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Photo: Jean-Pierre Dalberá from Flickr (CC BY 2.0)

Friedrich August von Hayek gibt tiefe und zeitlose Anregungen, welchen Wert ein Projekt wie die Europäische Union auf der einen Seite haben kann, aber gleichzeitig auch, welche Gefahren eine solche Gemeinschaft birgt, wenn sie auf den falschen Prinzipien beruht.

In dem Aufsatz „Die wirtschaftlichen Voraussetzungen föderativer Zusammenschlüsse“ von 1939 schreibt Hayek im Kontext des aufkommenden Zweiten Weltkrieges von den Gefahren des nationalistischen Protektionismus, der schlussendlich in den Krieg zwischen den Völkern münden kann. Seine Lösung für die Zukunft ist eine ökonomische Union der europäischen Länder, welche als Hauptzweck die Sicherung des Friedens und die Förderung von Wohlstand durch einen gemeinsamen Binnenmarkt hat. Nicht nur der Optimismus Hayeks in solch dunkler Stunde, sondern auch die Übereinstimmungen zwischen seiner Vision für die europäischen Nationalstaaten und den tatsächlichen Leitlinien der Römischen Verträge sind erstaunlich. So schreibt er:

„Es wird mit Recht als einer der großen Vorteile eines Bundesstaates angesehen, dass in ihm die Hindernisse für die Bewegung von Menschen, Gütern und Kapital zwischen den Staaten wegfallen und die Schaffung gemeinsamer Gesetze eines einheitlichen Geldwesens und gemeinsame Regulierung des Verkehrs möglich wird. Die materiellen Vorteile, die die Schaffung eines so großen Wirtschaftsgebietes mit sich bringt, können kaum überschätzt werden.“

In vielerlei Hinsicht dürfte die Europäische Union, zumindest in ihren Anfängen, somit in den Augen Hayeks ein Erfolgsprojekt gewesen sein. Und auch heute sollten wir trotz aller Schwierigkeiten und gerechtfertigter Kritik an der Europäischen Union nicht die Errungenschaften der Römischen Verträge vergessen, welche weiterhin das Fundament der Europäischen Union bilden: Freier Waren- und Dienstleistungsverkehr, freier Kapitalverkehr und die Personenfreizügigkeit.

Hayek skizziert allerdings nicht nur die Vorzüge einer Europäischen Union, sondern auch die damit verbundenen Probleme. So warnt er im letzten Kapitel „Ausblick auf die internationale Ordnung“ seines 1944 erschienen Klassikers „Der Weg zur Knechtschaft“ vor den Gefahren einer länderübergreifenden Wirtschaftsunion, welche er fünf Jahre vorher noch so wohlwollend beschrieben hatte. Selbst wenn nationaler Protektionismus in einer Europäischen Union überwunden würde, so sei Planwirtschaft auf einer internationalen Ebene ein noch viel größeres Übel. „Die Probleme der bewussten Lenkung des Wirtschaftsprozesses nehmen notgedrungen ein noch größeres Ausmaß an, wenn dasselbe auf internationaler Grundlage versucht wird.“

Eine politische Union kann zudem schnell zur Gefahr für alle Freiheiten werden, denn „je geringer die Übereinstimmung in den Anschauungen ist, umso mehr wird man sich auf Gewalt und Zwang verlassen müssen.“

Es gibt eine Reihe von Trends in der Europäischen Union, die als eine solche Bedrohung der freiheitlichen Ordnung gesehen werden müssen: Die Kommission, der Rat und das Parlament mischen sich in viele Einzelfragen ein und fühlen sich dafür zuständig. Unveräußerliche Bürgerrechte werden bei der anlasslosen Vorratsdatenspeicherung beschränkt, die Dezentralität der Marktwirtschaft wird durch eine zunehmende zentrale Investitionslenkung ersetzt, der Binnenmarkt wird durch die Verschärfung der Entsenderichtlinie untergraben und die Altersvorsorge der Bürger wird durch den Geldsozialismus der EZB bedroht. Seit Jahren versucht die EU-Kommission, die Mehrwertsteuersätze zu harmonisieren und die Bemessungsgrundlage für die Unternehmensteuern anzugleichen, um dann später mit einheitlichen Steuersätzen gänzlich die Unterschiede abzuschaffen. Selbst die Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Union dienen im Zweifel oft dem Machtzuwachs der Institutionen der Europäischen Union gegenüber den Mitgliedsstaaten.

Dieser Weg, der letztlich in die Unfreiheit und Knechtschaft zu führen droht, dient einem höheren Ziel: der Vollendung des europäischen Superstaates. Es sind diese kollektivistischen Ideen, die den Gründungsmythos der europäischen Einigung gefährden und letztlich zerstören.

Will man hingegen ein Europa der Vielfalt und der Freiheit, welches Hayek wie auch den europäischen Gründervätern vorschwebte, dann braucht es einen institutionellen Ordnungsrahmen, der Recht und Freiheit gegenüber politischer Willkür schützt und sichert. Und es braucht klare Regeln, die allgemein, abstrakt und für alle gleich sind, damit sie nicht umgangen oder interpretiert werden können.

Dazu gehört auch, dass die EU Abschied vom Dogma einer „ever closer union“ nimmt und stattdessen das Prinzip der Subsidiarität wieder in den Mittelpunkt ihrer Gemeinschaft stellen muss. Es muss freiwillige vertiefte Zusammenarbeit dort geben, wo ein Konsens erzielt werden kann. Dieser Konsens muss nicht für alle Zeiten gelten, sondern Mitgliedsstaaten müssen ein Recht erhalten, Kompetenzen zurückzufordern. Die Union muss flexibel und vielfältig sein. Als monolithischer Einheitsblock würde sie sich auf das Abstellgleis der Geschichte begeben, unfähig zur Anpassung, unfähig zur Entwicklung.

Erstmals erschienen in Tichys Einblick.

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Von  Prof. Dr. Stefan Kooths, Leiter des Prognosezentrums im Institut für Weltwirtschaft an der Universität Kiel und Professor für Volkswirtschaftslehre an der Business and Information Technology School (BiTS) in Berlin.

Wenn Umfragen zutage fördern, dass sich die große Mehrheit der Befragten für überdurchschnittlich gute Autofahrer hält, sorgt das allenfalls für allgemeine Erheiterung. Offenkundig trifft hier die individuelle Selbstüberschätzung als Massenphänomen auf die faktische Unmöglichkeit des Einzelnen, sich ein gehaltvolles Urteil über eine unüberschaubare Grundgesamtheit zu bilden. Und die Gesetze der Statistik legen diese Diskrepanz schonungslos bloß: der Durchschnitt kann eben nicht überdurchschnittlich gut Auto fahren. Derartige Umfragen nimmt daher zu Recht niemand ernst. Fragt man indes nach den wirtschaftlichen Verhältnissen im Land, sind zwar die Ergebnisse ähnlich widersprüchlich, die politische Reaktion darauf ist jedoch eine ganz andere. So zeigt sich in den Haushaltsbefragungen für Deutschland, dass die persönliche wirtschaftliche Lage (bis hin zur allgemeinen Lebenszufriedenheit) ganz überwiegend günstig eingeschätzt wird, während das Urteil derselben Befragten über die Lage der breiten Masse der Bevölkerung dahinter zurückfällt. Statt sich auch hier auf die Logik der Statistik zu besinnen, nimmt man die Umfrageergebnisse im öffentlichen Diskurs regelmäßig zum Anlass, angeblich wachsende soziale Schieflagen anzuprangern. Und dies, obwohl im Gegensatz zur Selbstauskunft über die eigenen Fahrkünste kaum davon auszugehen ist, dass die Befragten ihre individuelle wirtschaftliche Situation systematisch überschätzen. Damit bleibt für die Diskrepanz in den Ergebnissen die mangelhafte Einschätzung der Grundgesamtheit. Ein adäquater Befund über die Gesamtlage in einem Land ist angesichts des überaus komplexen sozialen Gefüges bereits für die wissenschaftliche Analyse extrem schwierig. Für die repräsentativ Befragten dürfte es in praktisch allen Fällen unmöglich sein. Das spricht dafür, dass sich in den Umfrageergebnissen letztlich nur ein politisches Narrativ reproduziert („zunehmende soziale Ungerechtigkeit“), das seit Jahren das Bild einer düsteren Entwicklung der Einkommensentwicklung der breiten Masse der Bevölkerung postuliert. Meist sind dann Forderungen nach zusätzlichen Umverteilungselementen nicht weit.

Unabhängig vom selbstreferentiellen Charakter der Debatte, der an sich schon problematisch ist, sind auch die meist mit dem Nimbus der Wissenschaftlichkeit dargebotenen Ergebnisse zur sozialen Entwicklung hochproblematisch. Den Dreh- und Angelpunkt bilden hierbei die Indikatoren zur Messung der Verteilung von Einkommen und Vermögen, mit den jeweiligen Gini-Koeffizienten als Speerspitze (mit Werten zwischen Null für die Gleichverteilung und Eins für die maximale Ungleichheit). Das reine Zahlenwerk der empirischen Forschung mag weitgehend stimmig sein (auch wenn die Erhebung oft erhebliche Schwierigkeiten bereitet), problematisch ist aber die Interpretation der Werte. Und hierbei begibt sich mancher schnell auf sehr dünnes Eis, das öfter einbricht als dass es trägt, wenn man aus dem Befund zunehmender Ungleichheit auf Fehlentwicklungen schließt. Insbesondere wird viel zu leichtfertig von Ungleichheitsmaßen auf eine angeblich grassierende „soziale Ungerechtigkeit“ geschlossen, eine sinnfreie Vokabel, die seriöse Sozialwissenschaftler besser meiden sollten.

Gründe für den Anstieg der Einkommensungleichheit

Abgesehen davon, dass etwa der Gini-Koeffizient zur Einkommensverteilung in Deutschland seit über zehn Jahren nahezu konstant und auch international unauffällig ist, folgt aus einem Anstieg der Einkommensungleichheit zunächst wenig. Da es für diese Größe keinen Optimalwert gibt, lässt sich auch nicht sagen, ob man sich bei einem Anstieg zu einem Optimum hin- oder von diesem wegbewegt. Das liegt letztlich daran, dass die Einkommensverteilung das Ergebnis eines komplexen sozialen Prozesses ist, dessen vielschichtige Aspekte sich nicht in einer Zahl verdichten lassen. So spiegelt sich in der Einkommensungleichheit nicht zuletzt auch eine geänderte Haushaltsstruktur wider – das Leben als Single oder Alleinerziehender ist nun mal pro Kopf gerechnet teurer als der Konsum im Familienverband (88 Prozent des für Deutschland ausgewiesenen Anstiegs der Einkommensungleichheit in den Jahren 1985 bis 2005 geht auf diesen Effekt zurück). Diese individuellen Entscheidungen hat der Staat nicht zu bewerten, er ist aber auch nicht dazu da, alle ökonomischen Konsequenzen geänderter individueller Lebensstile auf die Allgemeinheit abzuwälzen. Dies wäre jedenfalls nicht per se „gerechter“. Letztlich hat überhaupt erst der allgemeine Wohlstandszuwachs – neben dem Gesinnungswandel in weiten Bevölkerungsschichten – dazu beigetragen, dass derartige Lebensentwürfe möglich wurden und sich speziell Frauen aus der ökonomischen Abhängigkeit ihrer Männer befreien konnten. Dies dürften wohl nur die wenigsten als sozialen Rückschritt einstufen. Auch die höhere Bildungsbeteiligung von Frauen erhöht tendenziell die Einkommensungleichheit im Haushaltsquerschnitt, weil die tertiären Bildungseinrichtungen und die Arbeitsstätten zugleich wichtige Partnerbörsen darstellen. Wenn zwei berufstätige Akademiker einen gemeinsamen Haushalt bilden, konzentrieren sich zwei Besserverdiener und die gemessene Verteilung wird ungleicher. Zu Zeiten, als akademische Weihen und hohe Berufsqualifikationen noch weitgehend den Männern vorbehalten waren, hat sich über den Heiratsmarkt die Einkommensungleichheit dagegen auf Haushaltsebene abgeflacht. Ähnliches gilt für die soziale Akzeptanz von schwulen und lesbischen Partnerschaften, die für sich genommen ebenfalls die Einkommensungleichheit erhöht. Diese wenigen Beispiele machen deutlich, dass ein steigender Gini-Wert kaum zur Skandalisierung taugt.

Auch macht es einen Unterschied, ob der Anteil von Niedriglohnbeziehern steigt, weil Menschen weniger verdienen als früher oder ob mehr Menschen zu niedrigen Löhnen beschäftigt werden, die zuvor arbeitslos waren. Letzteres ist für Deutschland maßgeblich, die Quote selbst schweigt aber zu diesen Ursachen. Grotesk wird es, wenn aus dem jüngsten Anstieg der Armutsgefährdungsquote auf eine sich verschärfende soziale Schieflage geschlossen wird. In dieser Quote spiegelt sich derzeit der Zuzug von Flüchtlingen wider, die aus verschiedenen Gründen zunächst am unteren Ende der Einkommensskala rangieren. Soziale Kälte sieht anders aus.

Die vermeintlichen Bösewichte: Kapitalismus und Globalisierung

Zu jeder guten Gruselgeschichte gehören die Bösewichte. Im Falle der Erzählung von der zunehmenden sozialen Unwucht übernehmen der „ungezügelte Kapitalismus“ und die „deregulierte Globalisierung“ diese Rolle, die regelmäßig als Triebkräfte hinter den Fehlentwicklungen verdächtigt werden.

Die Kapitalismuskritik macht sich vor allem an der Vermögensungleichverteilung fest. Auch hier versperrt der Blick auf das Symptom tieferliegende Erkenntnisse. Vermögenspositionen sind in einem kapitalistischen System nicht funktionslos, sondern spielen eine wichtige Rolle für die Kapitalallokation. Weil die Zukunft per se unsicher ist, kann es auch keine sicheren Anlageformen geben. Um ein (wie auch immer) erlangtes Vermögen bewahren zu können, muss es der Eigentümer in einem freien Marktsystem immer wieder dem Risiko aussetzen. Setzt er auf das richtige Pferd (rentable Investitionen), so kann er sein Vermögen wahren und mehren. Damit erfüllt er zugleich eine sozial nützliche Aufgabe, weil von der rentablen Anlage des knappen Kapitals auch die Arbeitskräfte profitieren, deren Produktivität durch eine höhere marktgerechte Kapitalausstattung steigt, was höhere Löhne zur Folge hat. Setzt der Investor auf das falsche Pferd (erweist er sich also als Ressourcenverschwender), so büßt er in Form von Verlusten die Verfügungsgewalt über knappes Kapital ein. Korrigiert er seine Entscheidungen nicht, wird er in Form der Insolvenz ganz aus dem Spiel genommen und entscheidet künftig nicht mehr über die Verwendung knapper Ressourcen. Auf diese Weise erfüllt ein freier Kapitalmarkt eine wichtige soziale Koordinationsfunktion. Dieser Mechanismus setzt privates Eigentum und – damit einhergehend – das Haftungsprinzip voraus. Letzteres wird in antikapitalistischer Weise immer dann verletzt, wenn der Staat (oder seine Zentralbank) private Verluste sozialisiert, wie es in großem Stil während der jüngsten Finanzkrisen geschah. Die Vermögensverteilung wäre heute weniger ungleich, wenn die Fehlinvestitionen im Boom vor der Krise voll auf die Vermögenspositionen der Investoren hätten durchschlagen können (die untere Hälfte der Haushalte auf der Vermögensskala hätte mangels Geldvermögen auch nichts zu verlieren gehabt). Auch die Staatsverschuldung ist in dieser Hinsicht problematisch, weil sie den Vermögenden ein Ruhekissen bietet, das sie ihrer sozialen Funktion als Kapitalist entbindet. Das Risiko dieses vermeintlich sicheren Anlagevehikels wird stattdessen auf alle Steuerzahler abgewälzt, insbesondere wenn man – wie im Euroraum – staatliche Wertpapiere explizit als risikofrei deklariert und lieber Vertragsbrüche hinnimmt als Staatspleiten. An der staatlichen Protektion von Vermögenspositionen kann daher mit guten Argumenten viel kritisiert werden. Es ist indes nicht der ungezügelte, sondern der durch den Staat gehemmte Kapitalismus, der hier zu gravierenden Fehlentwicklungen führt.

Ähnlich wie der Kapitalismus steht auch die Globalisierung zu Unrecht am Pranger. Sieht man genauer hin, ist es schwierig, die Verlierer der immer engeren weltwirtschaftlichen Verflechtung zu identifizieren. Zwar wirken sich auf der Einkommensseite globalisierungsbedingte Produktionsverlagerungen typischerweise nachteilig auf die geringer Qualifizierten Arbeitskräfte in den Industrieländern aus, die dort im Sektor der handelbaren Güter beschäftigt sind. Dies ist aber nur ein Aspekt, der nicht isoliert betrachtet werden darf. Zum einen geht ein ganz überwiegender Teil des Strukturwandels – und mit ihm die Veränderung der Arbeitswelt – auf den technischen Fortschritt zurück. Dies gilt umso mehr, je größer das betrachtete Land ist. Neue Zollmauern würden daher allenfalls einen sehr kleinen Teil einfacher Tätigkeiten in die Industrieländer zurückbringen, der überwiegende Teil würde stattdessen von neuen Maschinen übernommen, sofern die Beschäftigten nicht bereit sind, zu den Löhnen zu arbeiten, die derzeit in den Schwellenländern bezahlt werden. Dies sind sie offenbar nicht, weil es in den entwickelten Volkswirtschaften für sie bessere Alternativen gibt. Zum anderen darf man bei der Analyse nicht bei den Einkommenseffekten stehen bleiben, sondern muss die Konsumseite und damit die Kaufkrafteffekte in den Blick nehmen. Hierbei zeigt sich, dass die unteren Einkommensgruppen als Konsumenten überproportional vom freien Welthandel profitieren, weil der Anteil handelbarer Güter in ihrem Einkaufskorb größer ausfällt als bei höheren Einkommensgruppen. Millionäre lassen sich heute wie vor zweihundert Jahren ihre Kleidung vom ortsansässigen Schneider auf den Leib schneidern, während einkommensschwächere Haushalte von günstigen Textilimporten profitieren. Auch wäre wohl ein Handy „made in Germany“ auch heute noch ein Luxusprodukt für die oberen Zehntausend. Darüber hinaus schafft der unbestrittene Nettowohlstandsgewinn aus der Globalisierung auch Raum für Transfers an einkommensschwächere Haushalte, den es sonst nicht gäbe. Die Lebensbedingungen der vermeintlichen Globalisierungsverlierer, die sich bei Werksschließungen medienwirksam vorführen lassen, sähen ohne eine integrierte Weltwirtschaft daher keinesfalls zwingend besser aus. Hinzu kommt, dass Globalisierungseffekte – wie der Strukturwandel insgesamt – nicht über Nacht auf die Menschen hereinbrechen, sondern sich nach und nach vollziehen. Erst wenn man diese Effekte eine Zeitlang durch politische Maßnahmen aufstaut, diese marktwidrigen Eingriffe dann aber später wegen Unfinanzierbarkeit wie eine Staumauer bersten, verschärft man die sozialen Probleme, weil den Betroffenen dann tatsächlich zu wenig Anpassungszeit bleibt. Disruptive Veränderungen rühren viel öfter von fehlerhaften staatlichen Eingriffen als vom freien ökonomischen Entwicklungsprozess her.

Die Konsumseite stellt auch ein anderes weitverbreitetes Narrativ in Frage, wonach bestimmte Einkommensgruppen in den Industrieländern seit Jahrzehnten keinen Wohlstandszuwachs mehr realisieren können. Diesem Befund liegen Realeinkommensberechnungen zugrunde, bei denen das nominelle Einkommen mit einem Preisindex kaufkraftbereinigt wird. Nun sind aber Preisindices gerade für Langzeitvergleiche besonders ungeeignet, weil sie Qualitätsverbesserungen nur sehr unzureichend erfassen können. Macht man sich die Konsummöglichkeiten klar, die sich heute einem Durchschnittshaushalt bieten, und vergleicht man diese mit denen der Vorgängergeneration, machen sich schnell Zweifel an den Ergebnissen breit. Es wäre lohnend, dies einmal systematisch zu untersuchen, indem man Haushalte unterschiedlicher Einkommensgruppen fragt, ob sie bereit wären, mit dem Konsumniveau ihrer Vorgänger vor zehn, zwanzig oder dreißig Jahren zu tauschen. Sind sie es nicht, haben sich offenbar die Konsummöglichkeiten verbessert. Hinzu kommen verbesserte Arbeitsbedingungen und eine höhere Lebenserwartung. Auch hier zeigt sich, dass man die Komplexität der Lebensbedingungen im sozialen Gefüge niemals auf eine Zahl verengen kann.

Die Erfolgsgeschichte von Kapitalismus und Globalisierung

Die Kombination aus Kapitalismus und Globalisierung hat in den letzten Jahrzehnten zu einer Wohlstandsexplosion in der Welt geführt. Die globale Massenproduktion kommt breiten Konsumentenmassen zugute. Niemals zuvor war der Anteil der Menschen, die in absoluter Armut leben, so gering wie heute – auch ihre absolute Zahl geht seit Jahrzehnten in großen Schritten zurück. Global betrachtet nimmt die Einkommensungleichheit dramatisch ab. Die Arbeitsbedingungen verbessern sich seit Jahrzehnten praktisch in allen Ländern der Welt. Die weltwirtschaftliche Integration führt zudem zu einer verstärkten Interessenharmonie und trägt damit auch zu einer Befriedung in der Welt bei. Aller schlimmen Nachrichten zum Trotz sterben heute bedeutend weniger Menschen in kriegerischen Konflikten als in früheren Epochen.

Diese Erfolgsgeschichte offener Märkte und globaler ökonomischer Kooperation trifft in den Industrieländern indes vermehrt auf Widerstand. Dabei finden sich nicht zufällig Sozialingenieure und Kapitalismusgegner mit Neoprotektionisten wie Donald Trump im selben Lager wieder. Was sie verbindet, ist ihr Unverständnis für die Funktionsbedingungen offener Gesellschaften. Sie übertragen Verhaltensweisen, die das Zusammenleben von Menschen in Kleingruppen stabilisieren (und die als Ur-Instinkte in der jahrtausendelangen Sozialisation der Menschen in Stammesgesellschaften wurzeln), auf die anonyme Großgesellschaft. Solidarität und Hierarchie, aber auch Abgrenzung bis hin zur Aggression gegenüber Fremden, ist der Kitt, der die für den Einzelnen überschaubare Gruppen zusammenhält. Eine offene Gesellschaft braucht hingegen Institutionen wie Eigentum, Tausch und Wettbewerb, insbesondere die freie Wahl des Tauschpartners. Dies ermöglicht eine soziale Komplexität und mit ihr eine ökonomische Leistungsfähigkeit, die niemals in einem hierarchischen Entwurf gelingen könnten und die in ihrer Evolution ergebnisoffen sind. Gerechtigkeit kann in der offenen Gesellschaft nur in der Gültigkeit abstrakter Regeln bestehen, nicht aber in normierten Quoten, Verteilungsmaßen oder anderen ergebnisorientierten Kennzahlen. Die darin liegende Unkontrollierbarkeit kann aber auch Ängste schüren, die sich Protektionisten nach innen wie nach außen immer wieder zunutze machen. Das Vehikel dazu ist der interventionistische Nationalstaat, der – an atavistische Instinkte appellierend – das soziale Gefüge im Inneren ordnet und sich nach außen abschottet. Auf diese Weise wird es dann wieder politisch belangvoll, ob zwischen zwei Tauschpartnern eine Landesgrenze verläuft. Märkte sind einst an den Stammesgrenzen entstanden („market“ kommt von „mark“), indem Menschen entdeckten, dass sich im Tausch mit Fremden auf Dauer mehr erreichen lässt als mit Raub. Das marktwirtschaftliche System ist daher von jeher auf Grenzüberwindung angelegt. Binnen- wie außenwirtschaftlicher Protektionismus läuft immer darauf hinaus, den freien Tausch einzuschränken, indem Märkte abgeschottet werden. Je öfter dies geschieht, desto mehr erstarrt die Gesellschaft und desto mehr Vorteile der einzelwirtschaftlichen Kooperation bleiben unentdeckt. Dies geht typischerweise zu Lasten der ökonomisch Schwächeren, die den desaströsen Folgen des Interventionismus besonders wenig gewachsen sind. Zudem sind es nicht selten die Stärkeren (und politisch Einflussreicheren), die unter dem Mantel der Solidarität und des „nationalen Zusammenhalts“ ihre Partikularinteressen schützen, etwa wenn ausländische Anbieter mit dem Hinweis auf nicht erfüllte „soziale Mindeststandards“ ausgesperrt werden. Diese Standards muss man sich leisten können, und dafür braucht es wirtschaftliches Wachstum. Marktöffnung beschleunigt dieses Wachstum und die Teilhabe der Schwächeren in den Entwicklungs- und Schwellenländern am globalen Wohlstand. Und im Inneren richten sich die Folgen von Mietpreisbremsen, Mindestlöhnen und andere Überregulierungen nicht selten gerade gegen diejenigen, zu deren Gunsten sie einst gedacht waren.

Die Voraussetzungen der offenen Gesellschaft nach innen wie nach außen sollte jeder bedenken, der nationale Verteilungsergebnisse zum Maßstab der Politik erhebt und deshalb nolens volens zum Steigbügelhalter des Protektionismus wird.

Erstmals veröffentlicht in CIVIS 2/2017

Photo: Wikimedia Commons

Seitdem es Handel gibt, stehen Kaufleute in einem schlechten Ruf. Ihnen wird Profitgier vorgeworfen, betrügerische Absichten und Ausbeutung. Dabei ist es in erster Linie ihr Verdienst, dass wir in einer immer besseren und friedlicheren Welt leben.

Der Händler macht ein Geschäft, der Held bringt ein Opfer

Der Ökonom und Soziologe Werner Sombart (1863-1941) verfasste 1915 eine Schrift unter dem Titel „Händler und Helden – Patriotische Besinnungen“, gegliedert in drei Teile: „Englisches Händlertum“, „Deutsches Heldentum“ und „Die Sendung des Deutschen Volkes“. Hier findet sich auf nur wenigen Seiten zusammengefasst die Summe der Vorurteile, die gegenüber den Kapitalisten und „Kommerzialisten“ im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende aufgebaut wurden. Händler sind für ihn geistlose Menschen, die nur nach dem eigenen Vorteil suchen und den Weg des geringsten Widerstands einschlagen. Der Gegensatz zu dieser verkommenen Gestalt ist die Person des Helden:

„Händler und Held: sie bilden die beiden großen Gegensätze, bilden gleichsam die beiden Pole aller menschlichen Orientierung auf Erden. Der Händler, sahen wir, tritt an das Leben heran mit der Frage: was kannst du Leben mir geben; er will nehmen, will für möglichst wenig Gegenleistung möglichst viel für sich eintauschen, will mit dem Leben ein gewinnbringendes Geschäft machen; das macht: er ist arm; der Held tritt ins Leben mit der Frage: was kann ich dir Leben geben? er will schenken, will sich verschwenden, will sich opfern – ohne Gegengabe; das macht: er ist reich. Der Händler spricht nur von ‚Rechten‘, der Held nur von Pflichten, die er hat.“

Alte Vorurteile, immer wieder neu aufgebrüht

Es ist eine alte Geschichte: Schon die antiken Griechen hatten dem Gott Hermes nicht nur die Zuständigkeit für Diebe zugeschrieben, sondern auch für Händler. Oft mischen sich auch antisemitische Stereotype in die Abneigung gegenüber den „Krämerseelen“, wie etwa in Shakespeares Drama „Der Kaufmann von Venedig“ oder in etlichen Erzählungen des schwäbischen Märchenautors Wilhelm Hauff. Und heutzutage wird dieses unselige Erbe weitergetragen von Globalisierungsgegnern an den beiden Rändern des politischen Spektrums. Anständige Menschen, so der Grundtenor, findet man auf dem Acker, an der Werkbank oder in der Fabrik (oder auch auf dem Schlachtfeld, wenn man Sombart folgt). Die Schurken hingegen verleihen das Geld, das andere erwirtschaftet haben und zu dem sie auf unehrlichem Wege gekommen sind, zu überhöhten und natürlich nicht verdienten Zinsen. Sie leben von der Arbeit anderer Hände. Anstatt im Schweiße ihres Angesichts mit den eigenen Händen etwas zu fertigen, profitieren sie vom bloßen Handeln und von ihrer Hinterlist und Tücke.

Mit der Realität von Kaufleuten, Händlern und Unternehmern haben all diese Klischees sehr wenig zu tun. Das Gegenteil ist der Fall: Die Menschen, die Sombart und seine rechten und linken Gesinnungsgenossen als Helden darstellen, sind alles andere als Helden. Die Krieger und Kämpfer – für ein vermeintliches Vaterland, für soziale Gerechtigkeit, gegen den „Ausverkauf unserer Kultur“ und gegen „die da oben“ –, diese vermeintlichen Helden sind in der Regel getrieben von Angst. Sie kennen keinen anderen Weg zum Erreichen ihrer Ziele als die Gewalt. Sie sind nicht erfinderisch und nicht experimentierfreudig. Sie sind leicht manipulierbar und suchen den Applaus. Helden sind aus einem ganz anderen Stoff gemacht!

Mit Heldenmut ins Unbekannte

Die wahren Helden in der Menschheitsgeschichte sind die Händler gewesen. Denn sie haben immer wieder Barrieren überwunden und haben sich auf Abenteuer eingelassen, deren Ausgang ganz und gar ungewiss war. Ihre Stärke und Motivation kommt nicht durch Beifall und Verehrung der Gruppe, sondern kommt aus ihrem eigenen Selbstbewusstsein und ihrem Drang zur Verbesserung – statt zur Vernichtung. Die ersten Händler, so haben bedeutende Ökonomen wie Friedrich August von Hayek und Herbert Giersch es versucht zu rekonstruieren, waren Männer und Frauen, die sich aus ihrer kleinen Gruppe herausgetraut haben. Wagemutige und entdeckungsfreudige Menschen, die angefangen haben, mit Fremden in Austausch zu treten. Die die Angst überwunden haben, die der Unbekannte bei uns unwillkürlich auslöst – und die dem Impuls widerstanden haben, ihm den Schädel einzuschlagen um der vermeintlichen eigenen Sicherheit willen.

Doch nicht nur wegen ihres Mutes sind sie Helden. Sondern auch, weil dieser Mut – ob beabsichtigt oder nicht – die Ursache dafür ist, dass wir in einer gesünderen, wohlhabenderen und friedlicheren Welt leben. Erst die Bereitschaft, die anderen nicht als Gegner, sondern als mögliche Partner aufzufassen, hat dazu geführt, dass die Schrift erfunden wurde, Penicillin entdeckt wurde, Smartphones gebaut wurden und Bauern aus der bittersten Armut kommen, indem sie sich auf Kaffeeanbau oder Rinderhaltung spezialisieren. Wenn wir zu Menschen aufblicken wollen, dann sollten das nicht die Che Guevaras oder Hindenburgs sein, sondern die Frauen und Männer, die seit Jahrtausenden ihre Bastkörbe, Schrauben und Computerprogramme in die Welt getragen haben und unser aller Leben verbessert haben. Wie selbst Sombart sehr zutreffend in seinem Text feststellte: „Die theoretische Stellung des Händlers zum Kriege ergibt sich ohne weiteres aus seinen Grundansichten: sein Ideal muß der allgemeine ‚ewige‘ Friede sein.“

Photo: Rod Waddington from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Afrika steht auf der Agenda des G20-Treffens. Langsam dämmert den Verantwortlichen dort, dass nicht nur die klassische Entwicklungshilfe glorios gescheitert ist, sondern dass „Afrika“ auch mehr ist als nur Hunger, Korruption und Safari. Was ist zu tun, um den Menschen dort mehr Chancen zu ermöglichen?

Unternehmertum fördern statt Geld verteilen

Die Spatzen pfeifen es seit einiger Zeit so penetrant von den Dächern, dass es schon fast an Ruhestörung grenzt: Die Entwicklungshilfe der vergangenen Jahrzehnte hat im Grunde genommen drei Konsequenzen gehabt: Das ein oder andere Gewissen in den reichen Ländern wurde beruhigt. Autokratische Systeme wurden stabilisiert. Und die wirtschaftliche Entwicklung innerhalb der Länder langfristig aufgehalten. Trotz der immer heftigeren Kritik hat sich die Summe der Entwicklungshilfe für Sub-Sahara-Afrika von 17,8 Milliarden Dollar im Jahr 2000 auf 45,9 Milliarden im Jahr 2015 hochgeschraubt. Dabei wird die Hilfe eher willkürlich verteilt, wie man exemplarisch an den Zahlungen sehen kann: Kenia erhält bei einem BIP von 1.377 Dollar pro Kopf fast 54 Dollar pro Jahr für jeden Einwohner; Tansania etwa 48 $ (BIP: 879 $ p. P.), Kongo etwa 34 $ (BIP: 456 $ p. P.) und Nigeria 13 $ (BIP: 2.672 $ p. P.).

Viel wichtiger als staatliche Almosen – auch das gehört mittlerweile zum festen Repertoire der Spatzen auf den Dächern – sind die Rücküberweisungen von Migranten. Diese betrugen nach Sub-Sahara-Afrika 1990 1,8 Milliarden Dollar und sind inzwischen auf 17,8 Milliarden angewachsen. Dies sind Gelder, die unmittelbar bei den Familien und Freunden der Migranten ankommen. Es sind finanzielle Ressourcen, mit denen die Menschen in der Heimat kleine Geschäfte aufbauen, ihre wirtschaftliche Situation verbessern, ihre Kinder zur Schule schicken und eine Operation bezahlen können. Nachhaltiges Wachstum kann in diesen Ländern nur durch Privatwirtschaft entstehen. Unternehmertum ist auch das beste Mittel, um den „Ausverkauf“ natürlicher Ressourcen an chinesische Investoren zu kontern. Wenn die Politik in den reichen Ländern etwas tun will, dann sollte sie nicht Geld in die staatlichen Fässer ohne Boden stecken, sondern den Menschen vor Ort Ressourcen zur Verfügung stellen, damit sie unternehmerisch tätig werden können. Anstatt eine neue Prachtstraße in der Hauptstadt zu finanzieren, sollte man lieber den Austausch fördern zwischen den Tüftlern aus Mallersdorf und Malawi, zwischen den IT-Spezialisten aus Lesotho und Litauen, zwischen den Physiotherapeuten aus Sierra Leone und South Dakota.

Regulierungen und Standards überdenken

Wir wollen alle eine saubere Umwelt, ordentliche Arbeitsbedingungen und sichere Produkte. Und selbst diejenigen Politiker, Bürokraten oder Unternehmer, die um eines unmittelbaren Profits willen diese Ideale hintanstellen, würden das ja in der Regel nicht öffentlich kommunizieren. Es gibt durchaus einen moralischen Druck auf Verantwortliche in Politik und Wirtschaft. Zwei unterschiedliche Aspekte führen jedoch dazu, dass dieser moralische Druck gerade in Entwicklungsländern nicht immer sehr effizient ist: In autoritären Systemen führt der Mangel an öffentlicher Kontrolle, Medien und Zivilgesellschaft dazu, dass dieser Druck oft nur in homöopathischen Dosen ankommt. Und bisweilen geht es um simple Güterabwägungen: Wollen wir die Umweltauflagen einhalten oder ein paar mehr Leute einstellen?

Die vielen Regulierungen und Standards, die wir mittlerweile in den entwickelten Staaten rechtsverbindlich eingeführt haben, können von kleinen Unternehmen hierzulande oft nur mit großem Aufwand und hohen Kosten eingehalten werden. Für Unternehmer aus den weniger entwickelten Ländern hingegen wirken sie oft wie unüberwindbare Markteintrittsbarrieren. Von Seiten der reicheren Länder ließe sich dieses Problem auf zwei Weisen abmildern: Erstens könnte man bei vielen Regulierungen darauf setzen, sie nicht verbindlich zu machen, sondern nur eine Kennzeichnungspflicht einzuführen. Dann können Konsumenten selbst entscheiden, ob sie die Waren kaufen, die beispielsweise EU-Standards entsprechen, oder nicht. Zweitens könnte man grundsätzlich darüber nachdenken, ob eine allzu missionarische Herangehensweise nicht die Grenzen des politisch Zulässigen überschreitet. Weltverbesserung ist eine Aufgabe, an der jeder einzelne Mensch auf diesem Globus mitwirken sollte, und ist nicht etwas, das staatlich gesteuert und verordnet werden kann.

Europa lässt sich nicht replizieren

Als sich die europäischen Großmächte nach dem 2. Weltkrieg zunehmend aus ihren Kolonien zurückziehen mussten, verließen sie die Länder selten ohne gute Ratschläge. Ja, viele ehemalige Kolonien – insbesondere Frankreich – sehen sich noch heute in der Rolle des großen Bruders. Die ehemaligen Kolonialherren hinterließen ihren befreiten Untertanen Vorstellungen, die sich über viele Jahrhunderte im europäischen Kontext etabliert hatten. Plötzlich fanden sich unterschiedlichste Ethnien mit grundverschiedenen kulturellen Prägungen in einem gemeinsamen Staat wieder. Und weiße Männer in Anzügen mit wohlklingenden Titeln und Amtsbezeichnungen kamen in regelmäßigen Abständen vorbei, um den Leuten zu erklären, wie die parlamentarische Demokratie funktioniert und Brunnen gebaut werden.

Entwicklung ist nicht etwas, das von außen kommen kann oder sich in Nachahmung erschöpfen kann. Entwicklung ist ein Lernprozess, den jedes Individuum und jede Gruppe für sich selbst durchmachen muss. Vor allem ist Entwicklung ein Prozess, der nicht einem bestimmten Ziel entgegensteuert. Wir im Westen haben nicht die eine optimale Lösung gefunden – für uns nicht, und erst recht nicht für andere. Wir können nicht einfach die vorübergehenden Lösungen für unser Zusammenleben, die wir in unserem konkreten geschichtlichen und kulturellen Kontext für unsere Gemeinschaften entwickelt haben (und wie unterschiedlich sind schon diese Lösungen!) in den Staaten Afrikas replizieren. Was wir aber können, ist, besser und effektiver unsere Rolle zu spielen. Die Überwindung von Elend und Hunger, von Krankheit, Korruption und Krieg ist eine Aufgabe, die die Menschen in den afrikanischen Staaten selber lösen müssen. Es wäre schon sehr viel erreicht, wenn wir ihnen dabei nicht im Weg stünden: Schluss mit der Entwicklungshilfe. Schluss mit Markteintrittsbarrieren. Schluss mit dem Versuch, sie auf den westlichen Weg zu führen. Geben wir den Menschen dort eine Chance, indem wir sie als Partner ernstnehmen und nicht als Spielball oder Mündel.

Von Frank Schäffler und Clemens Schneider.

Mit diesem Text starten wir unsere Kampagne für Freihandel. Mehr Informationen finden Sie auf unserer Kampagnen-Website unter http://freetrade.world/de/

1.  Freihandel: der Motor einer humaneren Welt

Präsident Trump macht Freihandel für den Verlust von Arbeitsplätzen verantwortlich. Ein breites Bündnis linksgerichteter Organisationen in Europa sieht mit dem Freihandel alle Verbraucherschutz-Standards kollabieren. Das sind Ablenkungsmanöver zum Schutz von Privilegien einiger weniger. Dass es uns heute weltweit, in Europa und Deutschland so gut geht wie noch nie in der Geschichte, ist wesentlich ein Verdienst der zunehmenden Liberalisierung des Welthandels.

2. Freihandel schafft Frieden

Je intensiver Völker und Staaten über den Handel miteinander verbunden sind, umso unwahrscheinlicher wird es, dass sie miteinander Krieg führen. Der Handel steigert die gegenseitige Abhängigkeit. Durch die wirtschaftliche Verflechtung entsteht in der Bevölkerung immer mehr Widerstand gegen Konflikt und Krieg. Keiner hat ein Interesse daran, aufgrund politischer Aggressionen seine Waren nicht mehr verkaufen oder andere Waren nicht mehr zu günstigen Preisen erwerben zu können. Propaganda gegen den Feind verfängt nicht mehr, wenn man ihn kennt und mit ihm in Geschäftsbeziehungen steht. Immer mehr Handel zwischen den Staaten treibt den Preis für Krieg beständig in die Höhe. Zugleich erhöht sich der Wohlstand durch Handel viel schneller und nachhaltiger als durch Eroberung.

3. Freihandel ist fairer Handel

Handelsbeschränkungen in Form von Zöllen, aber auch von Standards und Regulierungen, verschaffen einigen wenigen Einheimischen Vorteile gegenüber Fremden. Gerade die Gruppen, die am besten organisiert sind, nutzen ihren politischen Einfluss, um sich vor der Konkurrenz jenseits der Grenze zu schützen. Es sind oft Großkonzerne und Großgewerkschaften, die sich durch protektionistische Politik diese Privilegien sichern. Dagegen ermöglicht Freihandel jedem Anbieter und jedem Konsumenten Zugang zum Markt. Er verhindert Diskriminierung und ermöglicht jedem Marktteilnehmer eine Chance, unabhängig von seiner Herkunft, seinem Geschlecht, seiner Meinung oder seiner gesellschaftlichen Stellung.

4. Freihandel hilft den Schwachen

Eine der Gründergestalten der Sozialen Marktwirtschaft, Franz Böhm, bezeichnete den Wettbewerb einmal als „das genialste Entmachtungsinstrument der Geschichte“. Diese Beobachtung gilt auch für den Freihandel. Wer reich ist, kann sich auch höhere Preise leisten. Von Handelsbeschränkungen sind am stärksten die Geringverdiener, die mittelständischen Unternehmen, die einfachen Bürger betroffen. Sie müssen die höheren Preise bezahlen und finanzieren durch ihre Steuern die Subventionen für die wenigen Privilegierten mit. Alle müssen zurückstecken, damit einige wenige einen Vorteil haben. Dahingegen ist Freihandel vor allem für die Starken eine Gefährdung, weil er den Schwachen eine Chance zum Aufholen bietet – im eigenen Land und auf der ganzen Welt. Wer Marktmacht brechen will, muss über Freihandel den Wettbewerbsdruck erhöhen.

5. Freihandel stärkt das Individuum

Freihandelsgegner argumentieren, man müsse „unsere Industrie“ schützen oder „unsere Standards“ durchsetzen. Dahinter steckt das antiquierte Denkschema von „wir gegen die“, der Kollektivismus und Nationalismus, der die Welt so oft ins Unglück gestürzt hat. Der Freihandel dagegen ist blind gegenüber Nationen, einzelnen Wirtschaftszweigen oder irgendeinem anderen Kollektiv. Vor ihm zählt nur die kleineste Einheit im Wirtschaftsleben: das Individuum. Wo er herrscht, muss sich kein Individuum einem größeren Wir unterordnen. Der Freihandel lässt zu, dass die einzelnen Vertragsparteien entscheiden, welche Waren und Dienstleistungen sie kaufen und verkaufen. Freihandel ist eine kosmopolitische Idee. Es überrascht nicht, dass in der gegenwärtigen Renaissance nationalistischer Ideen der Freihandel stark in die Defensive gerät, war er doch immer ein Motor der Entnationalisierung.

6. Freihandel ist die beste Entwicklungshilfe

Inzwischen hat sich fast überall die Erkenntnis durchgesetzt, dass es weder hilft, die Machthaber und Bürokratien in Entwicklungsländern durch finanzielle Unterstützung zu stützen, noch einheimische Märkte durch eine Flut von Hilfsgütern zu zerstören. Die größte Chance für die ärmeren Länder dieser Welt liegt darin, dass wir ihnen unsere Märkte öffnen. Dass seit 1990 der Anteil der Weltbevölkerung, die in extremer Armut lebt, von 37 auf unter 10 Prozent zurückgegangen ist, liegt wesentlich an der seit dieser Zeit vorangeschrittenen weltweiten Liberalisierung des Handels. Seit 2001 bzw. 2009 hat die EU zwar ihre Märkte bereits für die etwa 50 ärmsten Länder der Welt komplett geöffnet. Doch es gibt noch eine Vielzahl von Hürden, die Produzenten und Händler aus diesen Ländern überwinden müssen. Regulierungen und Standards, die Monat für Monat mehr werden, machen es für sie zum Teil unmöglich, ihre Produkte hierzulande anzubieten. Auch das gehört zum Freihandel: der Abbau von Schranken, die dadurch entstehen, dass kleine Gruppen ihre Vorstellungen über Gesetze und Regulierungen anderen aufdrängen.

7. Freihandel ermöglicht mehr Teilhabe

Ludwig Erhard bezeichnete den Versuch, den Handel einzuschränken, als „puren Egoismus“. Freihandel schafft eine Vielzahl von Gelegenheiten für Menschen, die bisher von der Teilhabe am gesellschaftlichen Wohlstand und Fortschritt ausgeschlossen waren, auch von diesen Vorteilen zu profitieren. Für die einen werden Produkte und Dienstleistungen günstiger, weil es ein breiteres Angebot und mehr Konkurrenz gibt. Für die anderen ergeben sich neue Gelegenheiten, Geld zu verdienen, indem sie sich neue Märkte erschließen. Dadurch werden auch Ressourcen freigesetzt, die anderswo eingesetzt werden können: Hierzulande kann vielleicht einer für eine nachhaltige Investition sparen, während in einem Entwicklungsland jemand die finanziellen Möglichkeiten bekommt, die Bildung seiner Kinder zu finanzieren. Wohlstand und Fortschritt sind dann nicht mehr ein Privileg kleiner Gruppen, sondern für alle da.

8. Freihandel fördert Wohlstand

Indem Barrieren abgeschafft werden, ergeben sich ganz neue Möglichkeiten, Arbeitskraft, Talent und Ressourcen zu kombinieren. Je leichter es wird, auch über Grenzen hinweg mit anderen zu kooperieren, umso schneller können Innovationen entstehen. Es entstehen mehr und bessere Produkte zu geringeren Preisen. Es erschließen sich neue Absatzmärkte und so entstehen auch neue Arbeitsplätze. Dabei steigt nicht nur die Quantität der Produkte, sondern auch die Qualität. Gerade im Blick auf Anliegen wie menschenwürdige Arbeitsbedingungen und umweltschonende Produktionsmethoden besteht inzwischen ein hoher Anspruch in vielen entwickelten Staaten. Wenn westliche Märkte auch Anbietern aus Entwicklungsländern offenstehen, wächst der Druck auf sie, diesen Vorstellungen zu entsprechen. Besser und zielgenauer als jedes Programm internationaler Organisationen kann der Druck der Konsumenten zu einer Verbesserung der Arbeits- und Umweltbedingungen in Entwicklungsländern beitragen.

9. Freihandel ist ein Prozess des Fortschritts

Der Abbau von Handelsschranken war immer ein steiniger Weg. Das erste Freihandelsabkommen wurde 1860 auf Anregung von Richard Cobden zwischen England und Frankreich formuliert. Es schaffte nicht alle Zölle und Handelsbeschränkungen auf einen Schlag ab, sondern reduzierte diese sukzessive. Auch heute geht es nicht um alles oder nichts, sondern um ein permanentes Reduzieren von Handelshemmnissen. Dabei muss man natürlich manchmal Kompromisse machen. Auch Handelsabkommen und WTO-Vereinbarungen haben mancherlei Schwachstellen. Aber jeder Schritt zu einem freieren Handel ist wichtig. Und unsere demokratischen Institutionen erlauben uns ja zum Glück auch, aus Fehlern zu lernen, so dass wir immer bessere Abkommen schließen können. Die Geschichte der Globalisierung zeigt: diese vielen kleinen Schritte in die richtige Richtung sind Teil eines Fortschritts, der am Ende allen zugutekommt.

10. Auf die Straße für den Freihandel!

Im 19. Jahrhundert gab es, zunächst in Großbritannien, dann auch in ganz Europa, eine Massenbewegung für den Freihandel. Gerade die einfachen Leute, die Arbeiter und kleinen Unternehmer gingen auf die Straße, um gegen Zölle und Handelshemmnisse zu protestieren. Wer heute die Macht kleiner Interessengruppen einschränken will; wer den Armen hierzulande und in aller Welt neue Chancen ermöglichen will; wer etwas gegen Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit und Konflikte tun will – der muss auch heute wieder für den Freihandel auf die Straße gehen. Ein Ende der Abschottungspolitik, nicht nur durch Zölle und Subventionen, sondern auch durch Regulierungen und Standards, kann diese Welt ein Stück besser machen. Es wären Meilensteine auf dem Weg zu jener Welt, die sich Richard Cobden vor 170 Jahren erträumte, als er den Anhängern seiner Freihandelsbewegung zurief: „Ich sehe, dass das Freihandelsprinzip die moralische Welt bestimmen wird wie das Gravitationsprinzip unser Universum: indem es Menschen einander nahebringt; indem es den Gegensatz der Rassen, Bekenntnisse und Sprachen beseitigt; indem es uns in ewigem Frieden aneinander bindet …, wenn die Menschheit erst eine Familie geworden ist und Mensch mit Mensch aus freien Stücken die Früchte seiner Arbeit brüderlich austauscht.“