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Deutschland ist auch ein bisschen Griechenland. Zumindest was die kollektive Verantwortungslosigkeit im deutschen Föderalismus angeht. So trägt jeder Bremer die Schuldenlast seines Landes in Höhe von 32.735 Euro. Das ist mehr als jeder Grieche für sein Land. Dort beträgt die Schuldenlast pro Einwohner 28.500 Euro. Jeder Vergleich hinkt, so auch dieser. Es ist sicherlich nicht vermessen, wenn man behauptet, dass in den aktuellen griechischen Zahlen nicht alle Verbindlichkeiten enthalten sind, aber dies gilt auch für Bremen. Die Schuldenlast des Bundes von 1.100 Milliarden Euro müsste in diesem Vergleich auch anteilig auf jeden Bremer verteilt werden.

Wie in Griechenland ist auch in Bremen die Schuldenlast erdrückend und nicht mehr durch reines Wirtschaftswachstum nennenswert zurückzuführen. Und wie in Griechenland durch die EU und die EU-Mitgliedsstaaten erhält Bremen regelmäßig Transferzahlungen vom Bund und von den übrigen Bundesländern. Vom Bund kamen 2015 563 Millionen Euro Sonderzuweisungen und im Rahmen des Länderfinanzausgleichs über 600 Millionen Euro von den Ländern. Mit letzterem ist jetzt bald Schluss. Der Länderfinanzausgleich wird abgeschafft. Darauf haben sich der Bund und die Länder geeinigt. Das ist gut und richtig so. Er war schon immer leistungsfeindlich, weil nur wenige Geberländer eine große Mehrheit von Nehmerländern gegenüberstanden. Aktuell zahlen nur noch Hamburg, Hessen, Baden-Württemberg und Bayern ein. In 2015 waren es 9,5 Milliarden Euro. Das hört sich viel an, am gesamten Steueraufkommen von 620 Milliarden Euro sind es aber lediglich 1,5 Prozent.

Daher ist die Einigung nur ein Reförmchen. Eigentlich müsste eine viel grundlegendere Veränderung des Föderalismus stattfinden. Der deutsche Föderalismus schafft falsche Anreize. Er bestraft gute Politik und belohnt schlechte. Kommen Bremen oder auch das Saarland mit ihren Ausgaben nicht zurecht und steigt daher die Verschuldung immer weiter an, dann hilft der Bund in unregelmäßigen Abständen mit Sonderzahlungen – jetzt wieder. Damit die beiden Länder der Neuordnung des Finanzausgleichs ab 2020 zustimmen, erhalten sie erneut Sanierungshilfen von 800 Millionen Euro.

Geändert hat sich in den letzten Jahrzehnten an der grundsätzlichen Finanzsituation der beiden Schuldenländer dennoch nichts. Dabei ist die Größe der Bundesländer nicht das Problem. Das sieht man schon daran, dass das kleine Hamburg in den Länderfinanzausgleich bislang eingezahlt und das große Nordrhein-Westfalen Leistungen daraus bezogen hat.

Das Problem ist, wie in Griechenland auch, das Auseinanderfallen von Risiko und Haftung. Werden falsche Strukturentscheidungen der Länder getroffen, zu viele Beamte eingestellt oder zu viele Prestigeprojekte errichtet, haften nicht das Land Bremen und seine Bürger dafür, sondern alle Bürger in Deutschland. Es gibt in Deutschland keine Insolvenz von Kommunen und Ländern. Im Zweifel muss der Bund einspringen.

Das muss nicht so sein. Ein funktionierender Wettbewerbsföderalismus lässt die Verantwortung für die Entscheidungen auf der jeweiligen politischen Ebene. Leben eine Kommune oder ein Land über ihre Verhältnisse, dann müssen sie sich selbst um eine Konsolidierung bemühen. Gelingt dies nicht, dann muss mit den Gläubigern über eine Lösung verhandelt werden. Das ist nicht ungewöhnlich. Kann der Bundesstaat Kalifornien seine Beamten nicht mehr bezahlen, dann schickt er sie in den Zwangsurlaub. Die Zentralregierung in Washington käme nicht auf die Idee einzuspringen.

Und auch in unserem Nachbarland Schweiz kennt man nicht die Kollektivhaftung für das Versagen auf kommunaler oder kantonaler Ebene. Als 1998 die Gemeinde Leukerbad im Kanton Wallis zahlungsunfähig wurde, wollten sich die Gläubiger anschließend beim Kanton und bei der Zentralregierung schadlos halten. Diese verweigerten die Zahlung. Am Ende verzichteten die Gläubiger auf 78 Prozent ihrer Forderungen. Seitdem differieren die Finanzierungskonditionen zwischen Gemeinden, Kantonen und dem Bund in der Schweiz je nach Solidität. Dieser Wettbewerbsföderalismus funktioniert in der Schweiz auch deshalb, weil die jeweilige Ebene nicht nur über die Ausgaben in einem viel größeren Ausmaß als hierzulande bestimmen kann, sondern auch über die Einnahmen. Kantone und Gemeinden haben eine umfangreiche Steuerautonomie, die 80 Prozent des Steueraufkommens bei ihnen belässt. In Deutschland sind es nur rund 50 Prozent und das eigene Steuererhebungsrecht ist, von einigen Bagatellsteuern abgesehen, nicht vorhanden. Mehr Wettbewerbsföderalismus wäre daher auch für Deutschland gut.

Erstmals erschienen am 22. Oktober 2016 in der Fuldaer Zeitung.

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In dieser Woche hat EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker eine einstündige Rede zur Lage der Union im Europaparlament gehalten. Sie wird nicht in die Geschichtsbücher eingehen, daher erlauben wir uns, ihm eine neue zu schreiben.

Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,

wir alle müssen innehalten. Die Europäische Union kann nicht so weitermachen wie bisher. Die Eurokrise, die Flüchtlings- und Migrationskrise und letztlich auch der drohende Brexit führen uns vor Augen, dass wir unsere Probleme nur unzureichend gelöst und an Attraktivität und Anziehungskraft verloren haben. Die Europäische Union muss sich verändern, um für die Menschen in Europa ein tatsächliches Friedensprojekt zu werden und den Wohlstand der Menschen in Europa zu mehren.

Das erfordert zuerst die Erkenntnis, dass Europa größer ist als die EU. Auch die Schweiz und Norwegen gehören zu Europa. Sie sind in vielerlei Hinsicht Leuchttürme in Europa. Die Europäische Union darf sich nicht länger anmaßen, für ganz Europa zu sprechen. Und wir dürfen uns nicht länger als Oberlehrer gegenüber den kleinen Staaten inner- und außerhalb der EU aufführen.

Viele hier im hohen Haus wollen die Europäische Union zu einem Bundesstaat nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten von Amerika entwickeln. Davon halte ich nichts. Ich glaube im Gegenteil, dass ein konföderales Europa souveräner Staaten das Ziel der Union sein sollte. Dies entspricht viel eher dem Wunsch der Bürgerinnen und Bürger in den Mitgliedsstaaten. Wir sollten daher Abschied vom bei vielen zum Dogma gewordenen Grundsatz einer „ever closer union“ nehmen. In der Europäischen Union muss es eine freiwillige vertiefte Zusammenarbeit dort geben, wo ein Konsens erzielt werden kann. Dieser Konsens muss nicht für alle Zeiten gelten, sondern Mitgliedsstaaten müssen ein Rückholrecht erhalten, wenn sich ihre Situation oder Meinung ändert.

Die EU beruht auf dem Konsens seiner Mitglieder. Dieser kann nicht erzwungen werden. Bei der Euro-Schuldenkrise, aber auch bei der jüngsten Flüchtlings- und Migrationskrise sind gemeinsam geschaffene Regeln außer Kraft gesetzt worden. Das darf es nie wieder geben. Deutschland darf nicht am Geist des Dubliner Abkommens vorbei einseitig Flüchtlinge und Migranten nach Deutschland einladen. Und Länder, die Außengrenzen der EU haben, müssen diese konsequent schützen und die unkontrollierte Einreise unterbinden. Nur so läßt sich der Schengenraum aufrechterhalten. Nur so läßt sich die Personenfreizügigkeit erhalten.

Die Kommission als Hüterin des Rechts wird künftig ohne Rücksicht auf die Größe des Mitgliedsstaates Vertragsbrüche einzelner konsequent sanktionieren.  Das gilt sowohl für die Defizitländer Frankreich, Portugal, Italien und erst recht für Griechenland. Seit 6 Jahren schwelt die Krise in Griechenland, ohne dass es nennenswerte Fortschritte gibt. Wir müssen nüchtern erkennen, dass der eingeschlagene Weg nicht erfolgreich war. Daher schlägt die Kommission vor, Griechenland in einem Zeitraum von einem Jahr geordnet aus dem Euro zu führen. Wir wollen den Euro zu einer atmenden Währung weiterentwickeln, weil wir glauben, dass nur so die fiskalische Disziplin in den Mitgliedsstaaten einkehrt.

Der Binnenmarkt ist das verbindende Element. Diesen wollen wir stärken. Wir sollten die Waren- und Dienstleistungsfreiheit und die Kapitalverkehrsfreiheit innerhalb des Binnenmarktes erhalten und sie als Vorbild für eine Renaissance des Freihandels auf der Welt betrachten. Deshalb tritt die EU-Kommission dafür ein, dass überall auf dieser Welt Handelsschranken abgebaut werden. Hierzu werden wir einseitig gegenüber anderen Staaten unsere Handelsschranken beseitigen und laden andere dazu ein, uns gleiches nachzutun.

Wir respektieren, dass Länder die mit uns Handel treiben wollen, nicht automatisch die Personenfreizügigkeit, die wir für richtig und notwendig halten, akzeptieren. Es darf kein „Alles oder Nichts“ für den Zugang zum Binnenmarkt geben.  Wir laden Großbritannien daher ein, ohne Vorbedingungen und ohne Zahlungen in den EU-Haushalt am Europäischen Wirtschaftsraum teilzunehmen. Der Handel der Mitgliedsstaaten mit Großbritannien und umgekehrt ist für beide Seiten von Vorteil.

Wir wollen eine Union sein, die für Marktwirtschaft und gegen ein Modell der Planification steht. Nur die Marktwirtschaft sichert Wachstum und Wohlstand in Europa. Dies setzt voraus, dass neben den Chancen im Markt auch die Übernahme von Verantwortung durch Haftung notwendig ist. Ein EU-Finanzminister mit eigenem Budget oder der nach mir benannte Investitionsplan sind keine geeigneten Maßnahmen, weil sie notwendige Anpassungsprozesse in den Mitgliedsstaaten hinauszögern oder sogar verhindern. Wir wollen stattdessen einen Wettbewerb der Systeme zwischen den Mitgliedsstaaten erreichen, in dem unterschiedliche Währungen, Sozial- und Rechtssysteme um die beste Lösung ringen.  Wir glauben, dass dies der historisch föderalen Struktur in Europa am besten gerecht wird.

Herr Präsident, meine Damen und Herren Abgeordnete,

all dies wird die Europäische Union grundlegend verändern. Daher werde ich heute auf dem EU-Gipfel in Bratislava ein umfangreiches Paket vorschlagen, das notwendige Änderungen der Europäischen Verträge einleitet, die im Rahmen von Volksabstimmungen in den Mitgliedsstaaten gebilligt werden sollten. Lassen Sie mich meine Ausführungen mit einem Zitat des ehemaligen EU-Kommissars Ralf Lord Dahrendorf beenden: „Europa muss Rechtsstaat und Demokratie verkörpern, pflegen und garantieren: sonst ist es der Mühe nicht wert“

Vielen Dank!

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Sechs Millionen Deutsche machten im vergangenen Jahr Urlaub in Polen. Zwei Millionen Polen und Polnisch-Stämmige leben dauerhaft in Deutschlands. Polen ist unser siebtwichtigster Handelspartner. Aber nur wenige wissen um die leuchtende Vergangenheit des Landes.

Eine Ausnahmeerscheinung in finsteren Zeiten

Entgegen der üblichen Wahrnehmung war das Mittelalter gar nicht eine so finstere Zeit. Dagegen war die darauffolgende frühe Neuzeit in einer Weise düster, die sich oft durchaus mit den finsteren Zeiten des 20. Jahrhunderts messen kann. Die Epoche zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert war in Europa geprägt von blutigen Glaubenskämpfen, von der zunehmenden Konzentration von Macht im Absolutismus und vom rasanten Wachstum des starken Staates. Inmitten dieser erstickenden Atmosphäre war die „Adelsrepublik Polen“ ein einzigartiges Phänomen, in dem jene Werte gedeihen konnten, die erst heute, etliche hundert Jahre später, in ganz Europa unser Selbstverständnis prägen.

Das Königreich Polen und das Großfürstentum Litauen bildeten bereits ab 1385 eine Personalunion. 1569 wurden die bisher gemeinsam regierten beiden Reiche in einer Realunion zusammengeführt. Gleichzeitig gab es eine massive Verfassungs-Revision, die aus dem neu entstandenen Reich ein Staatswesen mit beispielloser Freiheit machte. Das erbliche Königtum wurde abgeschafft zugunsten eines Wahlkönigtums. Damit einher ging eine deutliche Schwächung der Stellung des Königs, der mehr ein oberster Beamter war als ein klassischer Herrscher. Diese Entwicklung war dem absolutistischen Trend im Rest Europas diametral entgegengesetzt. (Ausnahmen bildeten nur noch die Vereinigten Niederlande und, mit Abstrichen, ab der „Glorious Revolution“ von 1688 auch Großbritannien.)

Demokratie und Toleranz

Gewählt wurde der König vom Adel sowie von Vertretern der freien Städte. Der Adel war freilich in Polen nicht eine kleine Elitenkaste. Ihm gehörten etwa 15 % der Bevölkerung an. Zum Vergleich: In Großbritannien, dem selbsterklärten „Mutterland der Demokratie“ durften erst nach der großen Reform von 1832 vergleichbar viele Bürger wählen. Die Adligen fanden sich alle zwei Jahre für sechs Wochen zusammen im Sejm, einem der ältesten Parlamente der Welt. Ausgestattet mit umfangreichen Veto-Möglichkeiten bestimmten sie über Gesetzgebung und Fiskalfragen sowie über außenpolitische Angelegenheiten. In der Zeit zwischen den Sejm-Sitzungen wachten 16 gewählte Senatoren darüber, dass der König sich an die Beschlüsse des Parlaments hielt. Außerdem gab es ein verbrieftes Recht zum Widerstand, sollte der König gegen „Recht, Freiheit, Privilegien und Gebräuche“ verstoßen.

Seit dem „Warschauer Religionsfrieden“ von 1573 gab es in der Republik auch garantierte Religionsfreiheit. In einer Zeit höchster Intoleranz zwischen den großen Konfessionen, gegenüber freikirchlichen „Sekten“ und „Ketzern“ und natürlich gegenüber Juden lebten in Polen Angehörige unterschiedlichster Konfessionen und Religionen friedlich zusammen: Katholiken, Protestanten, Orthodoxe, Juden und Muslime. Für viele verfolgte Anhänger protestantischer Freikirchen war Polen der einzige Zufluchtsort in Europa. Neben den religiösen Traditionen konnten sich auch kulturelle Eigenheiten in dem Vielvölkerstaat halten: Polen, Litauer, Ukrainer, Weißrussen, Esten, Letten, Slowaken, Ungarn, Moldauer, Juden, Deutsche, Armenier und Tataren fanden sich in einem föderalistisch organisierten Gemeinwesen zusammen.

Friedliche Koexistenz, wenn Macht begrenzt ist

Inmitten der zentralstaatlich organisierten, absolutistischen und kriegslüsternen europäischen Monarchien hatte es die Freiheitsinsel Polen-Litauen zunehmend schwer. Im Laufe des 18. Jahrhunderts wurde es aufgerieben zwischen den Großmächten in der Umgebung: Russland, Preußen, Österreich und Schweden bedrohten es von außen und durch Intrigen auch von innen. Auch der Versuch einer Verfassungsreform im Jahr 1791, die das Land modernisieren und noch weiter demokratisieren sollte, konnte den Untergang nicht abwenden. Nachdem bereits bei der ersten Polnischen Teilung 1772 bedeutende Teile des Landes von Russland, Preußen und Österreich annektiert worden waren, verschwand der Staat 1793 bis 1795 vollständig von der Landkarte. Die als „Goldene Freiheit“ bezeichnete Epoche war unwiderruflich vorbei.

Die beispiellose Freiheit, die über 200 Jahre hinweg in Polen-Litauen herrschte, sollte uns heute viel stärker wieder ins Bewusstsein kommen. Gerade in einer Zeit, in der sich nach dem Brexit-Votum die Gewichte innerhalb der EU verschieben könnten. Und gerade in einer Zeit, in der in vielen Staaten des östlichen Europas die Traditionen der Toleranz und Offenheit einen schweren Stand haben. Die Geschichte der „Goldenen Freiheit“ kann uns Warnung und Inspiration zugleich sein: Die Warnung lautet, dass die Freiheit immer bedroht ist durch die Macht. Die Entwicklungen in Russland in den letzten Jahren und in der Türkei in der jüngsten Zeit darf Europa nicht ignorieren. Zugleich zeigt die Geschichte aber auch vorbildhaft, dass eine friedliche Koexistenz vieler unterschiedlicher Lebensentwürfe möglich ist – gerade dann, wenn Macht nicht zentralisiert und absolutistisch ist. Das sei insbesondere den Verantwortlichen in Brüssel ans Herz gelegt …

Der Philosoph Karl Popper, dessen Geburtstag sich gestern jährte, stellte schon 1958 in einem Vortrag zum Thema „Woran glaubt der Westen“ (und die Geschichte Polen-Litauens beweist: auch der Osten glaubt daran!) fest:

„Unser Stolz sollte es sein, dass wir nicht eine Idee haben, sondern viele Ideen; dass wir nicht einen Glauben haben, nicht eine Religion, sondern viele, gute und schlechte. Es ist ein Zeichen der überragenden Kraft des Westens, dass wir uns das leisten können. Die Einigung des Westens auf eine Idee, auf einen Glauben, auf eine Religion, wäre das Ende des Westens, unsere Kapitulation, unsere bedingungslose Unterwerfung unter die totalitäre Idee.“

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0,42 Prozent des Bruttonationaleinkommens gab die deutsche Regierung im vergangenen Jahr für Entwicklungshilfe aus. Das ist weniger als die 0,7 Prozent, die die Vereinten Nationen bereits 1970 als Zielgröße empfohlen haben. Aber dennoch sind die 12,5 Milliarden Euro der drittgrößte Wert weltweit. Die Regierung wird daher zufrieden sein.

Doch ob diese rein quantitative Betrachtung der Entwicklungshilfe hilfreich ist, läßt sich sicherlich bezweifeln. Findet doch Entwicklungshilfe oft als reine Budgethilfe für afrikanische Staaten statt. Nach dem Zuckerbrot-und-Peitschen-Prinzip wird die jeweilige Regierung mit Budgethilfen belohnt, wenn sie sich rechtsstaatlich, demokratisch, ökologisch oder weniger diskriminierend gegenüber Minderheiten verhält. Dieser Erziehungsansatz mag bei Kleinkindern funktionieren, ob es souveränen Staaten und deren Machthabern unsere Form des demokratischen Rechtsstaates näherbringt, darf sicherlich bezweifelt werden. Ohne innere Einsicht wird das nicht klappen.

Um so erfreulicher ist es, wenn jetzt eine wichtige Organisation in der Entwicklungshilfe, die Weltbank, zumindest personell einen neuen Weg zu gehen scheint. Der Vorstand der Weltbank hat den New Yorker Ökonomen Paul Romer zum neuen Chefökonomen ernannt. Damit könnte auch ein Wandel in der weltweiten Entwicklungszusammenarbeit eingeläutet werden. Zu wünschen wäre es. Romer ist in mehrerer Hinsicht ein interessanterFall: Er gilt als einer der prägenden Köpfe einer endogenen Konjunkturtheorie, die den Fortschritt und das Wachstum ganzer Volkswirtschaften mit der Innovationskraft einzelner Unternehmen begründet. Für ihn ist der Konsumverzicht, also das Sparen, die Voraussetzung für Investitionen, die wiederum Wachstum und Arbeitsplätze schaffen. Im letzten Jahr erzeugte er eine heftige Debatte unter seinen Professorenkollegen, weil er ihnen eine Missbrauch der Mathematik vorwarf. Er nannte dies „Mathiness“ und meinte damit, dass unter dem Deckmantel der Mathematik, ideologische Dogmen vertreten und vermeintlich bewiesen werden.

Wahrscheinlich ist seine Konjunkturtheorie auch der Ansatz für seine entwicklungspolitische Idee, die er „Charter City“ nennt. Im Februar habe ich dieses Konzept bereits in meiner Kolumne im Blog von Roland Tichy vorgestellt. Er versteht darunter eine Art Sonderwirtschaftszone in Entwicklungsländern, in denen das Rechtssystem eines anderen Landes gilt. Seine Vorbilder sind Hongkong und Singapur, die unter einem anderen Rechtssystem eine wesentlich bessere Entwicklung genommen haben als ihr Umland. Erst diese Entwicklung hat China veranlaßt, mit Sonderwirtschaftszonen im eigenen Land diesen Regionen nachzueifern.

Romers Verdienst ist es, dass er Rechtsstaatlichkeit und Eigentumsschutz als wesentliche Triebfeder für den Wohlstand ansieht. Nur wenn Eigentum rechtssicher erworben und übertragen werden kann, investieren Unternehmer. Nur wenn die Regierung Korruption glaubhaft bekämpft, kommt Investitionskapital in das Land. Und nur wenn die Gleichheit vor dem Recht existiert, kann die Regierung nicht mehr willkürlich entscheiden.

Auf die aktuelle Entwicklung in der Türkei bezogen, bedeutet dies: So schädlich bereits der Putschversuch für ein Land ist, so ökonomisch verheerend ist das anschließende willkürliche Vorgehen der Regierung unter Staatspräsident Erdogan gegen vermeintliche Kritiker. Wahrscheinlich erlebt die Türkei in den nächsten Monaten einen Exodus seiner Eliten.

Auch hier wären „Charter Cities“ eine Alternative. Dort würde nicht türkisches Recht, sondern vielleicht englisches gelten. Die Richter wären unabhängig vom Zugriff der Regierung und stünden vielleicht sogar unter internationalem Schutz. Die Freiheit der Wissenschaft würde an den dortigen Hochschulen gelebt, weil sie sich selbst über Studienbeiträgen finanzieren. Kein Machthaber und kein Präsident hätte das Recht und die Möglichkeit, Wissenschaftlern die Ausreise zu verbieten oder sie zu entlassen. Es würde Investitionssicherheit herrschen, weil ein Grundbuch vorhanden ist und eine schlanke und effiziente Verwaltung existiert.

Romers Idee ist deshalb so bestechend, weil sie im Kleinen Dinge von einigen innovativen Kräften ausprobieren läßt, die andere aus Behäbigkeit, Verkrustung oder einem drohenden Machtverlust nie zulassen würden. Vielleicht ist die Berufung von Paul Romer zum Chefökonom der Weltbank eine Initialzündung für bald tausend Hongkongs auf dieser Welt. Der Bekämpfung von Hunger und Elend würde dies am besten dienen. Zu wünschen wäre es.

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Der britische Finanzminister George Osborne hat nach der Brexit-Entscheidung angekündigt, dass Großbritannien die Unternehmensteuern senken werde, um die Attraktivität des Standortes auf der Insel zu erhöhen. Schon sprechen die Ersten von Steuerdumping und einem Wettbewerb nach unten, der ruinös für die jeweiligen Staatsfinanzen sei.

Doch mit dem Vorstoß Osbornes wird ein wesentlicher Vorteil des Brexits für Großbritannien deutlich. Sie gewinnen erheblich an Souveränität hinzu. Gerade das war ein entscheidendes Argument der Brexit-Befürworter. Die bisherige Entwicklung in der EU geht seit Jahren in die entgegengesetzte Richtung. Dort hält man einen Systemwettbewerb für grundfalsch. Dort will man die Unterschiede in den Steuersystemen, in den Sozialsystemen und in der Fiskalpolitik nivellieren. Seit Jahren versucht die EU-Kommission als Vorstufe die Mehrwertsteuersätze zu harmonisieren und die Bemessungsgrundlage für die Unternehmensteuern anzugleichen, um später mit einheitlichen Steuersätzen gänzlich die Unterschiede abzuschaffen.

Als Begründung wird dafür gerne das Bild des Rosinenpickens verwandt. Dahinter steckt der Vorwurf, dass sich hier Einzelne zu Lasten der Solidargemeinschaft bereichern würden. Auch Angela Merkel verwendet dieses gängige Bild, wenn sie den Briten zuruft: „Wir werden sicherstellen, dass die Verhandlungen nicht nach dem Prinzip der Rosinenpickerei geführt werden.“ Egal ob die Briten Mitglied der EU sind oder nicht, wollen sie in den Binnenmarkt exportieren, dann müssen sie die wettbewerbsfeindlichen Regeln akzeptieren, oder sie bleiben draußen vor der Tür. So die einfache Logik der Kanzlerin.

Deshalb stellt sich auch Jean-Claude Juncker nicht selbst in Frage, sondern zieht aus dem Brexit-Votum den Schluss, die Europäische Union müsse nun noch intensiver und noch schneller die Zentralisierung vorantreiben und die letzten Reste eines Wettbewerbs der Ideen beseitigen. Manche meinen schon, Juncker habe den Schuss nicht gehört. Aber vielleicht kann er auch nicht anders in seinem schwankenden Elfenbeinturm.

Doch der Wettbewerb der Systeme ist gut für alle Teilnehmer, denn Fehler werden viel früher erkannt als ohne ihn. Das Herausgreifen von Vorteilen und deren Stärkung ist ebenfalls gut und richtig. Auch hier findet ein Lernprozess aller anderen statt. Sie können sich plötzlich an den Besten orientieren und ihnen nacheifern. Plötzlich werden alle zu Rosinenpickern. Die Marktwirtschaft ist im Grunde eine Ordnung des Rosinenpickens. Jeder Unternehmer und jeder Kunde macht tagein tagaus nichts anderes, als Vorteile für sich zu suchen. Warum sollte in einer auf Freiwilligkeit basierenden Ordnung jemand von sich aus bewusst Chancen auslassen und dafür Strafen in Kauf nehmen? Gerade im Steuerrecht basiert vieles auch auf Tradition und Praktikabilität. Warum soll die Slowakei zum Beispiel unser kompliziertes Unternehmensteuerrecht übernehmen müssen? Dort gibt es eine andere Steuertradition als in Deutschland. Schon in Deutschland schaffen es die Finanzbehörden und erst Recht die Unternehmen nicht, das komplizierte Unternehmensteuerrecht zu administrieren. Wie wäre dies in der Slowakei, Rumänien oder Griechenland?

Rosinen picken ist gut und richtig. Aus dieser eigensinnigen Ordnung erwächst nämlich der Fortschritt. Denn Staaten zwingt dieser Systemwettbewerb zu Anpassungen, die sonst nie stattfinden würden. Der Systemwettbewerb diszipliniert den Staat in seinem sonst ungebremsten Wachstum. Denn anders als Unternehmen haben Regierungen und Staaten in der Regel keinen Konjunkturverlauf, der Umsätze steigen und mal wieder einbrechen lässt. Staaten und Regierungen können immer aus dem Vollen schöpfen. Ihre „Umsätze“, die Steuern, steigen von Jahr zu Jahr.

Wenn es schlecht läuft, stagnieren sie vielleicht mal, aber schon im nächsten Jahr steigen sie meist wieder. Deshalb unterliegen Regierungen und Staaten nur selten einem wirklichen Reformdruck. Und wenn dies doch mal der Fall ist, haben sich die Probleme über viele Jahre und Jahrzehnte aufgestaut und können dann häufig nicht mehr mit einfachen Korrekturen bewältigt werden. Die Situation Griechenlands, aber auch Italiens und Spaniens sind gute Beispiele dafür. Wer das Rosinenpicken verhindert, will letztlich, dass es allen gleich schlecht geht. Stattdessen ist es eine Hauptaufgabe des Wettbewerbs, zu zeigen, welche Pläne falsch sind. Osbornes Initiative für niedrige Steuern entfacht diesen Wettbewerb neu – vielleicht dann auch wieder in der Rest-EU. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.

Erstmals veröffentlicht bei Tichys Einblick.