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Photo: Radio Bremen

Von Dr. Alexander Fink, Universität Leipzig, Senior Fellow des IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues und Fabian Kurz, Student der Volkswirtschaftslehre, ehemaliger Praktikant bei Prometheus. 

Wir sollten auf der Hut sein, die Vergangenheit zu romantisieren. Unsere Sehnsucht nach der „guten alten Zeit“ ruft Politiker auf den Plan, die Maßnahmen vorschlagen, um die verklärte Vergangenheit wiederzubeleben. Oft bewirken gerade derartige rückwärtsgewandte Vorschläge das Gegenteil.

Loriot war ein Meister darin, die subtilen Gefühle seiner Mitmenschen humoristisch aufzuarbeiten. Das Gefühl, früher sei alles besser gewesen, kann kaum prägnanter zusammengefasst werden als mit dem berühmten Satz von Opa Hoppenstedt: “Früher war mehr Lametta”. Tatsächlich hing früher mehr Lametta an unseren Weihnachtsbäumen. Dennoch neigen wir dazu, die Vergangenheit zu verklären. Frühere Probleme erscheinen im Rückblick weniger dramatisch als heutige, während Erinnerungen an die guten Momente von früher heutige Erlebnisse in den Schatten stellen. Schließlich war früher sogar der Humor besser.

Umfragen zeigen regelmäßig, dass sich Deutsche nach den “guten alten Zeiten” zurücksehnen. Besonders gut kommen dabei die 70er und 80er Jahre weg. Fast jeder Zweite findet, dass es in den 1980er Jahren besser war als heute. Auch im Hinblick auf die Zukunft scheinen die meisten Deutschen wenig optimistisch zu sein. Nur 15% erwarten in 50 Jahren bessere Lebensverhältnisse als heute. Fast die Hälfte erwartet eine Entwicklung zum Schlechteren. Diese Einschätzungen sind nur schwerlich mit messbaren Verbesserungen der Lebensqualität über die vergangenen Jahrzehnte in Einklang zu bringen.

Das Lametta der Politiker

Nicht nur Loriot hat unsere heimliche Sehnsucht nach den “guten alten Zeiten” erkannt, auch Politiker. Früher waren angeblich Renten und Jobs sicher, Autobahnen und Schulen in tadellosem Zustand, das Ausmaß der Armut geringer und die Menschen somit glücklicher. Regelmäßig schlagen Politiker Reformen vor, die wünschenswerte und scheinbar in der Vergangenheit bereits realisierte Verhältnisse wieder herbeiführen sollen. In dieses Bild passt jedoch nicht, dass Deutsche heute zufriedener sind als je zuvor seit der Wiedervereinigung.

Der SPD-Vorsitzende Martin Schulz möchte Teile von Hartz IV wieder zurücknehmen. So soll das Arbeitslosengeld wieder wie früher länger gezahlt werden. Die schmerzlich hohen Arbeitslosenzahlen der Vergangenheit scheinen in Vergessenheit geraten zu sein. Auch der derzeitige US-Präsident überzeugte mit seinem Versprechen, Amerika wieder groß zu machen, viele Wähler. Handel durch Protektionismus einzuschränken wird den Menschen jedoch kaum die erhofften Jobs zurückbringen und ihnen vor allem in der langen Frist schaden.

Länger und reicher leben

Ein Blick auf abstrakte Kennzahlen wie das Pro-Kopf-Einkommen oder die Lebenserwartung deuten anders als die Referenzen auf die „gute alte Zeit“ darauf hin, dass in der Vergangenheit gewiss nicht alles besser war, sondern vielmehr schlechter. Heute lebt in Deutschland gemessen am Einkommen pro Kopf nicht nur die reichste Generation, sondern auch die mit der höchsten Lebenserwartung. Noch nie war das durchschnittliche erwartete Lebenseinkommen höher. Das reale durchschnittliche Einkommen hat sich seit 1970 mehr als verdoppelt. Frauen, die 1970 geboren wurden, haben eine Lebenserwartung von 73,4 Jahren. Frauen, die im Jahr 2015 geboren wurden, können erwarten, im Schnitt 10 Jahre länger zu leben. Heute geborene Männer werden sogar 11 Jahre länger leben als 1970 zur Welt gekommene Allerdings werden sie noch immer früher sterben als weibliche Gleichaltrige.

Früher Luxus, heute Standard

Diese Fortschritte sind nicht nur ausgewählten Mitgliedern der Gesellschaft vorbehalten. Auch bei den relativ Ärmsten der Gesellschaft können deutliche Verbesserungen festgestellt werden. So entspricht der heutige ALG II-Satz inklusive der nicht-monetären Leistungen etwa dem durchschnittlichen Einkommen des Jahres 1972.

Häufig wird gegen diese relativ abstrakten Kennzahlen eingewandt, es handele sich nur um eine wenig aussagekräftige Betrachtung von Durchschnittswerten. Die seien nicht dazu geeignet einzuschätzen, wie sich das Leben der Menschen verändert hat, welche sich unter dem Durchschnitt wiederfinden und beispielsweise weniger als das durchschnittliche Einkommen erzielen.

Eine Möglichkeit, dieses Problem zu umgehen, bietet die Betrachtung der Veränderung der Verbreitungsgrade von Gütern. Steigt der Anteil der Haushalte, die über ein bestimmtes Gut verfügen, deutlich, handelt es sich gewiss nicht um eine Verbesserung der Lebenssituation einiger weniger Haushalte oder Personen, sondern einer breiten Gruppe der Bevölkerung.

 

Daten bezüglich der Entwicklung des Verbreitungsgrades liegen für Deutschland leider nur für einige ausgewählte Güter vor. Dennoch sind die bereitstehenden Daten aufschlussreich. Der Gebrauch vieler Güter und Dienstleistungen, die wir heute für selbstverständlich erachten, war in einigen Fällen vor wenigen Jahrzehnten — in der „guten alten Zeit“ — nicht selbstverständlich.

So waren Geschirrspülmaschinen 1973 Luxusgüter. Das Geschirr wurde in nur 6,9 % der Haushalte von einer Spülmaschine gereinigt — wohlgemerkt in Westdeutschland. Bis zum Jahr 2013 hatte sich der Anteil der Haushalte, die eine Geschirrspülmaschine benutzen, auf 67,3 % fast verzehnfacht.

Im Jahr 1973 verfügten nur 51 % der Haushalte über ein eigenes Telefon. 40 Jahre später war in 99,8 % der Haushalte ein Telefon zu finden. Während im Jahr 2013 95,1 % der Haushalte mit einem Farbfernseher ausgestattet waren, traf das 1973 auf nur 15 % zu.

Die Bedeutung von Haushaltsgeräten sollte nicht unterschätzt werden. Hans Rosling zeigt, wie sehr Hausarbeit beispielsweise durch die Waschmaschine erleichtert wird. Heutzutage verfügen über 94 % der Haushalte in Deutschland über eine eigene Waschmaschine.

Die Zahlen unterschlagen zudem, dass Farbfernseher heute einen deutlich angenehmeren Filmabend ermöglichen als vor 40 Jahren, Spülmaschinen Schmutz effektiver beseitigen und Telefone nicht mehr an einer Schnur hängen.

Umso beeindruckender ist die Entwicklung der Verbreitungsgrade bezüglich ausgewählter Güter zudem angesichts der gesunkenen Durchschnittsgröße von Haushalten. Obwohl in einzelnen Haushalten heute durchschnittlich weniger Personen leben, stiegen die Verbreitungsgrade pro Haushalt. Pro Person sind also die Verbreitungsgrade noch schneller gestiegen.

Marktwirtschaft funktioniert!

Der technische Fortschritt der vergangenen Jahrzehnte trug dazu bei, dass die Ungleichheit im Konsum zurückging. Die obigen Beispiele veranschaulichen, wie in einer marktwirtschaftlichen Ordnung Luxusgüter- und Dienstleistungen, die zunächst nur für einige erschwinglich sind, nach und nach für nahezu jedermann zugänglich werden.

Wir sollten auf der Hut sein, die Vergangenheit zu romantisieren. Unsere Sehnsucht nach der „guten alten Zeit“ ruft Politiker auf den Plan, die Maßnahmen vorschlagen, um die verklärte Vergangenheit wiederzubeleben. Oft bewirken gerade derartige rückwärtsgewandte Vorschläge das Gegenteil. Sie neigen dazu, die Triebfedern zu schwächen, die den Fortschritt ermöglichen und damit zu einem angenehmeren Leben für alle beitragen. Weder würde die von Donald Trump propagierte Abschottungspolitik nach außen Amerika wieder großartig machen, noch würden in Deutschland mit Zurücknahme der Agenda 2010 wieder sozialpolitische Paradieszustände zurückkehren. Wir sollten uns regelmäßig daran erinnern, dass zwar früher mehr Lametta war, aber bestimmt nicht alles besser.

Erstmals erschienen bei IREF.

Photo: Jean-Pierre Dalberá from Flickr (CC BY 2.0)

Friedrich August von Hayek gibt tiefe und zeitlose Anregungen, welchen Wert ein Projekt wie die Europäische Union auf der einen Seite haben kann, aber gleichzeitig auch, welche Gefahren eine solche Gemeinschaft birgt, wenn sie auf den falschen Prinzipien beruht.

In dem Aufsatz „Die wirtschaftlichen Voraussetzungen föderativer Zusammenschlüsse“ von 1939 schreibt Hayek im Kontext des aufkommenden Zweiten Weltkrieges von den Gefahren des nationalistischen Protektionismus, der schlussendlich in den Krieg zwischen den Völkern münden kann. Seine Lösung für die Zukunft ist eine ökonomische Union der europäischen Länder, welche als Hauptzweck die Sicherung des Friedens und die Förderung von Wohlstand durch einen gemeinsamen Binnenmarkt hat. Nicht nur der Optimismus Hayeks in solch dunkler Stunde, sondern auch die Übereinstimmungen zwischen seiner Vision für die europäischen Nationalstaaten und den tatsächlichen Leitlinien der Römischen Verträge sind erstaunlich. So schreibt er:

„Es wird mit Recht als einer der großen Vorteile eines Bundesstaates angesehen, dass in ihm die Hindernisse für die Bewegung von Menschen, Gütern und Kapital zwischen den Staaten wegfallen und die Schaffung gemeinsamer Gesetze eines einheitlichen Geldwesens und gemeinsame Regulierung des Verkehrs möglich wird. Die materiellen Vorteile, die die Schaffung eines so großen Wirtschaftsgebietes mit sich bringt, können kaum überschätzt werden.“

In vielerlei Hinsicht dürfte die Europäische Union, zumindest in ihren Anfängen, somit in den Augen Hayeks ein Erfolgsprojekt gewesen sein. Und auch heute sollten wir trotz aller Schwierigkeiten und gerechtfertigter Kritik an der Europäischen Union nicht die Errungenschaften der Römischen Verträge vergessen, welche weiterhin das Fundament der Europäischen Union bilden: Freier Waren- und Dienstleistungsverkehr, freier Kapitalverkehr und die Personenfreizügigkeit.

Hayek skizziert allerdings nicht nur die Vorzüge einer Europäischen Union, sondern auch die damit verbundenen Probleme. So warnt er im letzten Kapitel „Ausblick auf die internationale Ordnung“ seines 1944 erschienen Klassikers „Der Weg zur Knechtschaft“ vor den Gefahren einer länderübergreifenden Wirtschaftsunion, welche er fünf Jahre vorher noch so wohlwollend beschrieben hatte. Selbst wenn nationaler Protektionismus in einer Europäischen Union überwunden würde, so sei Planwirtschaft auf einer internationalen Ebene ein noch viel größeres Übel. „Die Probleme der bewussten Lenkung des Wirtschaftsprozesses nehmen notgedrungen ein noch größeres Ausmaß an, wenn dasselbe auf internationaler Grundlage versucht wird.“

Eine politische Union kann zudem schnell zur Gefahr für alle Freiheiten werden, denn „je geringer die Übereinstimmung in den Anschauungen ist, umso mehr wird man sich auf Gewalt und Zwang verlassen müssen.“

Es gibt eine Reihe von Trends in der Europäischen Union, die als eine solche Bedrohung der freiheitlichen Ordnung gesehen werden müssen: Die Kommission, der Rat und das Parlament mischen sich in viele Einzelfragen ein und fühlen sich dafür zuständig. Unveräußerliche Bürgerrechte werden bei der anlasslosen Vorratsdatenspeicherung beschränkt, die Dezentralität der Marktwirtschaft wird durch eine zunehmende zentrale Investitionslenkung ersetzt, der Binnenmarkt wird durch die Verschärfung der Entsenderichtlinie untergraben und die Altersvorsorge der Bürger wird durch den Geldsozialismus der EZB bedroht. Seit Jahren versucht die EU-Kommission, die Mehrwertsteuersätze zu harmonisieren und die Bemessungsgrundlage für die Unternehmensteuern anzugleichen, um dann später mit einheitlichen Steuersätzen gänzlich die Unterschiede abzuschaffen. Selbst die Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Union dienen im Zweifel oft dem Machtzuwachs der Institutionen der Europäischen Union gegenüber den Mitgliedsstaaten.

Dieser Weg, der letztlich in die Unfreiheit und Knechtschaft zu führen droht, dient einem höheren Ziel: der Vollendung des europäischen Superstaates. Es sind diese kollektivistischen Ideen, die den Gründungsmythos der europäischen Einigung gefährden und letztlich zerstören.

Will man hingegen ein Europa der Vielfalt und der Freiheit, welches Hayek wie auch den europäischen Gründervätern vorschwebte, dann braucht es einen institutionellen Ordnungsrahmen, der Recht und Freiheit gegenüber politischer Willkür schützt und sichert. Und es braucht klare Regeln, die allgemein, abstrakt und für alle gleich sind, damit sie nicht umgangen oder interpretiert werden können.

Dazu gehört auch, dass die EU Abschied vom Dogma einer „ever closer union“ nimmt und stattdessen das Prinzip der Subsidiarität wieder in den Mittelpunkt ihrer Gemeinschaft stellen muss. Es muss freiwillige vertiefte Zusammenarbeit dort geben, wo ein Konsens erzielt werden kann. Dieser Konsens muss nicht für alle Zeiten gelten, sondern Mitgliedsstaaten müssen ein Recht erhalten, Kompetenzen zurückzufordern. Die Union muss flexibel und vielfältig sein. Als monolithischer Einheitsblock würde sie sich auf das Abstellgleis der Geschichte begeben, unfähig zur Anpassung, unfähig zur Entwicklung.

Erstmals erschienen in Tichys Einblick.

Photo: Markus Reinhardt from Flickr (CC BY 2.0)

Im 17. Jahrhundert öffnete das kleine Altona in Hamburgs Norden seine Grenzen für Verfolgte aus ganz Europa. Diese durften sich nur um die Straße „Große Freiheit“ herum ansiedeln, wurden dafür aber von der örtlichen Bevölkerung akzeptiert und machten Altona reich und groß. Die neue Regierung könnte manches von diesem Vorbild lernen.

Rotlichtviertel, Beatles, durchfeierte Nächte. Wer heute den Namen „Große Freiheit“ hört, verbindet unwillkürlich Ausschweifung und Freizügigkeit mit dieser Straße im Zentrum des bekannten Hamburger Party-Viertels St. Pauli. Abzweigend von der Reeperbahn zieht die Große Freiheit mit Beatles-Platz, Dollhouse und 99-Cent Bar allnächtlich Scharen von Touristen und jungen Hamburgern an. Heute steht sie für die Freiheit zum Exzess und zur, zumindest nächtlichen, Abweichung von der Alltagsnorm. Tatsächlich ist die Große Freiheit seit ihrer Entstehung im 17. Jahrhundert ein Projekt der einer Einwanderungspolitik mit Augenmaß, die auch heute als Vorbild für das Einwanderungsland Deutschland dienen kann.

Der Aufstieg Altonas zum liberalen Vorreiter Europas

Zu Beginn des 17. Jahrhunderts war das kleine Altona („all zu nah“) ein kleines ärmliches Dorf außerhalb der Stadtmauern der reichen Handelsstadt Hamburg. Die Herren Altonas, die Grafen von Schauenburg, residierten westlich des fernen Hannover und hatten daher vordergründig nur ein Interesse: Mit ihrem Altonaer Besitz möglichst reichen Ertrag zu erwirtschaften. Um Bürger und Kaufkraft anzuziehen, erlaubten sie daher aus religiösen Gründen Verfolgten, sich in Altona niederzulassen. Diesem Ruf folgten Mennoniten, Katholiken und Juden aus ganz Europa.

Die neuen Nachbarn waren bei den alteingesessenen Altonaern jedoch nicht sonderlich beliebt. Die Altonaer fürchteten neue Konkurrenz für ihre ohnehin stets durch das nahe Hamburg gefährdeten Geschäfte. Die zur Ausübung eines Gewerbes auch in Altona notwendige Zunftmitgliedschaft blieb den Einwanderern verwehrt. Da aber arbeitslose Einwanderer keinen Ertrag erwirtschaften, nahm sich der Schauenburger Landesherr des Problems an.

Seine Lösung: Er schuf eine frühe Form der Sonderbewirtschaftungszone, indem er aus zwei bereits existierenden Straßen das neue Viertel „Freiheit“ formte. In der „Großen Freiheit“ und der „Kleinen Freiheit“ durften sich die Einwanderer von nun an niederlassen, ihre Religionen praktizieren und, gegen eine Abgabe, ihr Handwerk ausüben. Die alten Altonaer mussten nicht mehr befürchten, ein fremdes Gotteshaus oder gar wirtschaftliche Konkurrenz direkt vor die Nase gesetzt zu bekommen. Auch mag es ihrem Gerechtigkeitsempfinden entgegenkommen sein, dass die Einwanderer eine besondere Gebühr zur Ausübung ihres Handwerks zahlen mussten.

Akzeptanz mag nicht auf der Stelle in Toleranz umgeschlagen sein, doch der Grundstein war gelegt: In den folgenden Jahrhunderten entwickelte sich Altona zu einem Zentrum der europäischen Aufklärung, und erlangte als nach Kopenhagen zweitgrößte Stadt des Königreichs Dänemark auch wirtschaftlich und politisch große Bedeutung. Das Wappen, das anderes als jenes des großen Nachbarn ein geöffnetes und nicht ein geschlossenes Stadttor zeigt, sollte bis zur Eingemeindung Altonas im Jahr 1937 das Leitbild dieser weltoffenen und toleranten Stadt prägen. Noch heute findet sich auf der Großen Freiheit inmitten von Nachtclubs und Bars die katholische St. Josephs-Kirche und zeugt von den einst fünf Gotteshäusern religiöser Minderheiten, die hier Zuflucht fanden.

Schlüsselloch-Lösungen statt Abschottung

Was ist die Moral von der Geschicht? Anstatt aus Sorge vor der Reaktion der einheimischen Bevölkerung den Zuzug von Migranten pauschal zu unterbinden, wählte der Schauenburger Landesherr einen wesentlich intelligenteren Weg. Im Grunde hätten sich die Altonaer über den Zuzug neuer Kunden freuen können. Doch Vorbehalte gegenüber den anderen Glaubensrichtungen und die Angst vor ökonomischen Verlusten schürten Ablehnung und Missgunst. Deshalb begrenzte der Landesherr die Rechte der Migranten, indem er ihre Niederlassungsfreiheit einschränkte und „unzünftiges“ Gewerbe nur gegen Gebühr in einem abgegrenzten Bereich gestattete. Eine solche Vorgehensweise wird als „Schlüsselloch-Lösung“ bezeichnet. Schlüsselloch-Lösungen zielen auf eingrenzbare Probleme (in diesem Fall die mangelnde Akzeptanz der Altonaer) innerhalb eines größeren Politikfelds (hier die Einwanderungspolitik).

Auf dieser Weise schuf der Landesherr eine Lösung, von der beide Seiten profitieren konnten. Die Altonaer akzeptierten ihre neuen Nachbarn und legten damit den Grundstein für den Aufstieg der Stadt. Die Verfolgten fanden ein neues Zuhause und mussten im Gegenzug eine relativ geringfügige Benachteiligung gegenüber den Einheimischen in Kauf nehmen. Viel wichtiger war: Sie erhielten die Chance auf ein neues Leben und wirtschaftliche Betätigung an einem sicheren Ort.

Altona im 21. Jahrhundert

Es mag nicht unbedingt intuitiv erscheinen, doch wenn sich Union, FDP und Grüne am Ende auf eine Koalition einigen können, könnte es zu solchen Schlüsselloch-Lösungen im Bereich der Einwanderungspolitik kommen. Die Koalitionäre nehmen dabei unterschiedliche Rollen ein. Die Union stellt die Akzeptanzprobleme in den Vordergrund und propagiert Beschränkungen. Grüne und FDP betonen humanitäre Argumente und die ökonomischen Vorteile der Freizügigkeit. Die von der Union geforderten jährlichen Quoten könnten dabei ebenso eine Lösung sein wie die Begrenzung von Sozialleistungen für Einwanderer. Auch eine Besteuerung von Migranten beispielsweise über einen Lohnsteueraufschlag könnte erheblich zur Akzeptanz beitragen.

Aufgrund der großen Vorbehalte innerhalb der Bevölkerung bleibt eine zunehmende Personenfreizügigkeit, auch über die EU hinaus, immer eine gewisse Herausforderung. Selbst wenn die Geschichte zeigt, dass die Vorteile in der Regel überwiegen, muss der Weg dorthin immer mit Augenmaß, Klugheit und Respekt vor der Bevölkerung genommen werden – so wie damals die Grafen von Schauenburg. Gelingt es, Sorgen der Bevölkerung mit Schlüsselloch-Lösungen gezielt auszuräumen, könnte Deutschland ein erfolgreiches Einwanderungsland werden wie einst das kleine Örtchen Altona, das heute noch nicht nur für Wohlstand und Erfolg steht, sondern vor allem für das große Ziel unserer westlichen Gesellschaften: Die individuelle Freiheit, die eben für den Besucher des Dollhouse genauso gilt wie für den des katholischen Gottesdienstes.

Photo: Wikimedia Commons

Seitdem es Handel gibt, stehen Kaufleute in einem schlechten Ruf. Ihnen wird Profitgier vorgeworfen, betrügerische Absichten und Ausbeutung. Dabei ist es in erster Linie ihr Verdienst, dass wir in einer immer besseren und friedlicheren Welt leben.

Der Händler macht ein Geschäft, der Held bringt ein Opfer

Der Ökonom und Soziologe Werner Sombart (1863-1941) verfasste 1915 eine Schrift unter dem Titel „Händler und Helden – Patriotische Besinnungen“, gegliedert in drei Teile: „Englisches Händlertum“, „Deutsches Heldentum“ und „Die Sendung des Deutschen Volkes“. Hier findet sich auf nur wenigen Seiten zusammengefasst die Summe der Vorurteile, die gegenüber den Kapitalisten und „Kommerzialisten“ im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende aufgebaut wurden. Händler sind für ihn geistlose Menschen, die nur nach dem eigenen Vorteil suchen und den Weg des geringsten Widerstands einschlagen. Der Gegensatz zu dieser verkommenen Gestalt ist die Person des Helden:

„Händler und Held: sie bilden die beiden großen Gegensätze, bilden gleichsam die beiden Pole aller menschlichen Orientierung auf Erden. Der Händler, sahen wir, tritt an das Leben heran mit der Frage: was kannst du Leben mir geben; er will nehmen, will für möglichst wenig Gegenleistung möglichst viel für sich eintauschen, will mit dem Leben ein gewinnbringendes Geschäft machen; das macht: er ist arm; der Held tritt ins Leben mit der Frage: was kann ich dir Leben geben? er will schenken, will sich verschwenden, will sich opfern – ohne Gegengabe; das macht: er ist reich. Der Händler spricht nur von ‚Rechten‘, der Held nur von Pflichten, die er hat.“

Alte Vorurteile, immer wieder neu aufgebrüht

Es ist eine alte Geschichte: Schon die antiken Griechen hatten dem Gott Hermes nicht nur die Zuständigkeit für Diebe zugeschrieben, sondern auch für Händler. Oft mischen sich auch antisemitische Stereotype in die Abneigung gegenüber den „Krämerseelen“, wie etwa in Shakespeares Drama „Der Kaufmann von Venedig“ oder in etlichen Erzählungen des schwäbischen Märchenautors Wilhelm Hauff. Und heutzutage wird dieses unselige Erbe weitergetragen von Globalisierungsgegnern an den beiden Rändern des politischen Spektrums. Anständige Menschen, so der Grundtenor, findet man auf dem Acker, an der Werkbank oder in der Fabrik (oder auch auf dem Schlachtfeld, wenn man Sombart folgt). Die Schurken hingegen verleihen das Geld, das andere erwirtschaftet haben und zu dem sie auf unehrlichem Wege gekommen sind, zu überhöhten und natürlich nicht verdienten Zinsen. Sie leben von der Arbeit anderer Hände. Anstatt im Schweiße ihres Angesichts mit den eigenen Händen etwas zu fertigen, profitieren sie vom bloßen Handeln und von ihrer Hinterlist und Tücke.

Mit der Realität von Kaufleuten, Händlern und Unternehmern haben all diese Klischees sehr wenig zu tun. Das Gegenteil ist der Fall: Die Menschen, die Sombart und seine rechten und linken Gesinnungsgenossen als Helden darstellen, sind alles andere als Helden. Die Krieger und Kämpfer – für ein vermeintliches Vaterland, für soziale Gerechtigkeit, gegen den „Ausverkauf unserer Kultur“ und gegen „die da oben“ –, diese vermeintlichen Helden sind in der Regel getrieben von Angst. Sie kennen keinen anderen Weg zum Erreichen ihrer Ziele als die Gewalt. Sie sind nicht erfinderisch und nicht experimentierfreudig. Sie sind leicht manipulierbar und suchen den Applaus. Helden sind aus einem ganz anderen Stoff gemacht!

Mit Heldenmut ins Unbekannte

Die wahren Helden in der Menschheitsgeschichte sind die Händler gewesen. Denn sie haben immer wieder Barrieren überwunden und haben sich auf Abenteuer eingelassen, deren Ausgang ganz und gar ungewiss war. Ihre Stärke und Motivation kommt nicht durch Beifall und Verehrung der Gruppe, sondern kommt aus ihrem eigenen Selbstbewusstsein und ihrem Drang zur Verbesserung – statt zur Vernichtung. Die ersten Händler, so haben bedeutende Ökonomen wie Friedrich August von Hayek und Herbert Giersch es versucht zu rekonstruieren, waren Männer und Frauen, die sich aus ihrer kleinen Gruppe herausgetraut haben. Wagemutige und entdeckungsfreudige Menschen, die angefangen haben, mit Fremden in Austausch zu treten. Die die Angst überwunden haben, die der Unbekannte bei uns unwillkürlich auslöst – und die dem Impuls widerstanden haben, ihm den Schädel einzuschlagen um der vermeintlichen eigenen Sicherheit willen.

Doch nicht nur wegen ihres Mutes sind sie Helden. Sondern auch, weil dieser Mut – ob beabsichtigt oder nicht – die Ursache dafür ist, dass wir in einer gesünderen, wohlhabenderen und friedlicheren Welt leben. Erst die Bereitschaft, die anderen nicht als Gegner, sondern als mögliche Partner aufzufassen, hat dazu geführt, dass die Schrift erfunden wurde, Penicillin entdeckt wurde, Smartphones gebaut wurden und Bauern aus der bittersten Armut kommen, indem sie sich auf Kaffeeanbau oder Rinderhaltung spezialisieren. Wenn wir zu Menschen aufblicken wollen, dann sollten das nicht die Che Guevaras oder Hindenburgs sein, sondern die Frauen und Männer, die seit Jahrtausenden ihre Bastkörbe, Schrauben und Computerprogramme in die Welt getragen haben und unser aller Leben verbessert haben. Wie selbst Sombart sehr zutreffend in seinem Text feststellte: „Die theoretische Stellung des Händlers zum Kriege ergibt sich ohne weiteres aus seinen Grundansichten: sein Ideal muß der allgemeine ‚ewige‘ Friede sein.“

Photo: Wikimedia Commons

Schon vor 250 Jahren sahen sich freiheitliche Ideen mit dem Vorwurf konfrontiert, den Egoismus zu befördern und unsolidarisch zu sein. Gerade Adam Smith wurde oft zum Kronzeugen dieses Zerrbilds gemacht. Dabei eignet er sich dafür wahrhaft nicht.

Die Schotten: optimistisch und pragmatisch

Wann der „Vater der Wirtschaftswissenschaften“ genau geboren wurde, lässt sich nicht mehr feststellen. Doch heute vor 194 Jahren ließ ihn seine Mutter, die zwei Monate zuvor ihren Ehemann verloren hatte, im schottischen Kirkcaldy taufen. Smith wurde in eine Welt hinein geboren, die sich im raschen Umbruch befand, gewissermaßen die erste Globalisierung der Neuzeit. Technische Neuerungen und der steigende Welthandel, Verstädterung und verhältnismäßige friedliche Zeiten führten zu einem Wohlstandsboom in Europa. Mit am stärksten profitierte davon Großbritannien mit seiner zunehmenden Zahl an Handelsniederlassungen und Kolonien. Mit der „Glorious Revolution“ von 1688 war dort auch eine politische Stabilität verankert, die damals ihresgleichen suchte.

In dieser Zeit, die nicht mehr nur den Mächtigen und Reichen Hoffnung schenkte, sondern jedermann, entwickelte sich auch die Idee der Aufklärung, deren vornehmste, wenn auch nicht bekannteste Variante sich in Schottland finden ließ. Der kulturelle Kontext, in dem Smith und seine Mitstreiter ihre Ideen formulierten, war eine aufstrebende Gesellschaft. Schottland begann gerade aufzuholen und blickte mit Abenteuerlust und Zuversicht in die Zukunft. Zugleich standen die Menschen im Land noch mit beiden Beinen auf dem Boden und hatten einen Sinn für das Praktische. Den Satz „alles Leben ist Problemlösen“, den der Philosoph Karl Popper einmal formulierte, hätten die Schotten des 18. Jahrhunderts wohl sofort unterschrieben.

Der Erzkapitalist als Moralapostel

Es ist also nicht sehr verwunderlich, dass Adam Smith „Eine Untersuchung über das Wesen und die Ursachen des Wohlstands der Nationen“ verfasste. Wie war es dazu gekommen, dass sich die Situation für ihn so sehr verbessert hatte im Vergleich zu seinen Eltern oder Großeltern? Wie konnte man diese Entwicklung aufrechterhalten und befördern? Mit der Beantwortung dieser Fragen legte Smith den Grundstein für die Wirtschaftswissenschaften von heute: Er beschrieb das Phänomen der Arbeitsteilung. Er legte dar, wie Tausch- und Kaufgeschäfte beiden Seiten nutzen. Er warnte vor der Gefahr von Protektionismus, zu viel Regulierung und zu hohen Steuern. Und er begründete, warum ein Staat sich auf seine Kernaufgaben beschränken sollte, wenn er der Wohlstandsmehrung nicht im Weg stehen will.

Meistens wird Smith auf dieses eine Werk beschränkt – gerne auch in der verkürzten Version des Titels „Der Wohlstand der Nationen“. Das wirkt dann in der Tat ein bisschen wie das neueste Buch von Carsten Maschmeyer. Berühmt wurde Smith aber gar nicht mit diesem Buch, sondern mit seinem ersten großen Hauptwerk „Die Theorie der ethischen Gefühle“. Wie sein Lehrer Frances Hutcheson war Smith Philosoph geworden und hatte ausgiebig danach gefragt, was der Ursprung unseres moralischen Verhaltens ist. Hutcheson ging von einem moralischen Sinn in uns aus, einer Art Gewissen. David Hume führte es darauf zurück, dass es uns nutzt, wenn wir uns moralisch verhalten. Smith wählte eine dritte Erklärung, die er in seinem Buch ausführlich darlegt: Für ihn lag der Ursprung in unserer Fähigkeit und Neigung zur Sympathie.

Der Mensch ist wie ein Wolf – ein Rudelwesen!

Eine ganz zentrale Rolle spielte bei Smith wie auch bei dem nur wenige Tage nach ihm geborenen Philosophen Adam Ferguson die Vorstellung, dass wir Menschen soziale Wesen sind. Dass wir also auf Gemeinschaft und insbesondere Kooperation ausgelegt sind. Die von ihm beschriebenen Phänomene wie Arbeitsteilung und Tausch sind Ausdruck dieser urmenschlichen Neigung, Probleme gemeinsam zu lösen. Wir achten auf unsere Mitmenschen, wir reagieren auf ihre Gefühle wie auch auf die Dinge, die ihnen passieren. Wir freuen uns und leiden mit ihnen, wir teilen ihre Sorgen und ihre Hoffnungen. Smith schrieb einst, dass der Bäcker sein Brot nicht produziert, weil er den Kunden so gern hat. Doch diese Beschreibung des Eigeninteresses ist eben nur die eine Hälfte seiner Theorie über menschliches Verhalten. Die andere lautet, dass derselbe Bäcker auf die Probleme seiner Kunden nicht nur deshalb mit Mitgefühl reagiert, weil er befürchtet, einen Geschäftspartner zu verlieren, sondern weil er ein genuines Interesse an ihnen als Personen hat.

Die realistische und zugleich optimistische Perspektive macht die schottische Aufklärung so besonders. Dagegen neigte die französische Aufklärung immer wieder dazu, in grenzenlosem Optimismus den Menschen zu überschätzen, während viele konservative Denker ihr mangelndes Vertrauen in die Fähigkeiten des Menschen gerne als Realismus ausgegeben haben. Die Schotten wussten um die Grenzen des Menschen, aber sie blickten voller Zuversicht auf seine Entwicklungsfähigkeit. Seit den Tagen Adam Smiths und seiner Freunde ist klar: die freiheitliche Einstellung, der Liberalismus, ist diejenige Weltanschauung, die das positivste Bild vom Menschen hat. Sie glauben an das Gute im Menschen und an seine Fähigkeit, die Welt für sich und andere immer besser zu machen.

Das letzte Wort sei dem Jubilar überlassen, der zu Beginn seiner „Theorie der ethischen Gefühle“ so treffend fomulierte:

Wie liebenswert erscheint derjenige, dessen mitfühlendes Herz gleichsam widerhallt von all den Empfindungen jener Personen, mit denen er verkehrt, der bekümmert ist über ihre Bedrängnisse, der die ihnen zugefügten Kränkungen selbst übelnimmt, und der Freude empfindet über ihr Glück. … Und so kommt es, dass, viel für andere und wenig für uns selbst zu fühlen, unseren egoistischen Neigungen im Zaune zu halten und unseren wohlwollenden die Zügel schießen zu lassen, die Vollkommenheit der menschlichen Natur ausmacht, und allein in der Menschheit jene Harmonie der Empfindungen und Affekte hervorbringen kann, in der ihre ganze Würde und Schicklichkeit gelegen ist.