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Photo: Paxson Woelber from Flickr (CC BY 2.0)

Die Offene Gesellschaft lebt von Individuen, die für ihr Leben, Handeln, Reden und Denken Verantwortung übernehmen. Wenn ein Staat das seinen Bürgern abnimmt oder gar verbietet, gefährdet er die Grundlagen von Demokratie, Recht und Freiheit.

Der Dünkel der Meinungs-Hegemonie

In den letzten Tagen ist viel über die Gründe für die Wahl Donald Trumps zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten nachgedacht worden. Eine Erklärung, die häufig vorgebracht wird, lautet, sie sei ein Protest gegen Establishment und Elite gewesen. Auch wenn die Nachwahlerhebungen eher darauf hindeuten, dass ökonomische Überlegungen ausschlaggebend waren, hat dieses Element doch eine große Rolle gespielt. Nicht zuletzt, weil Trumps Anti-Eliten-Rhetorik sein vielleicht wichtigstes Markenzeichen war. Der Riss, der auch unabhängig von Trump durch die amerikanische Gesellschaft geht, hat viel mit der Meinungs-Hegemonie linksliberaler, progressiver Kreise zu tun. Die Dominanz und Aggressivität, mit der Safe Spaces und Veggie-Days eingefordert werden, ruft Gegenreaktionen hervor, die nicht minder aggressiv sind. Verbissenheit, Humorlosigkeit und Dünkel können selbst berechtigte Anliegen nachhaltig zerstören.

Einer der zentralen Punkte an der Eliten-Kritik – nicht nur in den USA – besteht darin, dass viele Menschen das Gefühl haben, ihnen werde vorgegeben oder gar vorgeschrieben, was sie zu denken, zu sagen und zu tun hätten. Dabei handelt es sich wohlgemerkt um ein Gefühl. Auch vor hundert Jahren haben Knigge, Beichtvater oder Mutter sexistische Sprüche sanktioniert. Und ein homosexueller Vegetarier muss sich in der Kleinstadt im amerikanischen Mittwesten wohl ebenso häufig rechtfertigen wie ein konservativer Soldat an einer Westküsten-Universität. Aber dennoch hat dieses Gefühl durchaus auch einen sehr realen Kern. Denn wenn (egal von welcher Seite) argumentiert wird, die eigene Position sei nicht nur maßgeblich, sondern auch objektiv richtig und gut, dann führt das bei Andersdenkenden natürlich zu Empörung. Zu recht.

Wie die Linke ihre antiautoritären und emanzipatorischen Grundsätze verriet

Besonders problematisch wird es dann, wenn aus der Überzeugung, im Besitz der Wahrheit zu sein, entsprechende Maßnahmen folgen. Sozialer Druck, der sich in der argumentativen Auseinandersetzung und auch in Tabus äußert, wird von Konservativen, Linken und Liberalen als Mittel genutzt und ist trotz aller Übertreibungen grundsätzlich ein legitimes Mittel, die eigene Position voranzubringen. Illegitim ist es hingegen, das Argument durch die Vorschrift zu ersetzen. Das sollten gerade Linke deutlich sehen. Ein wesentlicher Bestandteil ihrer Ideengeschichte handelt von der Emanzipation. Frauen, Juden, Sklaven, Farbige, Homosexuelle – sie alle wurden unterdrückt durch einen Staat, der seine Zwangsmittel einsetzte, um damals vorherrschende Gesellschaftsvorstellungen durchzusetzen.

Wie so oft trifft hier wieder die scharfsinnige Beobachtung des englischen Historikers Lord Acton zu, dass Macht die Tendenz hat, zu korrumpieren. Denn die Vormachtstellung, die linke Kreise im intellektuellen Diskurs über die vergangenen Jahrzehnte gewonnen haben, hat auch ihren ursprünglichen antiautoritären und emanzipatorischen Ansatz korrumpiert. Anstatt ihre Diskurs-Hoheit weise, klug und bedächtig einzusetzen, um in der Gesellschaft gegen Vorurteile und Diskriminierung vorzugehen, säen sie selber Vorurteile und diskriminieren Menschen, die anderer Meinung sind als sie.

Freiraum und Vertrauen

Und nicht nur das: sie nutzen zunehmend dieselben Formen der Macht, die einst genutzt wurden, um reaktionäre Überzeugungen durchzusetzen. Waren früher persönliche Entscheidungen wie Ehescheidung verboten und Homosexualität strafbar, so sollen heute ebenso persönliche Entscheidungen auch mit Strafen belegt und mit Verboten gesteuert werden: mit den Mitteln des „sanften Paternalismus“; mit einer Besteuerung, die unser Konsumverhalten lenken soll; mit repressiven Maßnahmen gegen Andersdenkende in Schulen und Universitäten. Von missionarischem Eifer beseelt sehen sie sich als Wiedergänger der Philosophenkönige, von denen Platon schwärmte. An den Hebeln der Macht angekommen wollen sie endlich auch die anderen Menschen zu den Höhen der Erkenntnis und Moral führen, auf denen sie sich wähnen.

Die Gegenbewegung, die wir derzeit gegen diese Weltverbesserung mit Zwangsmitteln erleben, wird das Problem nicht beheben. Viel zu wirr und erratisch sind die Thesen der Kämpfer wider „Genderwahn“ und Political Correctness. Und oft genug richten sie sich auch gegen die Fundamente der Offenen Gesellschaft und des respektvollen Umgangs. Die Antwort, mit der vielleicht alle Seiten leben könnten, ist die Rückbesinnung auf die Selbstverantwortung. Das heißt: Jedem Menschen zuzutrauen, dass er sein eigenes Leben verantwortlich leben kann. Die Gründe zu respektieren, die Menschen für ihre Überzeugungen und Handlungen haben, auch wenn man sie persönlich ablehnt. Freiraum und Vertrauen sind nicht nur in der Kindererziehung fundamentale Prinzipien – sie sind grundsätzlich die angemessenen Mittel im Umgang miteinander.

Friedliche Koexistenz statt einer uniformen Gesellschaft

Der wesentliche Unterschied zwischen Konservativen und Linken einerseits und Liberalen andererseits besteht darin, dass erstere eine konkrete Vorstellung davon haben, was richtig und falsch ist und ihre eigenen Werte für andere verbindlich machen wollen. Dagegen will der Liberale die Gesellschaft nicht gestalten. Sein Ziel ist einzig der Ordnungsrahmen, innerhalb dessen jeder seine eigenen Überzeugungen leben kann. Er will ein System, das die friedliche Koexistenz verschiedenster Überzeugungen und Lebensentwürfe möglich ist. Er will kein „einig Volk von Brüdern“, sondern eine Ordnung gegenseitiger Toleranz. Er vertraut weder auf die Macht des Establishments, noch auf die Macht der Straße – er vertraut auf die Macht der besseren Idee, deren natürlicher Nährboden der Respekt vor dem anderen ist. Das brachte schon vor über 70 Jahren Ludwig von Mises in seinem Buch „Bürokratie“ auf den Punkt mit den Worten:

„Wer seine Landsleute bessern möchte, muss dabei auf Überzeugung zurückgreifen. Dies allein ist der demokratische Weg, Veränderungen zu erreichen. Wenn jemand bei dem Versuch scheitert, andere von der Richtigkeit seiner Ideen zu überzeugen, sollte er die Schuld dafür seiner eigenen Unfähigkeit geben. Er sollte kein Gesetz – mit anderen Worten: Zwang und Nötigung durch die Polizei – fordern.“

Photo: Lane Pearman from Flickr (CC BY 2.0)

Bei der Wahl in den USA wurde nicht nur eine schillernde und offenbar für viele auch faszinierende Person gewählt. Es war auch eine Abstimmung gegen die Globalisierung, die die Zeit seit dem Ende des Sowjet-Imperiums wesentlich geprägt hat. Sie ist in akuter Gefahr.

„It’s the economy, stupid“

Die Nachwahlbefragungen der New York Times sind sehr aufschlussreich. Der in progressiveren Kreisen oft geäußerte Vorwurf des Rassismus scheint bei den Betroffenen nicht zu verfangen: Bei allen nicht-weißen Wählergruppen hat Trump gegenüber dem republikanischen Kandidaten von 2012, Mitt Romney, hinzugewonnen, gerade auch unter Hispanics. Ein anderer Faktor scheint wesentlich stärker gewirkt zu haben. Er konnte offenbar weit in die traditionelle Unterstützergruppe der eher sozialdemokratischen Demokraten hinein Stimmen gewinnen. Unter den Wählern mit geringeren Bildungsabschlüssen schnitt er im Vergleich zur letzten Wahl deutlich besser ab. Massive Zugewinne gab es bei denen, die weniger als 30.000 $ im Jahr verdienen und immer noch erhebliche bei denen, die weniger als 50.000 $ verdienen.

Dass für viele Wähler das Thema Immigration eine große Rolle gespielt hat, muss nicht unbedingt ein Hinweis auf Rassismus sein, sondern hängt gewiss auch wesentlich mit dem hart umkämpften Arbeitsmarkt, gerade im Niedriglohnsektor zusammen. 78 % der Wähler, die ihre finanzielle Situation als verschlechtert empfinden, haben für Trump gestimmt. Die Wähler, die glauben, dass der Handel mit anderen Ländern amerikanische jobs vernichten, haben zu 65 % für Trump gestimmt. Der amerikanische Ökonom Donald Boudreaux hat auf seinem Blog darauf hingewiesen, dass ein ausschlaggebender Faktor für die Wahl Trumps die, gerade auch von Linken oft bediente, Erzählung ist, dass es für den Mittelstand seit den 70er Jahren kein Wachstum mehr gegeben habe. (Vielleicht ist der Dauer-Vorwurf des Rassismus auch dem unbewussten Schuldgefühl mancher Progressiver und Linker entsprungen, durch ihren Alarmismus dieses Ergebnis mitverursacht zu haben.)

„Wir glauben an das Gute, das Regierungen tun können.“

Ein ähnliches Phänomen konnten wir bereits bei der Abstimmung zum Brexit gewärtigen. In den dortigen Nachwahlbefragungen wurde unter anderem nachgefragt, wie die Wähler zu bestimmten Themen stehen. Obwohl das Leave-Lager von den traditionell marktwirtschaftlicher ausgerichteten Tories dominiert wurde, haben 69 % derjenigen, die die Globalisierung für eine gefährliche Entwicklung halten, für den Brexit gestimmt. Einen deutlichen Widerhall fand diese Tendenz in der Rede der neuen britischen Premierministerin Theresa May beim Parteitag der Konservativen. Diese Rede war ein fast schon flammender Appell für das Primat der Politik und das, was Angelsachsen als „big government“ bezeichnen. Ihre Botschaft gleicht der von Trump bis in die Formulierungen:

„Wenn wir Ungerechtigkeit korrigieren und die Regierung in den Dienst der einfachen Arbeiter stellen, können wir ein neues gemeinschaftliches Großbritannien aufbauen. … Unser Programm sieht die Regierung in der Pflicht, eine Wirtschaft aufzubauen, die für jeden arbeitet. Eine Wirtschaft, die einen öffentlichen Dienst unterstützt, auf den wir uns alle verlassen können, und die in Dinge investiert, die uns allen lieb und teuer sind. Wie etwa den NHS: eines der besten Gesundheitssysteme weltweit. … Lasst uns die Gelegenheit ergreifen, um zu beweisen, dass wir – die Konservative Partei – wahrhaft die Partei der Arbeiter, der Beamten und des NHS sind. Denn wir glauben an den öffentlichen Dienst. Wir glauben daran, in Institutionen zu investieren, die unser Land großmachen. Wir glauben an das Gute, das Regierungen tun können.“

Alte Modelle aus der Mottenkiste

Innerhalb kürzester Zeit sind in Großbritannien und den USA, also zwei Leuchttürmen liberaler Gesellschaften und freier Märkte, die liberalen Kräfte in sich zusammengefallen. Politiker wie David Cameron und George Osborne, wie Paul Ryan, Marco Rubio und leider auch Rand Paul, wurden entweder abserviert oder sind massiv in der Defensive. Stattdessen werden alte Modelle wieder aus der Mottenkiste geholt: Theresa May inszeniert sich als Wiedergängerin ihres Vorgängers Clement Attlee, der nach dem 2. Weltkrieg den NHS einführte und Teile der Industrie verstaatlichte – nicht wie Margaret Thatcher, die das alles wieder aufräumen musste. Und das allererste Versprechen, das Donald Trump nach seiner Wahl machte, lautete: „Wir werden unsere Innenstädte, Highways, Brücken, Tunnel, Flughäfen, Schulen und Krankenhäuser wiederaufbauen. Wir werden die Infrastruktur erneuern … Und wir werden dadurch für Millionen Menschen Arbeitsplätze schaffen.“ – Das ist Franklin D. Roosevelts „New Deal“ neuaufgelegt. Dafür spricht auch sein Zugeständnis, Obamacare nun doch nicht abzuschaffen.

Natürlich war Immigration beim Brexit und den US-Wahlen ein Thema. Natürlich sind viele von Trumps Sprüchen rassistisch und einige der von der neuen britischen Regierung vorgeschlagenen Maßnahmen offen fremdenfeindlich wie etwa, dass Unternehmen angeben müssen sollen, wie viele ausländische Angestellte sie beschäftigen. Doch bloße Empörung über Rechtspopulismus führt höchstens zu einer noch stärkeren Verhärtung der Fronten. Die Offene Gesellschaft ist in Gefahr, weil sie das Ergebnis der Globalisierung ist. Rassismus ist oft nur eine Ausdrucksform der zugrundeliegenden Ängste vor den Herausforderungen einer freien Marktwirtschaft. Wer etwas gegen diese Formen des Rechtspopulismus tun will, sollte nicht die Interventionsspirale gegenseitiger Vorwürfe (political correctness vs. Rassismus, Homophobie etc.) bedienen, sondern – wie einst der große britische Freihandels-Kämpfer Richard Cobden – die Vorzüge der Globalisierung verdeutlichen.

Steht die Republikanische Partei vor einem fundamentalen Wandel?

Die 180-Grad-Wende der Tories werden wahrscheinlich auch die Republikaner erfahren. Denn die Wahl Trumps war – wie der Brexit – auch ein deutliches Signal gegen Globalisierung. Republikanische Politiker haben erfahren müssen, dass sich mit Protektionismus und ökonomischem Interventionismus, wie sie Trump offen ins Schaufenster gestellt hat, Wahlen gewinnen lassen. Von einigen wenigen Überzeugungstätern abgesehen, wird das die meisten entscheidend in ihren Politikentscheidungen beeinflussen. Trumps Wahl könnte sich als letzter Todesstoß für den marktfreundlichen Teil der Tea Party Bewegung herausstellen. Stephen Davies, einer der führenden Köpfe beim Institute of Economic Affairs in London liefert einen interessanten Ausblick:

„Die langfristigen und strukturellen Veränderungen, die mit Trumps Sieg einhergehen werden, sind schlimm. …Er wird die Republikanische Partei in eine Partei des Nationalismus, des wirtschaftlichen Dirigismus, der Anti-Globalisierung und der Identitäts-Politik verwandeln. Es wird bizarr sein, zu beobachten, wie viele republikanische Politiker plötzlich entdecken, dass die Prinzipien, die sie viele Jahre lang unterstützt haben, jetzt Schnee von gestern sind … Viele Republikaner werden plötzlich einen Gesinnungswandel durchleben. Andere werden ersetzt werden und manche werden gehen oder ausscheiden.“ Schließlich zitiert er die Reaktion von Pat Buchanan, seit Jahrzehnten die prominenteste Stimme des reaktionären Flügels der Republikaner, auf die Wahl Trumps: „Die Globalisierung ist am Ende. Die Zukunft gehört dem Ethno-Nationalismus und dem wirtschaftlichen Nationalismus.“

Linke Vorarbeit für rechte Politiker

Attac, Campact, Occupy, Thomas Piketty, Bernie Sanders, Jeremy Corbyn und Sarah Wagenknecht haben mit ihren dauernden Tiraden gegen die Globalisierung und der Panikmache beim Thema Ungleichheit einen (hier passt das Modewort ausnahmsweise einmal sehr gut:) postfaktischen Diskursstil gesät und wir ernten nun Politiker wie Trump. Die heutige Situation erinnert an die große Krise des Liberalismus und der Globalisierung ab dem Ersten Weltkrieg. Überall gerät er in die Defensive: mal von ganz offen rechten Kräften wie Kaczynski, Orban oder Le Pen, mal von solchen, die in staatsmännischem Gewande daherkommen wie Theresa May oder Donald Trump. Flankiert wird diese Bewegung von autoritären Kräften wie Erdogan, Duterte oder Putin. Die Handelskriege, die aus dem wachsenden Protektionismus zu erwachsen drohen, können die Weltwirtschaft in eine noch viel dramatischere Lage bringen als der Lehman Crash. Die Folge wird der weitere Aufstieg von Anti-Globalisierungs-Bewegungen sein, weil die Folgen dieses Protektionismus der Globalisierung zugeschrieben werden – dank der intensiven Pflege dieses Narrativs durch Linke in den letzten Jahrzehnten.

Es wird gewaltiger Kraftanstrengungen und vieler Jahre, wenn nicht Jahrzehnte bedürfen, um die gerade einsetzende Trendwende wieder umzukehren und die Globalisierung mit all ihren positiven Auswirkungen wieder aufs Gleis zu stellen. Aber so mühsam diese Perspektive erscheint, so gibt es doch Hoffnung. Den libertären Präsidentschaftskandidaten Gary Johnson, der seinen Stimmenanteil im Vergleich zur letzten Wahl auf mehr als 4 Millionen Stimmen vervierfacht hat, haben 6 % der Wähler zwischen 18 und 24, 4 % der Wähler zwischen 25 und 29 sowie 5 % der Wähler zwischen 30 und 39 gewählt. Das korrespondiert mit der Zustimmung, die das libertäre Urgestein Ron Paul bei der Wahl 2012 im Vorwahlkampf vor allem unter jungen Wählern genoss.

Hoffnungsschimmer am Horizont

Es gibt inzwischen auf der ganzen Welt eine breite, wenn auch noch kleine, so doch schon sehr schlagkräftige Bewegung, die sich der Globalisierung und der damit einhergehenden Offenen Gesellschaft verschrieben hat. Der Frontalangriff auf die Globalisierung trifft ihre Verteidiger mithin nicht völlig unvorbereitet, auch wenn es die nächste Zeit noch sehr ungemütlich werden kann. Es mögen sich noch ganz neue ungewöhnliche Allianzen auftun. Wenn etwa die Tories in Großbritannien und die Republikaner in den USA sich tatsächlich auf den Weg zur interventionistischen und protektionistischen Knechtschaft machen, mag manch ein schmerzhafter Abschied bevorstehen.

Doch für den, der bereit ist umzudenken, tun sich auch ganz neue Möglichkeiten auf. Gerade in der jungen Generation sind viele sehr kosmopolitisch aufgewachsen – und in Zeiten weltweiter Kommunikation ist dieser Kosmopolitismus auch nicht mehr nur ein „Privileg“ der besser gebildeten und Reichen. Vielleicht gelingt, was Stephen Davies hoffnungsvoll als mögliche Perspektive beschreibt, wenn er sich eine Partei vorstellt, die „im breiten Sinne liberal ist, sich vehement für Freihandel einsetzt, internationalistisch und kosmopolitisch ist, um Gleichheit besorgt und doch wesentlich weniger begeistert von staatlicher Gewalt und dem Versuch, Ungleichheit durch Interventionen zu beseitigen.“

Eine Mahnung aus dem Jahr 1949

Es gibt Organisationen wie die Students for Liberty, es gibt Politiker-Nachwuchs wie Daniel Hannan in Großbritannien oder Justin Amash und Thomas Massie in den USA und es gibt weltweit, quer durch die Lager und Parteien hindurch, Menschen, denen an Freihandel, Marktwirtschaft und einer Offenen Gesellschaft gelegen ist. All diese Leute müssen jetzt ihren Mut und ihre Geduld zusammennehmen und dem Rat Friedrich August von Hayeks folgen, der 1949, in einer ähnlich düsteren Zeit, schrieb:

„Wir müssen ein neues liberales Programm anbieten, das sich an die Vorstellungskraft wendet. Wir müssen den Aufbau einer freien Gesellschaft wieder zu einem intellektuellen Abenteuer machen, zu einem Akt des Mutes. Was uns fehlt, ist eine liberale Utopie, ein Programm, das weder eine bloße Verteidigung bestehender Verhältnisse ist noch ein verwässerter Sozialismus, sondern ein wirklich liberaler Radikalismus, der die Mächtigen nicht schont, der nicht allzu pragmatisch ist, und der sich nicht auf das beschränkt, was heute politisch durchsetzbar erscheint. Wir brauchen intellektuelle Führungspersönlichkeiten, die bereit sind, sich für ein Ideal einzusetzen, mögen die Aussichten auf ihre baldige Umsetzung auch noch so gering sein. Es müssen Menschen sein, die bereit sind, an ihren Prinzipien festzuhalten und für deren volle Verwirklichung zu kämpfen, mag der Weg auch noch so lang erscheinen.

Die Aussichten für die Freiheit sind in der Tat dunkel, wenn es uns nicht gelingt, die philosophischen Begründungen einer freien Gesellschaft wieder in den intellektuellen Diskurs einzubringen; wenn es uns nicht gelingt, die Einrichtung einer freien Gesellschaft zu einer Aufgabe zu machen, die die Genialität und Vorstellungskraft unserer fähigsten Köpfe herausfordert. Wenn es uns aber gelingt, jenen Glauben an die Kraft der Ideen wiederzuerlangen, der das Kennzeichen des Liberalismus zu seinen Glanzzeiten war, dann ist der Kampf nicht verloren.“

Erstmals erschienen bei „Peace Love Liberty – Das Studentenmagazin“.

Photo: K-Screen Shots from Flickr (CC BY 2.0)

Helfen, Rücksicht nehmen, ein guter Mensch sein – wer würde das nicht wollen? All das sind freilich individuelle Tugenden. Wenn Staat und Politik versuchen, uns dabei zu „unterstützen“, etwa durch den Kampf gegen „Hass-Sprache“, führt das oft zu gravierenden Folgen, die eigentlich keiner wollen kann.

Das Anbrechen des Hass-Zeitalters?

Nach dem Brexit machten plötzlich alarmierende Berichte die Runde, dass es einen sprunghaften Anstieg sogenannter Hass-Verbrechen gegenüber Ausländern gegeben habe. Der deutsche Justizminister wies kürzlich auf den besorgniserregenden Anstieg von „Hass-Reden“ in den sozialen Netzwerken um 176 Prozent hin und drohte den Betreibern der Netzwerke mit staatlichen Eingriffen. Beim Europarat ist eine eigene „Kommission gegen Rassismus und Intoleranz“ angesiedelt, die sich um die Erfassung und Bekämpfung von Hass-Verbrechen kümmert.

Diese Kommission hat viel zu tun, wenn sie die 47 Länder des Europarates beständig im Blick behalten möchte. Und vor allem, wenn sie die Balance halten möchte: Sie muss autokratisch regierte Länder wie Russland und Aserbaidschan ebenso in den Blick nehmen wie offene Demokratien wie Island und Portugal. Das führt dann zu so schwammigen Formulierungen wie der aus dem Jahr 2013 (!), dass in Deutschland „der rassistische und besonders der fremdenfeindliche Charakter in Teilen der öffentlichen Debatte … immer noch nicht ausreichend verdeutlicht“ werde. Was genau ist denn ein fremdenfeindlicher Charakter? Oder auch: wo findet sich konkret die „erhebliche (sic!) Diskriminierung von LGBT-Personen“? Und sind anonyme Bewerbungsverfahren bei der „Vergabe von Aufträgen, Darlehen, Zuschüssen und anderen Leistungen“ in irgendeiner Weise sinnvoll durchführbar? Man merkt bei der Lektüre der Berichte, dass hier eine Bürokratie am Werk ist, die nicht darauf ausgerichtet ist, sich selbst überflüssig zu machen, um es vorsichtig zu formulieren.

Schwammige Zahlen, unklare Begriffe

Natürlich gibt es abstoßende, gefährliche und zum Teil auch in erheblichem Ausmaß strafbare Diskriminierung gegenüber Menschen, die als andersartig empfunden werden. Und natürlich folgt auf böse Worte nicht selten auch die böse Tat. Jedes hasserfüllte Wort und jeder Faustschlag sind Verletzungen, die nie passieren sollten. Sobald aber mit Trends, Daten, Zahlen argumentiert wird, wird es sehr schnell unübersichtlich. Wenn man zum Beispiel versucht, herauszufinden, wie es zu dem von der Bundesregierung festgestellten Stand von 3084 „Hass-Postings“ in sozialen Netzwerken kommt, landet man im Nirgendwo. Man muss sich zufrieden geben mit der Aussage, dass es in der Statistik für politisch motivierte Kriminalität keine eigenständige Kategorie für Hasspostings gibt: „Die Fallzahlen wurden über eine Abfrage des Themenfeldes ‚Hasskriminalität‘ unter Eingrenzung auf das Tatmittel ‚Internet‘ ermittelt.“

In einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage aus dem Bundestag zum Thema „politisch motivierte Kriminalität“ kommt dann zum Vorschein, dass es sich in etwa drei Vierteln der Fälle um Volksverhetzung handeln soll. Der Bundesrichter Thomas Fischer formuliert dazu pointiert: „Man könnte ja eigentlich sagen: Beleidigung ist strafbar; üble Nachrede und Verleumdung sind strafbar; Volksverhetzung, Bedrohung, Gewaltverherrlichung sind strafbar, Befürwortung von Straftaten ist strafbar: Also wo um Himmels willen soll da jetzt noch eine ‚Lücke‘ sein? Wie viele ‚Hater‘ konnten denn aufgrund des bestehenden Rechts nicht zu Strafe oder Schadensersatz verurteilt werden? Was soll das überhaupt für ein merkwürdiger Tatbestand sein, ‚Hass‘ zu formulieren?“

Die Opfer-Inflation

Gegen Hass zu sein, ist gut. Aber was ist Hass? 62.518 Hassverbrechen wurden von der britischen Polizei 2015/16 aufgenommen, rund Zehntausend mehr als im Vorjahr, fast 80 Prozent davon mit rassistischem Hintergrund. Was Hass ist, definiert hier aber nicht der Gesetzgeber, sondern derjenige, der das vorgebliche Verbrechen meldet. Definiert wird ein Hass-Verbrechen in den Leitlinien der britischen Polizei nämlich allein durch die Wahrnehmung des Opfers oder des Zeugen. Die Meldung kann über ein einfaches Online-Formular erfolgen, das man anonym und ohne Beweise oder Belege vorzuweisen benutzen kann. Kein Wunder, dass die Statistik Amok läuft …

Wir erleben derzeit einen weltweiten Trend zur Viktimisierung: In den USA tobt an den Universitäten die Debatte um sogenannte „safe spaces“, wo sich Studenten frei von jeder Diskriminierung aufhalten können sollten – und liefert beständig Wasser auf die Mühlen der Trump-Unterstützer. In vielen westlichen Staaten inszenieren sich Rechtspopulisten als Opfer eines Mainstreams, der ihre Meinungsfreiheit beschneide. Muslime beanspruchen für sich, die „neuen Juden“ zu sein. Es scheint ein Wettbewerb darum zu bestehen, wer nun mehr diskriminiert werde – gerade so, als befänden wir uns in einem repressiven Gesellschaftsumfeld wie dem Herrschaftsgebiet der Taliban.

Persönliche Verantwortung nicht verstaatlichen

Dieser inflationäre Gebrauch des Opfer-Konzepts führt zu anderen Folgen als denjenigen, die viele sich wünschen, die etwas gegen Diskriminierung tun wollen. Es führt etwa zu einem sich gegenseitig aufschaukelnden Konflikt: Wenn sich der hypersensible Akademiker beständig über die „falsche“ Sprache beschwert, führt das bei der rabiaten Kleinunternehmerin zu Gegenreflexen und so beginnt eine Spirale der Eskalation. Wenn man durch anonyme Meldeformulare Opfern von verbaler oder tätlicher Gewalt einen möglichst leichten Zugang zu Schutz und Gerechtigkeit ermöglichen möchte, führt das zum Missbrauch dieser Gelegenheit. Durch diese Opfer-Inflation auf allen Seiten wird der Begriff entwertet – was sich ja bereits im Sprachgebrauch von Jugendlichen niederschlägt, die demjenigen, dessen Bierflasche grade zu Boden gefallen ist, zurufen: „Du Opfer!“ Wirklichen Opfern ist dadurch nicht geholfen.

Der Schutz unserer Mitmenschen vor Übergriffen, vor Hass und Gewalt, auf welcher Seite sie auch immer stehen mögen, ist in Fällen klarer Gewaltanwendung natürlich Sache der Strafverfolgungsbehörden. Sie ist aber ganz oft auch Sache jedes Einzelnen – gerade in jenen Grauzonen, die als „Hass-Rede“ bezeichnet werden. Indem Politiker uns diese Verantwortung abnehmen, schwächen sie das Anliegen und die Gesellschaft als Ganze. Wir dürfen unsere persönliche Verantwortung nicht verstaatlichen. Es ist Aufgabe jedes einzelnen von uns, einzuschreiten, wenn jemand beschimpft oder diskriminiert wird. Es ist unsere Aufgabe, unsere Kinder so zu erziehen, dass sie im Modus des Respekts denken, reden und handeln. Es ist unsere Aufgabe, dafür zu werben, dass der soziale Druck wächst auf diejenigen, die aus Hass reden und handeln. Nur so kann eine nachhaltige Veränderung geschehen zum Besten aller. Alles andere ist Augenwischerei.

Photo: SPÖ Presse und Kommunikation (CC BY-SA 2.0)

Der Links-Populismus wird in Deutschland verklärt. Von rechts kommend ist er verwerflich und wird stigmatisiert. Von links kommend gilt er als hipp und fortschrittlich. Doch der linke und der rechte Populismus sind siamesische Zwillinge, die beide die Freiheit des Einzelnen bedrohen und deshalb eine Gefahr für unsere offene Gesellschaft sind. Populismus ist eine Spielart des Paternalismus, bei der eine Mehrheit den Staat in eine immer größere Betreuungsrolle bringen will. Beide Populismen eint der Weg dorthin. Sie dramatisieren und überspitzen die Lage, um die Gunst der Massen zu gewinnen. Beide Seiten sind Bewunderer der Vergangenheit und der Gegenwart. Und beiden Seiten ist das Neue suspekt. Für beide Seiten ist das Individuum unfähig, selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen.

Der politische Populismus von Links und Rechts führt zu Kollektivismus und zu weniger Individualismus. Zu glauben, der Gegensatz von Populismus sei Paternalismus, ist daher völlig falsch. Der paternalistische Staat greift populistische Strömungen auf und nutzt sie, um die staatlichen Aktivitäten auszuweiten. Das wollen die Populisten von Links und Rechts auch. Beide schreiben dem Einzelnen vor, was gut und richtig im Sinne der Massen ist und dafür braucht es den Eingriff des Staates in das Eigentum und in die Vertragsfreiheit. Der gesetzliche Mindestlohn ist ein Beispiel dafür. Er ist zutiefst populistisch, suggeriert er doch, dass es damit Geringverdienern besser geht. Das Ganze wird dann in eine dicke Suppe gerührt, deren Zutaten „wachsende Ungleichheit“, „Umverteilung“, „Vermögensteuer“ und „Rente mit 63“ lauten. Doch es ist längst klar, dass Mindestlöhne Eintrittshürden in den Arbeitsmarkt sind und die Perspektive von Menschen ohne Arbeit eher verschlechtern. Man muss dazu nur die hohe Jugendarbeitslosigkeit in Südeuropa betrachten.

Auch die Ablehnung von Freihandelsabkommen ist zutiefst populistisch, weil sie mit dumpfen Ängsten über Gesundheitsgefahren und Verbraucherschutz arbeiten. Die Ablehnung dient wie der Mindestlohn dazu, dass die Masse, über den Staat, den Einzelnen in seinem Handeln einschränkt und behindert. Nicht mehr der Bürger wird betrachtet, ob dieser oder jene ganz bewusst eine Ware aus dem Ausland kaufen will, sondern die Gefühle der Massen werden als Maßstab für die Grundlage individueller Entscheidungen genommen.

Links- und Rechtspopulisten sind Marktabschottungen lieber als der Freihandel. Dazu muss man nur nach Frankreich schauen. Die französischen Rechtspopulisten des Front National um Marine Le Pen argumentieren gegen CETA und TTIP mit den gleichen Argumenten wie hierzulande ATTAC und Campact. Sie wollen ihre Landwirte, ihren Mittelstand und ihre Verbraucher schützen, als gehörten sie ihnen persönlich. Es ist eine Art Leibeigenschaft, die in diesem dumpfen Nationalismus zum Ausdruck kommt. Beide Populismen sind nicht bereit, neuen Ideen eine Chance zu geben. Sie wollen ihr Ideenmonopol durchsetzen und dadurch einen Wettbewerb der Ideen verhindern. Sie glauben, dass an ihrem Wesen die Welt genesen soll.

Der Widerstand gegen den linken Populismus ist bei uns gering. Das hat auch seine Ursache darin, dass große Konzerne in Deutschland die Linkspopulisten von Campact und Co. sogar anfänglich finanziert haben. Da muss man sich nicht wundern, wenn man jetzt aus den Vorstandsetagen nichts hört. Das Aufkommen des Linkspopulismus gerade in Deutschland ist auch ein Versagen der offenen Gesellschaft und deren Eliten. Sie sind nicht bereit mit offenem Visier gegen diesen Trend anzutreten, sondern sie verkriechen sich in ihre Elfenbeintürme und beklagen anschließend das Ergebnis. Doch eine offene Gesellschaft lebt vom Mitmachen, vom Einmischen und von der Macht der Ideen. Wo sind die Vorbilder, die sich dagegenstellen? Wo sind die Herrhausens oder die Rohwedders der heutigen Zeit? Wo sind die Unternehmenslenker, die mutig, entschlossen und wortmächtig gegen diesen Trend öffentlich sich zu Wort melden? Gibt es Sie noch? Es genügt nicht, wenn große Unternehmen teure „Corporate Social Responsibility“-Abteilungen einrichten, aber diese letztlich nur der Imagepflege und Marketing betreiben. Gesellschaftliche Verantwortung sieht anders aus. Die offene Gesellschaft braucht mehr Bekennermut und weniger Zuschauermentalität.

Erstmals erschienen auf Tichys Einblick am 22. September 2016.

Photo: dierk schaefer (CC BY 2.0)

Die DDR-Vergangenheit wird verharmlost, vertuscht, verklärt. Es hat Folgen für die heutige Politik, wenn ein „Schutzwall“ nicht als mörderisches Instrument gesehen wird und eine exzessive Planwirtschaft nicht als Weg zur Verelendung großer Bevölkerungsteile.

Mauer, Stasi und Mangelwirtschaft als Pflichtübungen

Wenn Sie dieser Tage in Berlin unterwegs sind, kann es passieren, dass Sie in eine S-Bahn steigen, auf der für das DDR-Museum geworben wird. Hierbei handelt es sich nicht etwa um einen Erweiterungsbau der Gedenkstätte im Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen, um die Schrecken der 40 Jahre langen Diktatur darzustellen. Eher im Gegenteil: Das DDR-Museum liegt in bester Lage an der Spree gegenüber dem Berliner Dom. Der Besucher kann sich in alte Trabis setzen, sich über die FKK-Kultur und die Blech-Münzen amüsieren, etwas Kalter-Krieg-Grusel empfinden und in einem authentischen DDR-Wohnzimmer umherwandeln – inklusive Abhörstation.

Mauer, Stasi und Mangelwirtschaft kann man natürlich schwerlich auslassen. Aber man will den etwa 600.000 Menschen, die jährlich das Museum besuchen, ja nicht die Stimmung vermiesen. Und so ist die Darstellung dieser Aspekte der DDR eher eine Pflichtübung, die auch noch absolviert wird. Wer will schon den spanischen Schulklassen, britischen Fanclubs und japanischen Rentnerinnen, die sich gerade zwischen dem Döner am Hackeschen Markt und dem Bummel über die Friedrichstraße befinden, die Geschichten erzählen von Unterdrückung und Umweltverpestung, von Fremdenfeindlichkeit und Familienzerwürfnissen, von Misswirtschaft und Mauertoten?

Stalinisten als Namensgeber

Das Museum ist eines der prominentesten Beispiele für DDR-Nostalgie, aber bei weitem nicht das einzige. Mitten durch Berlin laufen gleich zwei große Straßen, die nach Karl Marx benannt sind, auf dem Gebiet der ehemaligen DDR gibt es noch unzählige von ihnen. Auch Rosa Luxemburg fungiert als Namensgeberin für Straßen, Plätze, Schulen und sogar eine Stiftung. Also die Frau, die feststellte „Wer sich dem Sturmwagen der sozialistischen Revolution entgegenstellt, wird mit zertrümmerten Gliedern am Boden liegenbleiben.“ Auch der ausgemachte Stalinist Ernst Thälmann geistert noch allenthalben mit Denkmälern und als Namensgeber durch die östlichen Teile unseres Landes. All diese kulturellen Reminiszenzen an ein diktatorisches Regime sind in etwa so absurd als würde man einen Erlebnispark Deutscher Kolonialismus aufmachen, wo man lustige Tropenhüte erwirbt, mit einer Bimmelbahn die Ostafrikanischen Zentralbahn nachspielt und alle zwei Stunden einem traditionellen Tanz der Papua zusehen kann.

Doch nicht nur die Symbole und Souvenirs sind erhalten geblieben. Auch in vielen Köpfen ist die DDR noch oder wieder ein Sehnsuchtsort. Nach der Wiedervereinigung war sie vor allem für die „Wendeverlierer“ das positive Gegenbild zur neuen Realität. Diese Menschen verhalfen der zur PDS gewandelten SED zum Überleben. Inzwischen gibt es eine neue Gruppe, für die die Vorstellung umfassender Fürsorge und echten Schutzes an Attraktivität gewinnt. Es sind die Menschen, die sich überrannt fühlen von der Globalisierung, denen gesellschaftliche Veränderungen zu schnell gehen und die das Gefühl haben, vernachlässigt zu werden.

Die Versuchung, Verantwortung abzugeben

Vernachlässigung war nun wahrhaft nicht das Problem des DDR-Regimes. Für jeden wurde ein Arbeitsplatz gefunden, für jeden die Konsummöglichkeiten bestimmt und viele hatten einen ganz persönlichen Ansprechpartner und Kümmerer im Ministerium für Staatssicherheit. Der marktwirtschaftlich organisierte und freiheitlich-demokratische Rechtsstaat bietet da wesentlich weniger Komfort und verlangt ein wesentlich höheres Maß an Selbstverantwortung. Natürlich gibt es auch in diesem System immer wieder Verlierer – zumindest im Kontrast zu den Gewinnern. Weil die DDR-Vergangenheit jedoch nie wirklich aufgearbeitet wurde und landauf, landab eher der kitschige als der kritische Blick dominiert, fällt es den Verlierern schwer zu erkennen, dass sie selbst als Verlierer im jetzigen System noch viel besser dran sind.

Ein Resultat der mangelhaften bis ungenügenden DDR-Vergangenheitsbewältigung ist der rege Zuspruch, den Kritiker und Gegner von Marktwirtschaft, freiheitlicher Demokratie und offener Gesellschaft derzeit erfahren. Bei den Wahlen in den ostdeutschen Bundesländern haben Parteien am linken und am rechten Rand in den letzten beiden Jahren zwischen 33 und 42 Prozent der Wähler hinter sich versammeln können. Diese Wähler sind nicht lauter Kommunisten und Rassisten. Es sind insbesondere auch Menschen, die sich – oft mit guten Gründen – schwertun, zu akzeptieren, dass unser gesellschaftliches und politisches System ihnen mehr Selbstverantwortung zumutet als sie zu übernehmen bereit oder vielleicht auch imstande sind.

Der Preis, den ein vermeintlich einfacheres, überschaubares und sichereres System á la DDR uns abverlangt, ist vielen zu wenig bewusst. Wer den Durchmarsch der Parteien der einfachen Antworten auf der Linken und Rechten stoppen will, muss auch bei einem besseren Geschichtsverständnis ansetzen. Darum ist es eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, noch viel deutlicher als bisher klarzumachen, dass zentrale Planungsbehörden und Einheitsprodukte, Mauern und politische Gefängnisse zu den ganz großen Tragödien unseres Landes, ja unseres Kontinents gehören. Das hatte schon vor bald zehn Jahren der bedeutende Historiker Hans-Ulrich Wehler vorausgesehen: „Eine intensive Beschäftigung mit der DDR-Vergangenheit ist dringend geboten. Die Konsequenzen dieses Staates sind doch nicht nur in Bitterfeld, sondern auch in der Gesellschaft noch über Jahrzehnte zu beobachten.“