Einzelnen  auf der einen und die Sicherung des Gemeinwohls und des Zusammenhalts der Gesellschaft auf der anderen Seite geht.

Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs und der Wiedervereinigung hat Deutschland diese Verantwortung mit erheblichem Engagement vor allem auf europäischer Bühne wahrgenommen. Doch die Welt von heute und morgen hat längst neue Herausforderungen bereit. Es wird deshalb immer wichtiger, dass ein sich einiges Europa im Kräftespiel um eine neue Rangordnung der bisherigen Weltmacht USA und der neuen Weltmächte mit China an der Spitze seinen Platz findet und auch selbstbewußt wahrnimmt. Die Bereitschaft und die Fähigkeit, die eigene Sicherheit gewährleisten zu können, gehört unzweifelhaft dazu.

Unser Land ist unzweifelhaft eines der ökonomischen und politischen Schwergewichte in der EU. Das bedeutet mehr Verantwortung, aber sollte nicht zur Selbstüberschätzung verleiten. Den protektionistischen Tendenzen auf globaler Ebene können wir jedenfalls nur gemeinsam mit unseren europäischen Partnern wirksam entgegentreten. Die Erfahrung jedoch, in einer wechselvollen Geschichte stets vom Freihandel profitiert zu haben, sollte uns veranlassen, kräftiger als in den zurückliegenden Monaten Flagge zu zeigen, im Innern wie nach außen. Angesichts einer  momentan zunehmenden  Zahl von Kritikern und Gegnern des Freihandels macht es viel Sinn, mit offenem Visier für die Werte einzutreten, die Frieden und  Freiheit und dauerhaft Fortschritte im Kampf gegen Armut und die großen Krankheiten auf der Welt möglich machen.

Photo: Stiftung Haus der Geschichte (CC BY-SA 2.0)

1968. Für die einen der Beginn ihrer Zeitrechnung und das eigentliche Ende des finsteren Mittelalters. Für die anderen der Untergang des Abendlandes und der erste apokalyptische Reiter. Das halbe Jahrhundert, das seitdem verstrichen ist, könnte uns lehren, dass beide Wahrnehmungen in die Irre führen. Ein Plädoyer für eine Neubewertung.

Die Revoluzzer sind bis an die Grenzen des Grotesken gezähmt

CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt beklagte kürzlich „eine linke Meinungsvorherrschaft“. Solche Klage erinnern bisweilen an den Vorwurf der politischen Antagonisten, die, wie im letzten Jahr Martin Schulz, überall den „neoliberalen Mainstream“ wittern. In der Tat, Untersuchungen zeigen, dass die meisten Politikjournalisten, die sich parteipolitisch zuordnen würden, das bei den Grünen oder der SPD tun. Die wenigsten von ihnen sind aber hartgesottene Sozialisten, sondern eher progressive Freunde des deutschen Wohlfahrtsstaates. Mit dem Bereich der Ökonomie verhält es sich vergleichbar. Unter deutschen VWLern und Finanz- und Wirtschaftspolitikern gibt es einen relativ breiten Konsens, dass fiskalische Disziplin und Zurückhaltung bei staatlichem Interventionen die bessere Lösung sind. Damit sind sie aber (leider!) noch lange nicht leidenschaftliche Jünger der Ideen von Mises, Hayek und Friedman.

Es ist ein einfacher psychologischer Trick, dass wir anderen und auch uns selbst gegenüber den Gegner gerne stärker und bedrohlicher zeichnen als er wirklich ist. Auch die 68er haben mit dem Kampf gegen den „Muff von tausend Jahren“ maßlos übertrieben. So miefig waren die Jahre der frühen Bundesrepublik keineswegs. Im Gegenzug haben aber auch ihre Gegner den Einfluss der 68er überzeichnet wie auch die von ihnen vermeintlich ausgehende Bedrohung. Rückblickend kann man sogar feststellen, dass die 68er bis an die Grenzen des Grotesken gezähmt wurden: Joschka Fischer ist jetzt ein 110-prozentiger Westler. Alice Schwarzer kann es als Tugendwächterin mit Christa Meves aufnehmen. Rainer Langhans tritt bei RTL auf, während Uschi Obermaier die US-Staatsbürgerschaft angenommen hat.

Es war keine Revolution

So gerne Anhänger und Gegner der 68er-Bewegung es auch gehabt hätten: es war keine Revolution. Eine Revolution war die Machtergreifung der Nationalsozialisten oder der Fall von Mauer und Eisernem Vorhang. Was um 1968 herum geschah, hatte jedoch keineswegs eine die gesamten Verhältnisse umstürzende Wirkung. Das politische System blieb komplett intakt, die Parteien hatten davor und danach ähnliche Ergebnisse und auch die Mehrheit der Bevölkerung änderte nicht plötzlich ihr Verhalten. Es war, wie Dobrindt durchaus zutreffend beobachtet, eine Elitenbewegung. Doch obwohl die Aktivisten keinen Umsturz in Gang gebracht haben, gehen doch durchaus signifikante Veränderungen auf sie zurück: Vergangenheitsbewältigung und Umweltschutz, sexuelle Befreiung, Säkularisierung und Friedensbewegung, um nur einige zu nennen.

Diese Veränderungen kamen aber keineswegs abrupt, sondern entwickelten und entfalteten sich über mehrere Jahrzehnte hinweg. So begannen etwa die Proteste gegen Kernkraft Anfang der 70er Jahre und erst im Jahr 2000 wurde der Ausstieg eingeleitet. Die Homosexuellen-Emanzipation nahm im Jahr 1969 richtig Fahrt auf, 1994 wurde die rechtliche Ungleichbehandlung aufgehoben, 2001 die gleichgeschlechtliche Verbindung weitestgehend der Ehe gleichgestellt. Es dauerte also etliche Jahrzehnte bis sich die Ideen dieser Elitenbewegung so weit durchgesetzt hatten, dass politische und rechtliche Maßnahmen politisch denkbar und durchsetzbar wurden. Die 68er haben keineswegs eine Revolution durchgeführt, sondern Evolutionen angestoßen.

Wertewandel geht nur, wenn die Mehrheit mitspielt

Die Proteste waren ein Rundumschlag: gegen die vermeintlichen und tatsächlichen Nazi-Eltern, gegen Bigotterie und Prüderie, gegen Marktwirtschaft, gegen US-Imperialismus, gegen Standesdünkel und Bürgerlichkeit. Manches aus jener Zeit hat sich nicht einmal ansatzweise durchgesetzt: Kommunenleben mit sexueller Promiskuität ist nicht gerade ein Schlager unter den Lebensentwürfen. Die anti-amerikanischen Tendenzen werden bei Irak-Krieg und Anti-TTIP-Demos bisweilen zum Leben erweckt, werden aber eigentlich nur am rechten und linken Rand ordentlich kultiviert. Der bürgerliche Lebensstil ist derzeit wieder groß im Kommen. Stichwort „Neo-Biedermeier“. Und schließlich sollten sich die Leute, die in ihrer Jugend „Ho-Ho-Ho-Chi-Minh“ krakelt haben, zu den wichtigsten Wirtschaftsreformern seit Ludwig Erhard mausern.

Auf anderen Gebieten waren die Proteste durchaus erfolgreicher. Aber eben nicht von einem Tag auf den anderen, sondern in langsamen Wandlungsprozessen über Jahrzehnte hinweg. In einem evolutorischen Prozess haben sich in der Gesellschaft Werte verändert und neue Überzeugungen durchgesetzt. Man mag nicht alle diese Veränderungen begrüßen, aber sie sind eben auch nicht allein das Werk einer abgehobenen Meinungselite. Sie sind Ergebnis langfristiger gesellschaftlicher Akzeptanz. Die Menschen hierzulande sind durchaus fähig, sich ihre eigene Meinung zu bilden und Entscheidungen zu treffen. Sie haben ja auch keineswegs die vollständige Agenda übernommen, sondern das, was ihnen richtig oder plausibel erschien. Die veränderten Werte sind mehrheitsfähig.

Was Mises, Hayek und die 68er verbindet

Viele Errungenschaften der 68er sind auch aus liberaler Perspektive sehr zu begrüßen. Andere mag man erheblich kritischer sehen. Wenn man diese korrigieren will, muss man in den Wettbewerb der Ideen eintreten. Da hilft kein Jammern. Da hilft nur anpacken. Überzeugungsarbeit leisten. Weniger Selbstmitleid. Mehr Ausstrahlung.

Die 68er haben eindrücklich bestätigt, was Ludwig von Mises 1927 beobachtete: „Aller Fortschritt der Menschheit vollzog sich stets in der Weise, dass eine kleine Minderheit von den Ideen und Gebräuchen der Mehrheit abzuweichen begann, bis schließlich ihr Beispiel die anderen zur Übernahme der Neuerung bewog.“ Und durchaus im Geist des Protestes gegen den Status Quo kann man auch lesen, was Friedrich August von Hayek 1978 formulierte, als er die Bedeutung von nicht nur technischer, sondern auch moralischer Innovation für die Evolution der Kultur hervorhob: „Wir müssen zugeben, dass die moderne Zivilisation weitgehend dadurch möglich wurde, dass man den darüber empörten Moralisten kein Gehör schenkte.“ In diesem Sinne: Weg mit dem Muff unter den Talaren – von 1000 wie von 50 Jahren!

Photo: HEN-Magonza from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Als Luther-Jahr präsentierten sich die zurückliegenden zwölf Monate. Angemessener wäre es gewesen, die gesamte Reformation in den Fokus zu rücken. Denn auch wenn er eine beeindruckende Persönlichkeit war: Luther steht wahrhaft nicht für das Beste an dieser Bewegung, die vor einem halben Jahrtausend die Welt veränderte. Andere Akteure hätten weitaus mehr Aufmerksamkeit und Würdigung verdient.

Des Deutschen Liebe zum Helden

Der Deutsche liebt seine Helden. Ob Hermann der Cherusker und Siegfried, Bismarck und Hindenburg oder in jüngster Zeit Helmut Schmidt – wir sehnen uns nach Persönlichkeiten, zu denen wir aufschauen können. Bedauerlicherweise sind das in der Regel selten Menschen, die das Penicillin erfunden haben, sich für Frauenrechte eingesetzt haben oder ein Unternehmen gegründet haben, das einen wichtigen Beitrag zur sharing economy leistet. Meist sind es Politiker und sogenannte Staatsmänner (bemerkenswert, dass sich der Begriff Staatsfrauen noch nicht durchgesetzt hat), die in den Bann ziehen.

Luther war schon immer ein solcher Held. Geschichten gab es genug von dem Mann, der es mit Papst und Kaiser aufgenommen hatte und uns nebenbei noch die Sprache der Dichter und Denker geschenkt hat. Ein wackerer Deutscher, der sich wie einst Hermann im Teutoburger Wald für Selbstbestimmung einsetzte – gegen den Papst in Rom und den „spanischen“ Kaiser. Als Projektionsfläche diente er gerade in dieser Deutung nicht selten den Mächtigen und Herrschern. Auch den zwei Diktaturen auf deutschem Boden.

Luther – ein Pessimist und Anti-Rationalist

Im vergangenen Jubiläumsjahr haben sich die protestantischen Kirchen und auch die staatlichen Akteure wieder voll auf die Person Luther konzentriert. Bis hin zu einem vollkommen bizarren Luther-Musical, das das ZDF mit mehreren tausend Sängern veranstaltete. Zwar wurden pflichtschuldig auch heikle Aspekte wie sein eklatanter Anti-Judaismus thematisiert. Aber am Ende des Tages wurden die Schattenseiten des Reformators eher noch zu seinem Vorteil gewendet, indem man nun auch herausstellen konnte, dass Luther ja auch nur ein Mensch und ein Kind seiner Zeit gewesen sei. Das mache ihn doch gerade so sympathisch …

Er habe, so könnte man meinen, nun einmal diese eine problematische Seite gehabt. Darüber hinaus sei er aber eine bedeutende Persönlichkeit gewesen – ein deutscher Held –, den man getrost seinem Kind als Playmobil-Figur in die Hand drücken kann. Darüber wurde viel zu sehr ignoriert, was für eine hochproblematische Gestalt er war, auch unabhängig von seiner Aversion und Gehässigkeit gegenüber den Juden. So vertrat Luther ein sehr negatives Bild vom Menschen und nicht zuletzt von dessen Rationalität. Die Vorstellung von Luther als dem Ersten der Aufklärer ist also nicht nur unpassend, sondern glattweg falsch. Viel eher könnte man in ihm einen wichtigen Vertreter jener Stimmung des Anti-Intellektualismus sehen, der heute noch ein definierendes Moment populistischer Bewegungen ist. Seine Ablehnung Roms war nicht nur gegen den päpstlichen Pomp gerichtet, sondern war auch eine Ablehnung der Renaissance und deren optimistischer Sicht auf den Menschen.

Luther – der Wegbereiter des absoluten Staates

Was genau der Vielschreiber Luther beabsichtigt haben mag, ist Gegenstand für seine Biographen. Die Auswirkungen seiner oft mit heißer Nadel gestrickten Texte waren freilich über die Jahrhunderte fatal. So liest sich seine 1523 erschienene Schrift „Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei“ in der Rückschau wie eine Bedienungsanleitung für absolutistische Herrscher. Zwei bedeutende Historiker des 19. Jahrhunderts, Lord Acton und Jacob Burckhardt, ziehen eine direkte Linie von Luther und seinem Umfeld zum Entstehen von Absolutismus und Totalitarismus als definierenden Staatsformen der Neuzeit.

Viele Aspekte des Staates, die uns heute noch Schwierigkeiten bereiten, können auch auf Luther zurückgeführt werden. Etwa das Entstehen von mächtigen Bürokratien und die Verdrängungen privater Solidarität durch einen ausufernden Wohlfahrtsstaat. Der Reformator begründet auch, warum und wie ein anständiger Bürger der Obrigkeit hörig sein sollte: „Nun das Schwert aber aller Welt ein großer nötiger Nutzen ist, daß Friede erhalten, Sünde gestraft und den Bösen gewehrt werde, so ergibt er [der rechte Christ] sich aufs allerwilligste unter des Schwertes Regiment, zahlt Steuern, ehrt die Obrigkeit, dient, hilft und tut alles, was er kann, das der Gewalt förderlich ist, auf daß sie im Schwang und in Ehren und Furcht erhalten werde“.

Luther geht weit zurück vor die schon zu seiner Zeit üblichen rechtsstaatlichen Standards, indem er einer archaischen Unterscheidung zwischen Gut und Böse huldigt und eine „angemessene“ Bestrafung den ordentlichen Prozessen vorzieht – auch hier ein Vorläufer der Populisten heutiger Tage. Der philippinische Präsident Duterte könnte das wohl so unterschreiben: „Wenn die Gewalt und das Schwert ein Gottesdienst ist, wie oben erwiesen ist, so muß auch das alles Gottesdienst sein, was der Gewalt nötig ist, um das Schwert zu führen. Es muß ja einer sein, der die Bösen fängt, verklagt, erwürgt und umbringt, die Guten schützt, entschuldigt, verteidigt und errettet.“ Diese simple Weltsicht kulminiert schließlich in der Rechtfertigung des Krieges, die wahrlich verstörend ist: „Und in solchem Krieg ist es christlich und ein Werk der Liebe, die Feinde getrost zu würgen, zu rauben und zu brennen und alles zu tun, was (den Feinden) schädlich ist, bis man sie nach Kriegsbräuchen überwinde, nur daß man sich vor Sünden hüten, Weiber und Jungfrauen nicht schänden soll.“

Die Wiege der offenen Gesellschaft stand nicht in Wittenberg

Man kann und sollte vielleicht auch Luthers Leistungen anerkennen. Aber jegliche Verehrung seiner Person ist mehr als unangebracht. Die vielen im Zorn und Eifer des Gefechts geschriebenen und gesprochenen Worte waren damals schon schwer vereinbar mit der christlichen Botschaft wie mit den sich langsam entwickelnden Ideen der Aufklärung. Ihre Wirkung ist, wenngleich von Luther so vielleicht nicht intendiert, noch viel fataler gewesen. Luther ist eine wichtige und spannende Figur. Aber er gehört nicht auf einen Sockel.

Das vergangene Jahr hätte man besser nutzen sollen, um der Personen und Denktraditionen in der Reformation zu gedenken, die einen wesentlichen Anteil daran haben, dass unsere offene und freiheitliche Gesellschaft erstehen konnte. Deren Wiege stand nicht in Wittenberg, sondern in Straßburg, Basel und im westfriesischen Pingjum, im polnischen Luslawice und in Philadelphia jenseits des Atlantik. Toleranz und Individualismus, Rechtsstaat und Meinungsfreiheit entstanden weder an den Fürstenhöfen, bei denen Luther Unterschlupf fand, noch in Genf, wo Calvin eine Theokratie errichtete, die es mit den Taliban aufnehmen könnte. Sie wurden vorgedacht und erstritten von Männern und Frauen, die auch heute noch oft abseits der Geschichte stehen. Darum sollen hier in Kürze fünf jener Persönlichkeiten vorgestellt werden, die wichtige Rollen gespielt haben bei der Entwicklung der Ideen und Institutionen, die heute zum geistigen und moralischen Kernbestand unserer Gesellschaft gehören. Dies sind die Reformatoren, die wirklich einen Sockel verdient hätten …

Menno Simons (1496-1561) – Pazifismus

Eine der bekanntesten reformatorischen Bewegungen waren die sogenannten „Täufer“, deren radikale Vertreter in den 1520er und 1530er Jahren in Münster und Thüringen Aufstände anzettelten. Dagegen wandten sich viele friedfertige Anhänger dieser Theologie, unter ihnen auch der westfriesische Pfarrer Menno Simons. Er und seine Mitstreiter in der Bewegung propagierten ein Christentum, das jeglicher Form von Gewalt widersagte. In ihrem Pazifismus gingen sie so weit, jeglichen Gebrauch von Waffen abzulehnen. Gleichzeitig setzten sie sich ein für allgemeine Religionsfreiheit, was in Zeiten, in denen der jeweilige Landesherr über die Konfessionszugehörigkeit der Untertanen entscheiden konnte, einer Revolution gleichkam. Entsprechend fühlten sich auch katholische, lutherische und reformierte Autoritäten gleichermaßen provoziert und verfolgten die kleine Minderheit blutig. Es ist Leuten wie Menno zu verdanken, dass die Gemeinden dennoch unerschütterlich zu ihren Prinzipien standen und so den Ideen von Gewaltlosigkeit und Meinungsfreiheit als leuchtende Beispiele dienten.

Sebastian Franck (1499-1542) – Aufklärung

Auch der nordschwäbische Publizist Sebastian Franck war den weltlichen und geistlichen Autoritäten ein Dorn im Auge, wo auch immer er sich gerade aufhielt. Er fand kaum Unterstützung oder Sympathie für seine Ansichten, die heute fast durchgängig akzeptiert sind – in den verschiedenen Kirchen wie auch in der gesamten Gesellschaft. So postulierte er etwa, dass selbstverständlich auch „Türken und Heiden“ ein rechtes und gottgefälliges Leben führen könnten – eine Vorstellung, die die wenigsten damals auch nur ihren Mit-Christen in einer anderen Konfession einräumen wollten. Franck war tatsächlich ein Vorreiter der Aufklärung, weil er sich gegen das strukturell konservative Verständnis von Luther wandte, allein die Bibel sei eine Quelle der Offenbarung. Im Gegenteil: für Franck spielte das „innere Wort“ des Menschen, also sein Gewissen und seine Vernunft, die wesentliche Rolle bei der immer besseren Erkenntnis des Glaubens. Entsprechend wandte er sich auch vehement gegen jegliches Wahrheitsmonopol. Aus seiner Sicht war absolute Gewissensfreiheit unumgänglich, weil sie allein garantierte, dass keine Autorität den Fortschritt der Erkenntnis hemmen konnte und es zu einem echten Wettbewerb der Ideen kommt. Francks Welt- und Menschenbild war so anti-autoritär und pluralistisch wie unsere Gesellschaft erst im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde.

Sebastian Castellio (1515-1563) – Toleranz

Nur ganz wenige Zeitgenossen brachten Sebastian Franck Wertschätzung entgegen. Einer von ihnen war Sebastian Castellio. Im Jahr 1553 ließ der Reformator Jean Calvin den spanischen Arzt und Theologen Michael Servetus verbrennen. Der protestantische Theologe Castellio war entsetzt über diese Eskalation des religiös verbrämten Terrorregimes, das in Genf errichtet worden war, und wandte sich in sehr deutlichen Worten gegen die Rechtfertigung von Gewalt zur Durchsetzung religiöser Ziele. So schrieb er den für die damalige Zeit wahrhaft revolutionären Satz: „Einen Menschen töten, heißt nicht, eine Lehre zu verteidigen, sondern einen Menschen zu töten.“ Er wird heute als einer der ersten systematischen Vordenker des Toleranz-Gedankens gesehen. So wundert es nicht sehr, dass eines seiner Alterswerke den Titel trägt: „Über die Kunst zu zweifeln“. Wie Franck war er auch ein Vordenker der Aufklärung und scharfer Kritiker des Antirationalismus, der insbesondere in der lutherischen und calvinistischen Tradition fröhliche Urstände feierte.

Fausto Sozzini (1539-1604) – Trennung von Religion und Staat

Zu den Opfern zunächst katholischer und anschließend innerprotestantischer Verfolgung zählten auch Fausto Sozzini und dessen Onkel Lelio Sozzini. Zuflucht fand der gebürtige Italiener, wie viele Verfolgte damals, in der außergewöhnlich toleranten polnisch-litauischen Adelsrepublik. Dort übte er großen Einfluss auf die Bewegung der Polnischen Brüder aus, die ähnlich wie die Anhänger Menno Simons‘ für eine Trennung von Staat und Religion, Gewissensfreiheit und bedingungslose Toleranz eintraten. Der englische Historiker Lord Acton formulierte einmal, die große Errungenschaft jener Reformatoren sei es gewesen, dass sie den Anspruch erhoben, „die Freiheit der anderen zu hegen wie die eigene, sie zu verteidigen aus Liebe zu Rechtschaffenheit und Menschenfreundlichkeit und nicht nur als einen Anspruch“. Toleranz sollte also nicht mehr als ein Sonderrecht einer Minderheit gegenüber der Mehrheit begriffen werden, sondern als ein allgemein gültiges Prinzip. Dies war ein kaum zu überschätzender Schritt hin zu einer friedvollen Gesellschaft und zu einem Rechtsstaat, der jeden gleichbehandelt. Theologisch war Sozzini – im Gegensatz zu Luther und Calvin – ein glühender Vertreter der These, dass der Mensch einen freien Willen hat.

William Penn (1644-1718) – Gleichheit der Menschen

Als William Penn geboren wurde, war Luther schon fast hundert Jahre tot. Dennoch gehört er in diese kleine Aufzählung, weil er einen wesentlichen Anteil daran hatte, dass die hier vorgestellten reformatorischen Ideen, die bis dahin nur in marginalisierten kleinen Gruppen eine Rolle spielten, eine nachhaltige Wirkung entfalten konnten. Ideen wie die Gleichheit aller Menschen, revolutionäre Veränderungen wie die Abschaffung der Sklaverei und viele Prinzipien des politischen Liberalismus verdanken sich wesentlich der von ihm groß gemachte Bewegung der Quaker. Zu den wesentlichen Kennzeichen dieser religiösen Gruppierung zählen ihr radikaler Pazifismus und ihre Forderung nach bedingungsloser politischer Toleranz. George Fox, einer der Gründer der Bewegung schrieb 1661 in einem Brief an den damaligen englischen König: „Mögen es Juden, Papisten, Türken, Heiden, Protestanten oder sonst etwas sein, oder solche, die Sonne, Mond, Stöcke und Steine anbeten, gib ihnen Freiheit, so dass jeder von ihnen zeigen kann und davon sprechen darf, worin er seine Stärke sieht.“ Indem William Penn in Nordamerika die Kolonie Pennsylvania gründete, schuf er einen sicheren Hafen für Verfolgte aus der ganzen Welt, die dort unter den Prinzipien der Meinungsfreiheit und demokratischen Selbstbestimmung Zuflucht finden konnten. Auch die einheimischen Indianerstämme wurden wie vollwertige Mitbürger behandelt. Mit dem von ihm so genannten „heiligen Experiment“ hatte Penn erstmals die Möglichkeit geschaffen, die Prinzipien der Reformatoren Wirklichkeit werden zu lassen. Die Anziehungskraft, die diese Prinzipien von dort über die Amerikanische Unabhängigkeit in die ganze Welt bis heute ausstrahlen, ist überwältigend.

Wir müssen uns an die richtigen erinnern!

Moderne, offene und freie Gesellschaften gründen sich ganz wesentlich auf den Gedanken dieser Männer und Frauen, denen in der Geschichtsschreibung der Reformation eine so viel unbedeutendere Rolle zugewiesen wird als Leuten mit einer sehr gemischten Bilanz wie Martin Luther oder veritablen Diktatoren wie Calvin. Simons, Franck, Castellio, Sozzini, Penn und ihre Mitstreiter haben standgehalten in der Verfolgung, die für viele von ihnen auch grausame Ermordung bedeutete. Diesem unbeirrbaren Idealismus hätte man im zurückliegenden Jahr Aufmerksamkeit zukommen lassen müssen. Er war der Motor, der den Fortschritt in Richtung individueller Freiheit in Gang hielt.

Der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig hat im Jahr 1936, natürlich vor den historischen Hintergründen seiner Zeit, ein Buch verfasst mit dem Titel „Castellio gegen Calvin oder Ein Gewissen gegen die Gewalt“. Aus diesem Werk sei hier schließlich noch zitiert. Er bringt es genau auf den Punkt:

Gerade dies aber, daß Sebastian Castellio von Anfang an die Aussichtslosigkeit seines Kampfes vorauswusste und ihn, gehorsam gegen sein Gewissen, dennoch unternahm, dies heilige Dennoch und Trotzalledem rühmt für alle Zeiten diesen ‚unbekannten Soldaten‘ im großen Befreiungskriege der Menschheit als Helden; schon um solchen Mutes willen, als einzelner und einziger leidenschaftlichen Protest gegen einen Weltterror erhoben zu haben, sollte die Fehde Castellios gegen Calvin für jeden geistigen Menschen denkwürdig bleiben.

Erstmals erschienen auf dem Blog der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft.

Photo: Fred PO from Flickr (CC BY-SA 2.0)

In der derzeitigen politischen Lage rückt plötzlich wieder das Parlament in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung. Sonst wird das Herz unserer Demokratie zugunsten der Regierung eher vernachlässigt. Es wird mehr auf seine Unabhängigkeit achten müssen, zumal die inzwischen sogar von ehemaligen Verfassungsrichtern in Frage gestellt wird.

Abgeordnete als Befehlsempfänger

Paul Kirchhof, der einst von Kanzler Schröder für seine sehr vernünftigen Vorschläge für eine Steuerreform als „Professor aus Heidelberg“ geschmähte ehemalige Bundesverfassungsrichter, hat dem Land schon einen Bärendienst erwiesen, indem er der Erhebung des Rundfunkbeitrags für jeden Haushalt den Weg geebnet hat. Nun hat er sich in einem Interview mit der FAZ dazu hinreißen lassen, einen Vorschlag zu machen, der an den Grundfesten unserer freiheitlichen Demokratie rüttelt. Angesichts der verfahrenen Situation bei der Koalitionsfindung empfiehlt er, „dass man die Parteien verpflichtet, vor der Wahl ihre Koalitionsaussage verbindlich zu treffen. … Dann hat derjenige, der, als Tandem oder zu dritt, die meisten Stimmen bekommen hat für seine Koalition, die Wahl gewonnen. Und der bekommt dann 50 Prozent der Sitze im Bundestag, sagen wir plus 5 oder 10, damit klare Mehrheiten da sind. Dann entscheidet der Wähler wieder mehrheitlich, wer als Mehrheit im Staat das Sagen haben soll.“

Das wäre eine eklatante Einschränkung des freien Mandats der Abgeordneten. Schon heute haben wir ein ernsthaftes Problem durch die euphemistisch als „Fraktionsdisziplin“ bezeichnete Praxis, die Abgeordneten mit Blick auf Parteiräson auf Linie zu bringen. Nötigenfalls auch noch mit dem Hinweis auf die Macht des Parteiapparats, der eine erneute Aufstellung auf der Liste oder im Wahlkreis verhindern könnte. Eine Umsetzung von Kirchhofs Vorschlag würde den Parteien noch viel mehr Macht geben. Ganz zu schweigen davon, dass das Grundgesetz in Artikel 38 sehr deutlich feststellt, dass die Abgeordneten „an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“ sind. Im Kirchhofschen Modell hätten sie über den Umweg der Partei, die sich festlegen muss, nur noch ein imperatives Mandat. Wie fatal das wäre, kann man in einer hervorragenden Rede nachlesen, die Verfassungsgerichts-Präsident Voßkuhle vor zwei Wochen gehalten hat, wo er darauf hinweist, das imperative Mandat sei „nicht nur offensichtlich antiparlamentarisch, sondern ermöglicht gerade einen ‚top-down‘-Regierungsstil.“

Kartoffelsuppe schlägt Machtkontrolle

Nun wäre es unfair, nur dem ehemaligen Verfassungsrichter Vorwürfe zu machen. Viele Akteure müssen sich an die Nase fassen, wenn es den Bedeutungsverlust des Parlaments zu beklagen gilt: Die Medien etwa, die sich weitaus mehr für das Handeln der Exekutive interessieren als für die Stimmen aus dem Parlament. Die Parteiführungen, die ihre eigene Machtfülle über Meinungsvielfalt und Diskurs stellen. Die Kanzlerinnen und Kanzler und alle Mitglieder der Exekutive, die das Hohe Haus oft wie einen Abstimmungsautomaten behandeln oder die „Quasselbude“ gleich ganz umgehen. Und schließlich auch die Wähler, die die Nachfrage dafür erzeugen, dass Parteien eigentlich nur noch Wahlen gewinnen, indem sie das „Spitzenpersonal“ ins Schaufenster stellen. Letztlich ist die Missachtung des Parlaments eben auch eine Folge der Sehnsucht nach der starken Frau oder dem starken Mann, der die Dinge für uns regelt.

Natürlich ist Macht faszinierend. Und die Mächtigen sind oft Gegenstand von Neugier und Faszination, von Bewunderung oder Verachtung. Während die halbe Republik an Merkels Kartoffelsuppen-Rezept interessiert ist, weiß kein Mensch, wer Michael Grosse-Brömer oder Carsten Schneider sind. Fachpolitiker im Parlament sind nur bekannt, wenn sie sich ganz penetrant in die Medien drängen. Der Philosoph Karl Popper beschrieb das Problem mit der Tatsache, dass wir immer wieder die Frage stellen: „Wer soll regieren?“ Unsere Aufmerksamkeit ist darauf gerichtet, die Person zu finden, die weise, kompetent, fürsorglich und stark genug ist, um ihr unser Geschick anzuvertrauen.

Wir brauchen furchtlose Abgeordnete!

Nun leben wir freilich nicht mehr in Umständen, unter denen eine solche Frage vielleicht Sinn ergeben mag, weil das Überleben des Stammes davon abhängt, dass das Führungspersonal aus den Besten besteht. Deshalb argumentiert Popper, dass wir uns in einer modernen oder wie er es nennt: offenen Gesellschaft eine andere Frage stellen müssen: „Wie können wir politische Institutionen so organisieren, dass es schlechten oder inkompetenten Herrschern unmöglich ist, allzu großen Schaden anzurichten?“ Die Komplexität unserer Gesellschaft ist die Folge unserer wachsenden Fähigkeit, Entscheidungen selber fällen zu wollen und zu können – ohne auf einen Häuptling angewiesen zu sein. Friedrich August von Hayek schreibt: „Es ist ein Gesellschaftssystem, dessen Wirkungsweise nicht davon abhängt, dass wir gute Menschen finden, die es handhaben, oder davon, dass alle Menschen besser werden, als sie jetzt sind, sondern ein System, das aus allen Menschen in all ihrer Verschiedenheit und Kompliziertheit Nutzen zieht.“

Ein Ausdruck dieser Form der Entscheidungsfindung ist die Institution des Parlaments, wie es sich vor allem in Großbritannien und den USA herausgebildet hat. Es funktioniert nicht über das Prinzip der Anführerschaft, sondern des Diskurses, der gegenseitigen Kontrolle und des Interessensausgleichs. Anstatt die Parteien dazu zu zwingen, sich auf Koalitionsaussagen festzulegen, wäre der umgekehrte Weg dem Sinn des Parlaments entsprechend. Statt durchzuregieren, sollte die Exekutive wieder viel stärker gezwungen sein, bei den Abgeordneten um Unterstützung zu werben. Nicht die Abgeordneten sollten vor der Kanzlerin buckeln. Vielmehr sollten sie und ihr Kabinett als Bittsteller bei denjenigen auftreten, die den Auftrag haben, den Mächtigen auf die Finger zu schauen. Es wäre sehr zu wünschen, dass die Abgeordneten die derzeitige Situation nutzen, um wieder neues Selbstbewusstsein zu gewinnen und ihrer Aufgabe gerecht zu werden, indem sie furchtlos auftreten gegenüber den Mächtigen in Regierung und Parteizentralen. Denn das Herz unserer Demokratie schlägt nicht dort, sondern im Plenarsaal.