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Verletzte Polizisten, brennende Autos und bundesweite Aufmerksamkeit. Was die Hausbesetzer in der Rigaer Straße in Berlin und ihre Mitkämpfer veranstalten, kann es eigentlich nur in einem marktwirtschaftlichen System geben. Überall sonst würde gnadenlos niedergeknüppelt.

Perfide Selbstinszenierung als „Widerstand“

Im Internet feiern sich die Hausbesetzer der Rigaer Straße 94 als „Teil des radikalen Widerstandes gegen Verdrängung und Vertreibung“. Sie sprechen von „Belagerung“ und „polizeilicher Besetzung“ (privat scheint das in Ordnung zu gehen) und drohen, „Berlin ins Chaos zu stürzen“. Jeder, der halbwegs bei Sinnen ist, findet dieses groteske Schauspiel abstoßend. Die hass- und wuterfüllte Rhetorik und die sich daraus ergebende Gewalt unterscheidet sich nur in den Parolen und Feindbildern vom gewaltbereiten Rechtsradikalismus – phänotypisch sind sie sich zum Verwechseln ähnlich.

Widerstand – das ist ein schwerwiegendes Wort, gerade in dieser Stadt. Wenn der Berliner sich eine Vorstellung davon machen möchte, was Widerstand bedeutet, kann er in die Gedenkstätte Plötzensee fahren, wo die Nationalsozialisten im Akkord Widerstandskämpfer an Fleischerhaken gehängt haben (unter anderem auch einen früheren Bewohner des besetzten Hauses: Ernst Pahnke). Oder man kann nach Hohenschönhausen fahren, wo einem ehemalige Insassen des Stasi-Gefängnisses aus erster Hand die Zelle zeigen können, in der sie Jahrelang eingesperrt waren, weil sie einen Witz über Walter Ulbricht weitererzählt hatten. Widerstand – davon können die Menschen in Russland berichten oder in den sozialistischen Vorzeigestaaten Kuba und Venezuela.

In Venezuela wäre das Haus längst geräumt

Mit Widerstand hat das Treiben der Linksextremen rund um die Rigaer Straße nichts zu tun. Widerstand kann gegen ein Unrechtsregime nötig, vielleicht sogar geboten sein. Die Zeiten, in denen die Rigaer Straße auf dem Gebiet einer Diktatur liegt, sind allerdings seit 26 Jahren zum Glück vorüber. Das sollte auch den Hausbesetzern klar sein: Gerade erst haben sie vom Landgericht Berlin Recht bekommen mit ihrer Beschwerde gegen den letzten Versuch einer Zwangsräumung. Ein solcher Vorgang wäre vollkommen undenkbar in einem Unrechtsstaat. Seit Ende der 90er Jahre widersetzen sich Bewohner des Hauses einer Räumung. Welche venezolanische Polizei, welche Stasi-Einheit oder gar welcher kubanische oder nordkoreanische Funktionär hätte wohl einem solchen Treiben über anderthalb Jahrzehnte so geduldig zugesehen?

Der freiheitlich-demokratische Rechtsstaat ist die mit Abstand langmütigste und toleranteste Staatsform, die man sich denken kann. In keinem der von vielen dieser Linksradikalen so hochgejubelten sozialistischen Staat der Welt wäre ein solcher „Widerstand“ so lange geduldet worden – heute nicht und früher erst recht nicht. Dass die Besetzer und ihre Mitstreiter weder brutal niedergeknüppelt noch wochenlang ohne Prozess eingesperrt werden, liegt daran, dass wir in unserer Gesellschaft eine Kultur friedlicher Konfliktlösungen etabliert haben – mit Demokratie, Rechtsstaat und Offener Gesellschaft. Ein ganz wichtiges Fundament dieser Kultur ist jene Marktwirtschaft, die der Hauptfeind der Hausbesetzer ist.

Marktwirtschaft, Demokratie und Rechtsstaat bedingen sich

Die Marktwirtschaft als System hat sich erst im Laufe der letzten vier- bis fünfhundert Jahre etabliert. Die Vorstellung, dass man in größerer Dimension Handel treiben könne, ohne von politischen Autoritäten dabei gesteuert oder zumindest kontrolliert zu werden, hatte es natürlich schwer, sich gegenüber diesen Autoritäten durchzusetzen. Durchgesetzt hat sie sich aber ganz offensichtlich und zum Glück dann doch. Fast immer mit Kompromissen und Zugeständnissen – doch selbst die Autokraten Chinas haben inzwischen eingesehen, dass dieses System freiwilliger Kooperation einer Planwirtschaft offenbar überlegen ist. Mit der Einführung der Marktwirtschaft geht aber mehr einher als nur ökonomische Effizienz.

Grundsätzlich sind gewalttätige Konflikte für das Funktionieren des Marktes immer schädlich – Friedfertigkeit und gewaltfreie Konfliktlösung erhöhen signifikant die Profitmöglichkeiten aller Marktteilnehmer. Schon aus praktischen Gründen ist ein demokratisches System mit der Marktwirtschaft kompatibler als mit einer Planwirtschaft, der Gewalt oft als einziges Mittel bleibt, um den Plan durchzuführen. Auch der Rechtsstaat und die Marktwirtschaft bedingen einander: Marktprozesse profitieren in hohem Maße von Rechtssicherheit. Das Interesse, das die Marktakteure an dieser Rechtssicherheit haben, ist eine Lebensgarantie für den Rechtsstaat.

Die Zivilisation des Vertrauens

Und schließlich kann die Marktwirtschaft auch zu Friedfertigkeit und Toleranz erziehen und ein Motor der Offenen Gesellschaft sein. Die Marktwirtschaft ermöglicht es uns, aus der kleinen Gruppe unserer unmittelbaren familiären Umgebung herauszukommen. Nicht mehr die gemeinsame Arbeit der kleinen Gruppe garantiert unser Überleben, sondern der Austausch mit zunächst fremden Personen. Diese Tauschprozesse aber erzeugen ein ganz neues Vertrauen: aus dem Fremden, der meine Ressourcen bedroht, wird ein Partner. Diese Zivilisation des Vertrauens steht im krassen Gegensatz zu dem Misstrauen, das zwischen den Horden vor vielen Jahrtausenden herrschte; das die Epoche des Feudalismus und der Leibeigenschaft prägte; das im Absolutismus und Nationalismus der Neuzeit präsent war; und das bis in die jüngste Vergangenheit die Länder unter kommunistischer Herrschaft heimsuchte.

Die Verachtung, die die Hausbesetzer diesem „System“ entgegenbringen, ist beschämend. Sie verdanken es einzig diesem System, dass sie Gerichte anrufen können, Brandstifter einen ordentlichen Prozess erhalten und eine freie Presse ihnen eine Bühne bietet, die eigentlich die Freiwillige Feuerwehr oder ehrenamtliche Flüchtlingshelfer verdient hätten. Was für eine Ironie: All das verdanken sie nicht zuletzt der Marktwirtschaft.

Photo: Uwe Kaufmann from flickr (CC BY 2.0)

Der Klimaschutzplan 2050 der Bundesregierung ist zwar derzeit nur ein sogenannter Hausentwurf im Bundesumweltministerium, aber dennoch sagt er viel über die Denke der Ministerialbürokratie aus. In dem 70 Seiten umfassenden Papier kommt all das zum Ausdruck, was Zentralverwaltungswirtschaft so ausmacht. Sie meinen, das sei zu hart? Nein, ganz und gar nicht. Es trifft den Nagel auf den Kopf. Gibt man nämlich im Internet „Zentralverwaltungswirtschaft“ ein, erfährt man beispielsweise auf der Seite www.wirtschaftslexikon24.com prompt: „Die Zentralverwaltungswirtschaft stellt eine Wirtschaftsordnung dar, in der von einer zentralen Stelle des Staates aufgrund eines Planes Produktion und Konsum gelenkt und gestaltet werden. Sie wird auch als zentralgeleitete Wirtschaft oder Planwirtschaft bezeichnet.“

Was in dieser neutralen Beschreibung fehlt, ist die historische Einordnung. Die Zentralverwaltungswirtschaft ist immer gescheitert – immer. Sie ist im China Maos gescheitert, in der Sowjetunion Gorbatschows, in der DDR Honeckers, in Kuba Castros und jüngst im Venezuela von Hugo Chavez. Warum sollte es im Deutschland der Bundesumweltministerin Barbara Hendricks anders sein? Dieses Scheitern liegt weniger am Willen der Maos, Gorbatschows und Hendricks. Sie glaubten und glauben an ihre Mission. Die Zentralverwaltungswirtschaft scheiterte und scheitert an ihrer Komplexität. Niemand hat dieses umfassende Wissen bis in die letzte Verästelung der Produktion und des Konsums hinein. Das Wissen und die Informationen sind subjektiv verstreut und unterliegen einem ständigen Wandel. Die Versorgung mit Brot, Fleisch oder Eiern kann deshalb nicht zentral geplant werden. Welches Brot soll beispielsweise geplant und hergestellt werden? Vollkorn-, Weiß- oder Toastbrot? Wieviel von jedem? 1000 Brote, eine Million oder 100 Millionen? Wieviel davon in München, wieviel davon in Greifswald? Wieviel am Sonntag und wieviel an den Werktagen? Auch die Versorgung mit Strom, Wärme oder Wasser kann nicht zentral geplant werden. Wer soll dieses Wissen haben? Viel zu differenziert und vielschichtig sind die Anforderungen an die Produzenten. Und viel zu differenziert und vielschichtig sind die Wünsche der Konsumenten. Der eine wohnt auf dem Land, der andere in der Stadt. Der eine wäscht jeden Tag, weil er kleine Kinder hat. Der andere bringt seine Wäsche in die Reinigung. Was für Brot, Fleisch, Eier, Strom, Wärme oder Wasser gilt, kann beim Klima nicht anders sein. Wer den CO²-Ausstoß reduzieren will, kann dies nicht zentral planen. Auch dieses Wissen hat niemand. Jeder Versuch wird daher scheitern. Dennoch bereitet das Umweltministerium die Zentralverwaltungswirtschaft 4.0 vor.
Legt man die oben genannten Kriterien an den „Klimaschutzplan 2050 der Bundesregierung“ an, dann ergibt sich eine vollständige Übereinstimmung. Die zentrale Stelle ist hier die Bundesregierung, die wiederum einen Plan bis 2030 und 2050 aufstellt, der die Produktion und den Konsum in der Energiewirtschaft, beim Bauen und Wohnen, bei der Mobilität, in der Industrie und der Land- und Forstwirtschaft lenkt und gestaltet.
Man kann dem Bundesumweltministerium nicht vorwerfen, es sei nicht konkret. Im Papier heißt es: Das Oberziel sei eine „treibhausgasneutrale Wirtschaft und Gesellschaft bis zur Mitte des Jahrhunderts“. Dies sei eine große Herausforderung – aber erreichbar, so die Autoren des Papiers. Dazu schlagen sie unter anderem vor:
• Spätestens bis zum Jahr 2030 muss auf die Neuinstallation von Heizsystemen, die auf die Verbrennung fossiler Brennstoffe beruhen, verzichtet werden. Hinweis: Ziehen Sie sich warm an!
• Das Verkehrssystem in Deutschland wird im Jahr 2050 nahezu unabhängig von Kraftstoffen mit fossilen Kohlenstoffen („dekarbonisiert“) sein. Hinweis: Planen Sie bei Reisen etwas Zeit ein, das Aufladen der Elektroauto-Batterie dauert ein wenig!
• Mit einem nationalen Radverkehrsplan und einer Fußverkehrsstrategie soll der Klimaschutzplan umgesetzt werden. Hinweis: Fahrradfahren hält jung!
• Bis 2050 sollte mindestens eine Halbierung des derzeitigen Fleischkonsums angestrebt werden. Hinweis: Sparen sie schon heute, damit sie sich morgen noch das Schnitzel leisten können!
• Mittel- und langfristig ist eine Änderung der Ernährungsgewohnheiten durch eine „deutliche Reduktion des Konsums tierischer Produkte“ anzustreben. Hinweis: Der Veggi-Day ist doch nicht tot!

Trotz der vielen gescheiterten Planwirtschaftsexperimente in der Geschichte wird immer wieder versucht, das Unmögliche möglich zu machen. An dieser Ignoranz könnte man verzweifeln. Eigentlich bräuchte es heute wieder einen Wirtschaftsminister wie Ludwig Erhard, der die Bürger wach- und aufrüttelt. In seinem wichtigsten Buch „Wohlstand für alle“ schrieb er damals: „Ich lehne das Prinzip der Planung und Lenkung dort radikal ab, wo es den einzelnen Staatsbürger von früh bis abends als Konsumenten oder Produzenten quälen soll.“ Lassen Sie sich nicht weiter quälen und wehren Sie sich. Jetzt!
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Photo: mcpdigital from pixabay (CC 0)

Im Jahr 2008 machte ein Buch Furore, das einen “echten dritten Weg” versprach zwischen Regulierungswut und Laissez-faire. Der Titel: “Nudge. Improving Decisions About Health, Wealth, and Happiness”. Diese sehr umfassende Verheißung stammt von dem Harvard-Juristen Cass Sunstein und dem in Chicago lehrenden Ökonomen Richard Thaler. Nudging sollte die Technik sein, mit der das moderne Staatswesen des 21. Jahrhunderts optimiert werden kann.

Wer möchte nicht seine Gesundheit, seinen Wohlstand und sein Glücksempfinden verbessern?

Grundlage ihrer Nudge-Theorie sind im Grunde genommen zwei Banalitäten: Erstens, wir tun nicht immer das, was wir gerne tun würden: vom regelmäßigen Schwimmen bis zu mehr Sorgfalt bei unserer individuellen Finanzplanung, vom Energiesparen bis zur gesunden Ernährung. Kurz: Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach. Zweitens, es gibt aber auch ganz gute Möglichkeiten, dieses Problem zu umgehen, nämlich, indem wir uns selbst überlisten: zum Beispiel, indem man sich morgens mit einer Freundin zum Joggen verabredet oder einfach, indem man Neujahrsvorsätze fasst. Der Trick besteht darin, dass wir die Umstände für uns so verändern, dass wir eine bestimmte Entscheidung eher treffen.

Sunstein und Thaler empfehlen nun der Politik, sich diese Phänomene menschlichen Verhaltens zunutze zu machen. Indem man einige kleine Schrauben anders setzt oder den Rahmen leicht verschiebt – so ihr Argument –, kann man große Teile der Bevölkerung dazu bewegen, sich im Blick auf Bereiche wie Gesundheit, Umwelt und Vorsorge richtig zu verhalten. Die Ziele, die mit der Methode des Nudging erreicht werden sollen, sind im Verständnis von Sunstein, Thaler und ihren Mitstreitern solche, die ohnehin breiten gesellschaftlichen Zuspruch finden und Nutzen für die Gesamtheit stiften. Wer möchte nicht seine Gesundheit, seinen Wohlstand und sein Glücksempfinden verbessern? Ist es nicht besser, Krankheitskosten zu senken, die Umwelt zu schonen und jedem eine solide Alterssicherung zu ermöglichen?

Nudging als freiheitliche Alternative zur Verbotskultur?

Diese Ziele sollen dank Nudging nun nicht mehr mit Gesetzen und Verboten erreicht werden, sondern auf Samtpfoten. Darum bezeichnen die Erfinder des Nudging ihr Konzept auch als “libertären Paternalismus”, weil es zwar versucht, Menschen zum richtigen Verhalten zu bringen, aber niemals explizit eine abweichende Entscheidung verbietet. An die Stelle des Veggie Days könnte dann zum Beispiel eine bundesweite Kantinen-Initiative treten: Brokkoli und Fenchel sind dann so zu platzieren, dass wir lieber dort zugreifen als bei Currywurst oder Tortellini alla Panna. Nudging präsentiert sich mithin als freiheitliche Alternative zur Verbotskultur.

Es gibt auf vielen Ebenen sehr gute Einwände gegen diese Art, vorgeblich gesellschaftlich gewünschte oder möglicherweise nützlichere Ergebnisse zu produzieren. Dazu gehören Fragen des Demokratie- und Rechtsstaatsverständnisses, Fragen der Transparenz und Kontrollierbarkeit sowie insbesondere auch die Frage nach menschlicher Autonomie und dem grundlegenden Verständnis von Eigenverantwortung. An dieser Stelle soll vor allem auf ein Problem eingegangen werden: Worin liegt die Gefahr dieses scheinbar harmlosen Mittels? Die Antwort lässt sich knapp zusammenfassen: Sie liegt in einem einzigen Buchstaben.

Ein Mittel, das Frau Aigner ebenso zur Verfügung stehen kann wie Herrn Ramelow

In der Theorie hört sich Nudging zunächst einmal harmlos an, sanft und vernünftig. Es ist ein gewaltfreies Modell, das scheinbar gut geeignet ist für eine Welt, in der Individualität einen immer größeren Raum einnimmt. Zwischen diesen theoretischen Überlegungen und der praktischen Umsetzung ist allerdings ein Zwischenschritt erforderlich, der sehr gefährlich sein kann. Denn es muss Menschen geben, die bestimmen, auf welchen Gebieten Nudging eingesetzt wird; die entscheiden, in welche Richtung “genudged” werden soll; die feststellen können, welche Ergebnisse richtig, also erwünscht sind. Das sind Politiker und Bürokraten. Nun ist es freilich ohnehin schon in vielen Fällen kaum möglich, eine objektiv richtige Entscheidung zu treffen. Die einen argumentieren etwa, man solle komplett auf Fleisch oder gar alle tierischen Produkte verzichten. Die anderen raten davon ab, Laktose zu konsumieren. Wieder andere schwören darauf, keinerlei Kohlenhydrate zu sich zu nehmen. Und hier geht es nur um einige diätetische Differenzen …

Über die unterschiedlichen wissenschaftlichen Ansätze hinaus birgt aber die Notwendigkeit zu entscheiden, was richtig sein soll, noch eine wesentlich größere Gefahr: Wir wissen, dass Politiker und Bürokraten keine selbstlosen, allgütigen und allwissenden Gestalten sind. Insbesondere Politiker haben in der Regel eine Agenda. Wer aber für eine bestimmte politische Richtung einsteht, wird auch eine hypothetische Objektivität gegebenenfalls sehr rasch aufgeben zugunsten einer Perspektive, die mit seinen eigenen Überzeugungen und Ansichten konform geht. Um es etwas schematisch zu illustrieren: Während ein Politiker der Grünen sich des Instruments vielleicht bedienen wird, um den Fleischkonsum zu reduzieren, könnte es einer AfD-Politikerin dabei helfen, ein traditionelles Familienbild stark zu machen. Es ist ein Mittel, das Frau Aigner ebenso zur Verfügung stehen kann wie Herrn Ramelow.

Hier kommt der Buchstabe ins Spiel. In der Theorie geht Nudging davon aus: Wir tun nicht immer das, was wir eigentlich tun wollen. Der Politiker denkt: Wir tun nicht immer das, was wir eigentlich tun sollen. Während Nudging in der Theorie dazu dient, uns dabei zu helfen, unsere tatsächlichen Präferenzen besser zu verfolgen, wird es in der politischen Praxis schnell zu einem Mittel, die Präferenzen anderer besser umzusetzen. Die Technik wird mit einer Agenda ausgestattet.

Nudging kann den Geist unserer staatlichen Ordnung bedrohen

Am Ende läuft vieles auf die grundsätzliche Frage hinaus: Wer entscheidet eigentlich, was das Richtige ist? Gewiss, es gibt immer gesellschaftliche Stimmungen, die eine relativ breite Zustimmung finden. Die Stimmung in den letzten zwei, drei Jahrzehnten etwa lässt sich unter Stichworten wie Nachhaltigkeit, Ökologie und Fitness zusammenfassen. Doch auch wenn sich ein großer Teil der Bevölkerung diese Ziele zu eigen macht, ergibt sich daraus noch nicht, dass es legitim wäre, die Ziele für alle zu setzen. Zwar argumentieren die Freunde des Nudging, dass genau das schließlich nicht geschehe. Man wolle ja nur etwas vorschlagen und ein wenig attraktiver machen. Klar ist jedoch: Eigentlich sollten sich alle Menschen ihrem Vorschlag anschließen. Insofern werden immer noch Ziele gesetzt. Es wird immer noch auf allen möglichen Gebieten unseres Lebens bestimmt, was gut und was schlecht ist. Nur die Mittel zur Durchsetzung haben sich geändert.

Nudging kann am Ende, wie auch andere Formen des Paternalismus, den Geist unserer staatlichen Ordnung bedrohen. Im Grundgesetz findet sich unmittelbar nach der Bestimmung zum Schutz der Menschenwürde die Formulierung: “Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.” Diese Bestimmung begründet unser Land als freiheitlichen Staat. Wenn politische Akteure der Ansicht sind, dass bestimmte Formen der freien Entfaltung der Persönlichkeit zu korrigieren sind, und wenn sie nach Mitteln suchen, diese Entfaltung sanft in die richtige Richtung zu lenken, dann stellen sie prinzipiell jene Autonomie infrage, die uns zu mündigen Bürgern macht.

Vor gut sechseinhalb Jahrzehnten rief Ludwig Erhard den Delegierten des 1. CDU-Bundesparteitags in Erinnerung, “dass die freie Konsumwahl zu den in den Sternen geschriebenen Grundrechten eines Volkes und jedes einzelnen Menschen gehört und dass es demgegenüber ein Verbrechen an der Würde und an der Seele des Menschen bedeutet, ihn durch staatliche Willkür zum Normalverbraucher erniedrigen zu wollen”.

Erstmals erschienen auf dem Blog der Ludwig-Erhard-Stiftung.

Photo: GLOBAL 2000/Christopher Glanzl from Flickr (CC BY-ND 2.0)

Die intellektuelle Elite der westlichen Welt ist in Schockstarre: Von Österreich bis zu den Philippinen, von den USA bis nach Sachsen-Anhalt haben Populisten plötzlich massiven Aufwind. Dieselben Eliten sind freilich nicht unschuldig daran: Wenn es ihnen passte, haben sie auch gerne das Instrument der Panikmache genutzt.

Die Skandalkultur der 70er und 80er Jahre

Populismus fällt nicht vom Himmel. Er wächst aus der Erde hervor. Und der Nährboden für dessen Gedeihen wird nicht selten von Menschen bereitet, die das gar nicht beabsichtigen. Populismus gedeiht durch undifferenzierte und mithin sehr eindimensionale Kommunikation, er nährt sich von irrationaler Angst und braucht Skandale, um groß zu werden. Eine erste Blütezeit der Skandalkultur waren die 70er und 80er Jahre. In Gang gebracht haben das ebenjene Vordenker aus dem intellektuellen Milieu, die heute entsetzt aufschreien. Die gesellschaftliche Macht der Zeit-Journalisten, Politologie-Professoren und Greenpeace-Aktivisten ist nicht zuletzt durch Skandalisierung und Panikmache entstanden. Und nun ist es wie bei Goethes Zauberlehrling: „Herr, die Not ist groß! Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los.“

Am Anfang der Skandalisierungskultur stand ein ehrenwertes Anliegen. In der unmittelbaren Nachkriegszeit wurde Vergangenheitsbewältigung nur sehr zaghaft betrieben. Wer die Auseinandersetzung mit der grauenhaften NS-Vergangenheit vorantreiben wollte, wie etwa der Staatsanwalt Fritz Bauer, musste laut werden. Oder zu etwas fraglichen Mitteln greifen wie Beate Klarsfeld mit ihrer Ohrfeige für Bundeskanzler Kiesinger. Politische Aktivisten der 70er Jahre übernahmen diese Techniken und rechtfertigten sie durch den Gebrauch des pauschalen Nazi-Etiketts. Überall sahen sie Nazis: in den Vorstandsetagen und im Bundestag, in den Kirchen und Kindergärten, in der Bundeswehr und bei den Energieversorgern. Man musste nur Faschismus drauf schreiben und schon wandelte sich jedes Hetzen, Niederbrüllen und Steinewerfen in eine Heldentat.

Zuwanderung statt Gentechnik

Ob Anti-Atomkraft- oder Friedens-Bewegung, ob Wale retten oder Gen-Gemüse verhindern: Immer gibt es einen guten Grund dafür, warum man laut sein darf, warum man Angst und Panik verbreitet, warum man es „denen da oben“ mal ordentlich zeigt. Man fühlt sich auf der richtigen Seite. Man steht in einer Tradition mit Sophie Scholl und Gandhi, Rosa Parks und Benno Ohnesorg. Auch in jüngster Zeit wird das Mittel „Skandal“ immer wieder angewandt: So etwa als Greenpeace die völlig unspektakulären „Geheim-Papiere“ zu TTIP „enthüllte“ oder mit dem jüngsten Hype um Glyphosat.

Muss man sich wundern, wenn all diese Methoden nun nicht mehr nur für die „richtigen“ Ziele wie Weltfrieden, Umweltrettung und eine gen- und atomfreie Erde eingesetzt werden? Jahrzehntelang haben linke Aktivisten vorgemacht, wie man Mücken zu Skandal-Elefanten macht und wie man Ängste nutzt, um politische Ziele durchzusetzen. Nun machen es eben rechte Aktivisten nach. Ersetze „Atom-Super-GAU“ durch „Niedergang der Kultur“, „Gentechnik“ durch „Zuwanderung“ und „Chlorhühnchen“ durch „Sexualkunde“ … Sogar die Selbststilisierung zum Helden kann man wiederfinden: Absurderweise vergleichen sich nicht selten rechte Aktivisten mit Figuren des Widerstands gegen den Nationalsozialismus.

Vereinfachen und Polemisieren wie Campact, Greenpeace und Occupy

Trump, Hofer, Le Pen, Kaczynski und Orban sind nicht nur Produkte einer absteigenden Mittelklasse, die sich als Verlierer der Globalisierung empfinden. Sie sind auch gelehrige Schüler der 68er und ihrer Epigonen. Sie vereinfachen wie Campact, sie polemisieren wie Greenpeace und sie inszenieren sich als Stimme des Volkes wie die Occupy-Bewegung. Im Unterschied zu Goethes Zauberlehrling gibt es jedoch in dieser Situation keinen Hexenmeister, der den Scherbenhaufen wieder aufräumen könnte, den die Nachwuchs-Zauberer hinterlassen. Und es wird auch nicht so schnell gehen wie in der Goethe-Ballade: Es wird gemeinsamer und langfristiger Bemühungen bedürfen, um der populistischen Versuchung Herr zu werden.

Gefragt sind bei diesen Bemühungen alle diejenigen, die sich in stärkerem Maße politisch engagieren: Politiker selbst, aber vielleicht noch viel mehr Journalisten, Mitarbeiter von NGOs und Aktivisten. Die Hauptaufgabe besteht darin, das Diskussionsklima wieder herunter zu kühlen. Wer sich Sorgen macht wegen des rechten Populismus, der muss auch auf der linken Seite abrüsten. Hört auf damit, TTIP zu dämonisieren, ungleiche Einkommensverteilung zu skandalisieren, Sorge vor zu vielen Zuwanderern als faschistoid zu bezeichnen und allenthalben Machenschaften und Geheimniskrämerei der Großkonzerne oder des Establishments zu wittern! Schon vor fast sechzig Jahren schrieb der am Mittwoch verstorbene Historiker Fritz Stern über „Kulturpessimismus als politische Gefahr“. Wenn wir nicht gegensteuern, könnte wirklich das „Zeitalter der Angst“ anbrechen, vor dem er noch im Januar warnte.

Photo: Wikimedia (CC BY-SA 3.0)

Der viel zu früh verstorbene Außenminister Guido Westerwelle hat einmal in einer Auseinandersetzung, an der ich nicht ganz unbeteiligt war, über Europa gesagt: „Europa hat seinen Preis. Aber es hat auch einen Wert.“ Damit wollte er in der Auseinandersetzung um die Griechenlandhilfen und den Mitgliederentscheid in der eigenen Partei deutlich machen, dass man das europäische Projekt nicht nur auf das Fiskalische reduzieren könne. Damals empfand ich es als etwas unfair, mir eine solche Reduzierung zu unterstellen. Dennoch ist an diesem Satz etwas dran. Er drückt aus, dass für viele, mich eingeschlossen, die europäische Einigung mehr ist als die Umverteilung von Norden nach Süden oder Subventionen für die Landwirtschaft. Sie ist tatsächlich ein Friedensprojekt. Ein Friedensprojekt, das durch Kooperation entsteht. Doch dieses Friedensprojekt ist derzeit akut in Gefahr, weil es an Ideen fehlt, wie es weitergehen soll.

Insbesondere in unserem Land kümmert man sich nicht um die weitere Entwicklung der Europäischen Union. Die deutsche Regierung ist Getriebene in der Euro-Schuldenkrise, in der Flüchtlings- und Migrationskrise, muss der Brexit-Diskussion hilflos zusehen und hat kein Konzept gegen den schleichenden Zentralisierungsprozess in der EU. Auch in den Parteien und in anderen gesellschaftlichen Gruppen findet eine Debatte nicht oder nur unzureichend statt. Das ist nicht nur bedauerlich, es ist auch gefährlich, weil ein Rückfall in die Nationalstaatlichkeit nicht die Antwort auf das Versagen der Europäischen Union in der Euro-Schuldenkrise und der Flüchtlings- und Migrationskrise sein darf.

Wie könnte die Zukunft Europas aussehen, wo könnte es hingehen? Zunächst sollte sich die Europäische Union nicht anmaßen, für ganz Europa zu sprechen. Die Mitgliedsstaaten der EU sind lediglich ein Teil Europas. Aber die Schweiz, Norwegen und andere gehören ebenfalls dazu. Sie sind auch Teil der europäischen Kultur. Gerade die Schweiz ist sogar ein Leuchtturm an Freiheit, Wohlstand und Demokratie in Europa. Zweitens: Der Binnenmarkt ist das verbindende Element der europäischen Idee. Die europäischen Grundfreiheiten, dass Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital ohne Schranken Grenzen überwinden können, ist eine unschätzbare Errungenschaft. Sie zu erhalten, muss oberste Priorität für alle EU-Mitglieder sein.

Und natürlich gibt es – drittens – auch Aufgaben, die die Europäische Union viel besser erledigen kann als ein Nationalstaat. Wenn es um den Abbau von Handelsschranken gegenüber anderen Staaten und Wirtschaftsräumen geht, dann kann dies die EU prinzipiell besser als ein kleines Land wie Österreich oder Luxemburg. Die EU müsste Grenzen für Waren und Dienstleistungen auch von außerhalb der EU öffnen, möglichst ohne Vorbedingungen. Viertens müssen die EU-Institutionen auf Konsens beruhen. Ein Konsens kann nicht durch die Mehrheit oder durch das Schaffen von Fakten erzwungen werden. Die Euro- und Migrationskrise sind dafür negative Beispiele, wo Lösungsversuche auch deshalb nicht akzeptiert werden, weil sie erzwungen wurden.

Fünftens: Nur als atmende Organisation hat die EU eine Zukunft. Nicht der Einheitsbrei ist die Antwort auf die Probleme, sondern die freiwillige vertiefte Zusammenarbeit, die Differenzierung statt der Zentralisierung, das Rückholrecht statt eines Dogmas der „ever closer union“. Sechstens: Das Wettbewerbsprinzip muss auf die Währungen, die Sozialsysteme und auch auf das Recht ausgeweitet werden. Warum kann ein griechisches Unternehmen in Athen nicht einfach das Arbeitsrecht Großbritanniens oder Deutschlands anwenden? So entstünde ein Systemwettbewerb, der den Einzelnen aus der Abhängigkeit seiner staatlichen Bürokratie und deren Unvermögen vor Ort befreien kann.

Siebtens: Die Marktwirtschaft ist die Wirtschaftsordnung in der EU. Dazu passen weder ein Juncker-Plan, noch ein EU-Finanzminister oder andere Spielarten der Planification. Achtens: In der Europäischen Union muss das Primat von Recht und Freiheit statt eines Primats der Politik gelten. Nicht der Einzelfall sollte geregelt werden. Vielmehr ist es die Aufgabe der Parlamente, allgemeine, abstrakte und für alle gleiche Regeln zu schaffen. Neuntens: Haftung und Verantwortung müssen in der Europäischen Union wieder zusammengeführt werden. Wer als Staat, Unternehmen oder Bürger über seine Verhältnisse lebt, muss selbst die Verantwortung dafür übernehmen. Wenn ein Mitgliedsstaat den Sozialstaat unverhältnismäßig ausbaut, die Verschuldung hochtreibt und alle Wachstumspfade kappt, muss dieser die Folgen selbst tragen und darf sie nicht auf andere Mitgliedsstaaten auslagern oder über die Zentalbank sozialisieren. Wer mitmacht, muss im Zweifel selbst haften. Daraus folgt zehntens: Die Europäische Union muss als Konföderation organisiert werden, statt den EU-Zentralstaat zu erzwingen.

Der Deutsch-Brite Ralf Dahrendorf sah bereits in den 1970er Jahren die Europäische Einigung auf dem falschen Weg. Er sagte damals: „Europa (er meinte die EU) muss Rechtsstaat und Demokratie (ich würde sagen: individuelle Freiheit) verkörpern, pflegen und garantieren: sonst ist es der Mühe nicht wert.“

Erstmals erschienen bei Tichys Einblick.