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Photo: KylaBorg from Flickr (CC BY 2.0)

Liebe britische Freunde,

wenn Ihr im Sommer über den Brexit entscheidet, dann geschieht dies aus einer Stimmung der Verärgerung und Resignation über die Entwicklung der Europäischen Union heraus. Es stimmt: die EU ist in keiner guten Verfassung. Sie wird ihrem eigenen Anspruch, den sie im Jahr 2000 in der Lissabon-Strategie formuliert hat, nicht gerecht. Sie wollte „ein Vorbild für den wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Fortschritt in der Welt sein“. 16 Jahre später ist die Bilanz niederschmetternd.

Die Gesamtverschuldung der Mitgliedsstaaten der EU war noch nie so hoch, das Wachstum lahmt und die Arbeitslosigkeit im Süden Europas ist besorgniserregend. Die Reaktion der Funktionäre auf diese Entwicklung ist noch mehr Zentralismus, noch mehr Planwirtschaft und noch mehr Gängelung des Einzelnen. Offensichtlich wird diese Entwicklung bei der Euro- und Flüchtlingskrise. Der Ursprung beider Krisen ist der gleiche. Die EU ist keine Rechtsgemeinschaft. Europäische Verträge sind Schönwetter-Recht. Bei Wind und Wetter werden sie gebrochen, geschleift und umgedeutet.

Zentralplanerische Projekte nahmen historisch sehr oft diese Entwicklung. Die Mitgliedsstaaten in Osteuropa können ein Lied davon singen, aber auch Großbritannien selbst ging diesen Weg vom Zweiten Weltkrieg bis Ende der 1970er Jahre. Erst die Eiserne Lady Thatcher beendete dieses sozialistische Experiment. Thatchers Weg war steinig und hart, aber erfolgreich.

Es ist sicherlich so, dass das, was Premierminister Cameron beim Europäischen Rat verhandelt hat, im Ergebnis sehr bescheiden ist. Ja, Ihr könnt in den nächsten Jahren EU-Ausländer von Sozialleistungen ausschließen. Okay, auch die Aufsicht über Eure Banken und Versicherungen könnt ihr behalten. Und ihr bekräftigt nochmals, dass Ihr NIE, NIE, NIE den Euro einführen werdet. Ja, Cameron ging in die Verhandlungen wie ein adrenalingeschwängerter Boxer und kam mit zwei blauen Augen aus dem nächtlichen Fight. Und als er nach Hause kam, verpasste ihm sein Parteifreund Boris Johnson noch einen Leberhaken obendrauf. Das tat weh.

Vielleicht hätte er den anderen Regierungschefs, wie einst Maggy Thatcher bei anderer Gelegenheit, Hayeks „Verfassung der Freiheit“ auf den Tisch knallen und sagen sollen: „This is what we believe“ und anschließend vorübergehend den Verhandlungstisch verlassen müssen. Vielleicht hätte er zuvor in der EU Allianzen für eine grundlegende Überarbeitung der Verträge schließen müssen. Vielleicht wären die osteuropäischen Staaten dafür Verbündete gewesen, vielleicht sogar auch Deutschland, die Niederlande oder die skandinavischen Staaten. Doch schon ein gewisser Peer Steinbrück sagte einmal: „Hätte, hätte, hätte Fahrradkette“.

Klar ist: entscheidet Ihr Euch für den Brexit, dann überlasst Ihr weite Teile Europas dem Zentralismus, der Planwirtschaft und dem Paternalismus. Bei aller Distanz zum Festland ist die Tradition Großbritanniens eine andere. Großbritannien hat über Jahrhunderte den Rest Europas immer wieder befruchtet und inspiriert.

Großbritannien steht nicht nur für die große Rechtstradition der Magna Charta und der Bill of Rights, die die Herrschaft des Rechts über die der Herrschenden stellte. Aus Großbritannien stammen bedeutende Vordenker der Freiheit wie John Locke, David Hume oder Adam Ferguson. Wahrscheinlich gibt es wenig so eindrucksvolle literarische Monumente über die Freiheit wie John Stuart Mills „On Liberty“. Und in Großbritannien wurde Bahnbrechendes über Marktwirtschaft und Freihandel formuliert. Männern wie Adam Smith und David Ricardo stehen für diese große Tradition.

Als Adam Smith sein Buch „Der Wohlstand der Nationen“ 1776 veröffentlichte und energisch für den Freihandel eintrat, hat keiner, nicht einmal Smith selbst, daran geglaubt, dass die Zeit des Merkantilismus in absehbarer Zeit zu Ende gehen würde. Und dennoch verbreite sich rund 70 Jahre später, aus England kommend, eine Freihandelsbewegung in Europa und in der Welt, die heute noch Grundlage für unser aller Wohlstand ist. Richard Cobden und John Bright haben den ganzen Kontinent inspiriert.

Liebe britische Freude,

lassen Sie den Rest in Europa nicht im Stich. Inspirieren Sie, provozieren Sie und verändern Sie Europa weiterhin. Der Rückzug wäre ein falsches Signal und würde die Europäische Union noch stärker den Zentralstaatlern und Geldausgebern überlassen. Das würde letztlich auch Großbritannien schaden. Denn ein Rest-Europa, das noch weiter zurückfällt, weil es nicht auf Marktwirtschaft, Recht und Freiheit setzt, schadet mittelbar auch Großbritannien. Es würde innerhalb der EU zu einer Achsenverschiebung in Richtung Südeuropa führen. Länder mit einer noch einigermaßen ausgeprägten marktwirtschaftlichen Ausrichtung wie die baltischen Staaten, die Niederlande und abgeschwächt auch Deutschland, würden weiter an den Rand gedrängt. Länder mit einer zentralistischen Tradition wie Frankreich und Netto-Profiteure wie Italien und Spanien würden in Verbindung mit der Bürokratie in Brüssel noch stärker den Kurs bestimmen. Einen Kurs, dem Sie mittelbar auch auf ökonomischer wie regulatorischer Ebene ausgeliefert wären – und zwar ohne, dass Sie noch echten Einfluss ausübern könnten. Das wäre fatal.

Liebe britische Freunde,

stimmen Sie für den Verbleib in der EU. Überlassen Sie den Rest Europas nicht den Planern und Technokraten, sondern sorgen Sie mit anderen Freunden der Freiheit für Veränderungen. Um es mit dem Deutsch-Briten Lord Dahrendorf zu sagen: „Europa muss Rechtsstaat und Demokratie verkörpern, pflegen und garantieren: sonst ist es der Mühe nicht wert.“

Erstmals erschienen auf Tichys Einblick.

 

Photo: Kentaro Ohno from Flickr (CC BY 2.0)

Von Robert Benkens, Student der Politikwissenschaften, Volkswirtschaftslehre und Germanistik.

Der postmoderne Glaube ist von einer Absage an alte Bindungen geprägt. Dazu zählt auch die Aufhebung nationalstaatlicher durch suprastaatliche Ordnungskonzepte, um den kosmopolitischen Weltbürger zu schaffen. Obwohl liberale Grundsätze und Werte per definitionem universell sind, können sie nur in kleinen politischen Einheiten mit Leben und Sinn gefüllt werden. Deshalb brauchen wir heute eine Stärkung des subsidiären Denkens – nicht nur in technischen Ordnungsfragen von Wirtschaft und Staat, sondern vor allem für die Vitalisierung des gesellschaftlichen Zusammenhalts.

Doch bevor auf die aktuelle gesellschaftliche Bedeutung der Subsidiarität angesichts globaler Entgrenzung eingegangen werden kann: Auf welchem wirtschaftlichen und politischen Ideenhintergrund fußen die subsidiären Grundsätze eigentlich und was sollten sie bewirken? Das Prinzip der Subsidiarität geht vor allem auf die christliche Soziallehre zurück und fand seinen Ausdruck in ordnungs- und wirtschaftspolitischen Schriften zur sozialen Marktwirtschaft: Demnach soll alles, was auf der untersten Ebene einer Gesellschaft – etwa in der Familie oder der Gemeinde – entschieden und geregelt werden kann, nicht auf höhere Ebene verlagert werden. Nur wenn die untergebene Einheit sich aus eigenen Kräften sich nicht mehr selbst helfen kann, ist die übergeordnete gefragt.

Hierdurch wird die Eigenverantwortung und somit der wirtschaftliche Wettbewerb gestärkt, was zu Wohlstand führt – ohne dass sozial Schwache aufgrund mangelnder Hilfe (lat. subsidium) auf der Strecke bleiben und nur das Recht des Stärkeren gilt. Ganz im Gegenteil: Einerseits sorgt schon der Wettbewerb an sich für eine permanente Infragestellung wirtschaftlicher Machtpositionen und macht somit potentiell Wohlstand für alle Menschen möglich. Andererseits steht im Notfall für sozial Schwache aber auch die übergeordnete Einheit – meistens der Sozialstaat – ein. Das ist aber nur insofern angesagt, als dass die Bedürftigen auch wirklich bedürftig sind und nicht von Transfers und Subventionen abhängig bleiben.

Eine staatliche Rundumversorgung und Wirtschaftslenkung ist mit dem subsidiären Gedanken also nicht vereinbar, denn der Staat kann keinen Wohlstand oder Arbeitsplätze schaffen, sondern den Rechtsrahmen für Wettbewerb sowie gegen Korruption setzen, weiterhin kann er die notwendige soziale Hilfe zur Selbsthilfe nur garantieren, wenn vorher die notwendigen finanziellen Mittel von einer starken Wirtschaft erarbeitet wurden. Eine Politik, die diese elementaren subsidiären Grundsätze missachtet, führt zu immer mehr Staatsausgaben, zu immer neuen Schulden, zu Abhängigkeit von Finanzmärkten und schließlich zu Umverteilung von unten nach oben – denn die Schulden der Vielen sind die Guthaben der Wenigen.

Irrweg des Zentralismus

Zu diesen fatalen wirtschaftlichen Auswirkungen kommt es zudem umso eher mit umso weitreichenderen Auswirkungen, je größer der politische Machtbereich wird. So soll die politische Macht in Europa nun zur „Harmonisierung“ unterschiedlicher Wirtschafts- und Staatssysteme als Antwort auf die Krise gestärkt werden. Allein: Mehr Zentralismus kann keine Probleme lösen, die durch Zentralismus geschaffen wurden. In gewisser Weise manövriert sich zentralistische Politik immer in ein Dilemma. Denn einerseits nimmt sie den untergeordneten politischen Einheiten die Freiheit, selbst über ihr Fortkommen zu entscheiden. Andererseits halst sich eine solche Politik aber auch eine Verantwortung für diese Einheiten auf und muss mit immer mehr Erlassen und Gesetzen bis ins kleinste Dorf oder auch ins Wohnzimmer hineinregieren. Hinzu kommt: Je unterschiedlicher diese Einheiten strukturell und kulturell geschaffen sind, desto weniger werden einheitliche Maßnahmen auf unterschiedliche Bedingungen abgestimmt sein. Gleichzeitig ersetzt auf Seite der bevormundeten kleineren Einheiten das Anspruchsdenken gegenüber der Zentrale die Kooperationsbereitschaft gegenüber den anderen – ebenfalls bevormundeten – Einheiten: Denn wenn schon die Selbstbestimmung immer mehr zu Gunsten der Befugnisse der Zentrale verschoben wird, dann darf es bitte auch immer etwas mehr für einen selbst und immer etwas weniger für die anderen sein.

Die Folgen eines solchen Großversuchs können aktuell beobachtet werden: Schuldenhaftung für die einen, Spardiktat für die anderen – Zwietracht auf allen Seiten. Die große europäische Idee, die im Sinne des subsidiären Prinzips beispiellosen Wohlstand und Frieden durch wirtschaftlichen Handel und politische Kooperation geschaffen hat, verkommt so immer mehr zur Karikatur ihrer selbst. Die EU selber hat sich seit jeher das Subsidiaritätsprinzip als Ordnungsprinzip zwischen den Mitgliedsstaaten und der suprastaatlichen Ebene auf die Fahnen geschrieben. Sie muss deshalb nicht aufgelöst oder abgewickelt, sehr wohl aber subsidiär reorganisiert werden.

Die so häufig in Sonntagsreden proklamierte europäische Idee verkommt zur hohlen Phrase, wenn die Vielfalt Europas nicht mehr im gegenseitigen Miteinander gelebt, sondern nur noch superstaatlich betreut und verwaltet wird. Die in ihrer institutionellen Eigenlogik der immer weiteren Vereinheitlichung gefangene EU muss sich auf ihre Wurzeln besinnen: Die Einigung Europas gelang nicht deshalb, weil sie von einem sanktionierenden Super-Staat aufgezwungen wurde oder weitreichende Ansprüche gegen einen umverteilenden Super-Staat erhoben werden konnten, sondern weil sie durch wirtschaftlichen Handel, kulturellen Austausch und politische Kooperation der europäischen Länder notwendig und möglich wurde.

Zusammenwachsen statt Vereinheitlichung

Doch dieses Prinzip darf nicht auf ein rein marktwirtschaftliches Kosten-Nutzen-Kalkül oder auf ein politisch-bürokratisches Weisungsverhältnis in der EU reduziert werden. Denn was für die subsidiäre Ordnung auf der zwischenstaatlichen Ebene in Europa richtig ist, gilt auch für die europäischen Gesellschaften selber: Durch die Freiheit zur Selbstbestimmung in kleinen politischen Einheiten wird das so wichtige Verantwortungsbewusstsein der Menschen gestärkt, sowohl für sich selbst als auch für die Familie, den Verein oder die Gemeinde. Eigensucht ist nicht nur Folge einer wachsenden Konsumfixierung, sondern vor allem aufgelöster gesellschaftlicher Bindungen. Wo Menschen nicht mehr aufeinander, sondern nur noch auf den paternalistischen Staat angewiesen sind, kann kein gemeinsamer Wertekanon oder Bürgersinn entstehen.

Gerade aber offene und tolerante Gesellschaften brauchen trotz aller Unterschiede ein Mindestmaß an gemeinsamen kulturellen Werten, gerade um gegenüber der Intoleranz von Extremisten und Fundamentalisten stark zu sein. Der liberale Rechtsstaat schreibt zwar unmissverständlich die Grundsätze der freiheitlich-demokratischen Grundordnung vor, den vielbeschworenen gesellschaftlichen Zusammenhalt kann aber weder er noch sein Pendant – der Sozialstaat – leisten. Oder wie es der ehemalige Bundesverfassungsrichter Böckenförde ausdrückte: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Denn wirklicher Zusammenhalt kann nur im Kleinen und auch nur dann gelingen, wenn die Individuen auch ein vitales Interesse an Bindungen haben, die notwendig sind, wenn sich nicht alle auf einen allzuständigen Vater-Staat verlassen können.

Eine Stärkung des Subsidiaritätsgedankens bedeutet aber gerade keinen nationalistischen Rollback – zumal dieser im besten Falle mit Isolation und im schlimmsten Falle mit Expansion einherginge, beides widerspricht subsidiären Grundsätzen in krassester Form. Niemals und nirgendwo war eine fundamentalistisch oder chauvinistisch legitimierte Gesellschaftsordnung besser und vor allem menschenwürdiger – davon kann sich jeder „Systemkritiker“ noch heute außerhalb Europas leider nur allzu häufig überzeugen. Eine Stärkung der Subsidiarität und die damit einhergehende Bedeutung der dezentralen, demokratisch-souveränen Gemeinschaften kann also gar keine Absage an europäische Kooperation bedeuten. Natürlich muss sich der Mensch von nationalistischen Bindungen, die die Freiheit bedrohen oder gar ersticken, befreien. Die Freiheit des Einzelnen ist schließlich der höchste Wert in einer liberalen Gesellschaft. Aber Freiheit wird in Großbritannien anders als in Griechenland verstanden, sie hat in Frankreich andere Institutionen und Strukturen hervorgebracht als in Deutschland.

Ein abstrakter europäischer Supranationalismus kann deshalb nicht die Lösung sein. Nicht nur, weil die planwirtschaftliche Harmonisierung unterschiedlichster Wirtschafts-, Rechts- und Sozialsysteme ökonomisch sinnlos ist und politisch zu enormen Spannungen führt, sondern weil diese Systeme trotz aller Gemeinsamkeiten auf den jeweiligen historisch gewachsenen kulturellen Bedingungen der einzelnen europäischen Gesellschaften beruhen, die nicht einfach per supranationaler Direktive ausgeblendet werden können.

Trotz der wirtschaftlich und politisch globalisierten Welt sind auch heute noch die demokratischen Nationalstaaten Grundlage für eine stabile Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die durch die zweifellos notwendige europäische und internationale Kooperation ergänzt, nicht aber ersetzt werden sollten.

Natürlich sind gerade liberale Gesellschaften nie starr und verändern sich ständig, dennoch muss dieser Veränderungswille – möglicherweise hin zu einer europäischen Identität – von unten erfolgen und darf nicht von oben durch Vereinheitlichung erzwungen werden. Deshalb wird das Subsidiaritätsprinzip in Zeiten von technokratischen Krisengipfeln heute mehr denn je benötigt: Wir brauchen moderne Bürgergemeinschaften, wo wirtschaftlicher Wohlstand und sozialer Zusammenhalt in dezentralen Strukturen gewährleistet werden. Denn nur eine solch subsidiäre Ordnung hält nicht nur die Auswirkungen von Machtmissbrauch und Misswirtschaft als Folgen des Zentralismus in Grenzen, sondern festigt auch jenseits von politischen Sonntagsreden den Zusammenhalt in und zwischen den europäischen Gesellschaften.

Erstmals erschienen in NovoArgumente.


Photo: David J from Flickr (CC BY 2.0)

Die Banken wackeln wieder. In Italien werden Milliarden-Risiken aus faulen Krediten in eine staatlich gestützte Bad Bank ausgelagert. In Deutschland bricht der Kurs der Deutschen Bank besorgniserregend ein. Und schon werden Erinnerungen an die Jahre 2007/2008 und an 2010 wach. Dabei sollte doch alles besser werden. Mit dem ESM und der Bankenunion sollten doch die richtigen Schlüsse aus der Krise gefunden werden. Die Bankenunion sieht nicht nur eine Zentralisierung der Bankenaufsicht bei der Europäischen Zentralbank vor, sondern umfasst auch einen einheitlichen Abwicklungsmechanismus für marode Banken und vielleicht bald auch eine einheitliche Einlagensicherung im Euro-Raum. Die Bankenunion soll so die Erpressbarkeit der Sparer und Steuerzahler durch die Banken künftig ausschließen. Bei Lichte betrachtet sind an dieser Architektur mehrere Konstruktionsfehler festzustellen.

Erstens: In der schwersten Schuldenkrise von Staaten und Banken in Europa setzt man die Bankenaufsicht nicht völlig neu auf. Wenn von ursprünglich 19 Aufsichten nur noch eine Aufsicht zuständig ist, dann ist dies nicht nur in Schönwetterzeiten bereits organisatorisch eine Herkulesaufgabe. Bei Sturm ist es ein Kamikazeabenteuer. Es wird aber noch zusätzlich verschärft, wenn eine Behörde wie die EZB plötzlich damit betraut wird. Deren Mitarbeiter haben davon nur sehr wenig Ahnung, weil sie bislang aus gutem Grund nichts damit zu tun hatten. Denn wer für die Geldpolitik Verantwortung trägt, kann eigentlich nicht gleichzeitig Banken beaufsichtigen oder im Extremfall sogar schließen. Das beißt sich.

Zweitens: Der beschlossene Abwicklungsmechanismus wird nicht angewandt. In Italien werden die Gläubiger und Eigentümer der Banken nicht beteiligt, sondern die Risiken mit der Bildung einer Bad Bank auf den Steuerzahler verlagert. Schon beim ersten Anwendungsfall versagt das System.

Drittens: Die EU-Kommission will aus 19 unterschiedlichen, nicht-funktionierenden oder schlecht funktionierenden Einlagensicherungssystemen ein neues einheitliches machen. Jede Einlage bei einer Bank in einem Euro-Staat soll dadurch gleich sicher sein, dass alle Sparer für diese Einlage im Zweifel eintreten. Größere Schieflagen kann derzeit schon kein Einlagensicherungssystem im Euroraum bewältigen – nicht einmal das deutsche. Wenn daraus ein zentrales Sicherungssystem entstehen soll, dann wird es dadurch nicht besser. Es wird ein Einlagen-Verunsicherungssystem geschaffen, das im Zweifel den Bankrun nicht verhindert.

Die wachsende Verzweiflung der Handelnden in der Kommission, der EZB und den Regierungen ist auch der Grund für die finanzielle Repression beim Bargeld. Wenn der Finanzminister heute sagt, niemand habe vor, das Bargeld abzuschaffen, dann erinnert das an Jean-Claude Junckers Aussage: „Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, ob was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.“

Der Markt glaubt nicht an den Erfolg dieses zentralistischen Konstruktivismus, weil er sich immer weiter vom eigentlichen Problem entfernt. Die Entkoppelung von Risiko, Haftung und Verantwortung ist die Ursache der Krise. Banken gehen Risiken ein, die ihre Eigentümer und Gläubiger nur dann tragen wollen, wenn es gut geht. Geht es schief, rufen sie nach der Regierung und erpressen sie damit, dass sie behaupten: Wenn wir ein Problem haben, dann hat die Regierung auch eins.

Dieses Erpressungspotential muss durchbrochen werden. Jede Bank oder Bankengruppe muss selbst Vorsorge für den Fall der Schieflage treffen. Wenn das konsequent durchgeführt würde, entstünden sehr wahrscheinlich ganz andere Banken. Sie würden nicht ihre Bilanzsumme in schwindelerregende Höhen treiben, sondern würden das Geld ihrer Kunden verwahren. Die Einleger würden dann von ihrer Bank gefragt, ob sie die Einlage des Kunden weiterverleihen darf und wie lange. Wahrscheinlich würde das System, dass Banken Geld aus dem Nichts durch Kreditvergabe schaffen können, dann nicht mehr so einfach funktionieren. Eine solche dezentral verantwortete Wirtschaftsordnung ist uns nicht fremd. Sie existiert außerhalb des Bankgewerbes überall. Es käme ja auch keiner auf die Idee, bei der Insolvenz einer Großbäckerei die Versorgung mit Brötchen durch eine gesetzliche Einstands- und Versorgungspflicht aller Bäckereien zu sichern. Oder vielleicht doch, Herr Juncker?

 

Photo: Adam Selwood from Flickr (CC BY 2.0)

Eine der zwar viel kritisierten, aber dennoch effektiven Gaben Helmut Kohl war es, unliebsame Probleme einfach auszusitzen. Das konnte er wie kein anderer. Franz-Josef Strauß brachte dies zur Weißglut. Einmal sagte er über Kohl: „Er ist total unfähig. Ihm fehlen die charakterlichen, die geistigen und die politischen Voraussetzungen. Ihm fehlt alles dafür“ – und damit meinte er das Kanzleramt. 1982 kam der Gescholtene dann doch ins Amt – und saß die nächsten 16 Jahre vieles aus.

Verfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle war damals gerade einmal 18 Jahre alt. Doch er hat diesen Geist Kohls tief verinnerlicht. Dies wird besonders deutlich beim Umgang mit der Politik der EZB, die gestern vor dem Karlsruher Verfassungsgericht erneut verhandelt wurde. Bereits 2012 fasste der EZB-Rat den Beschluss, im Zweifel unbegrenzt Anleihen von Krisenstaaten zu kaufen (OMT-Beschluss). Die Klage mehrerer Gruppen vor dem Bundesverfassungsgericht reichten die obersten Richter in Teilen an den Europäischen Gerichtshof weiter, der am OMT-Programm nichts auszusetzen hatte. Jetzt liegt der Fall wieder auf Voßkuhles Tisch und wird erneut verhandelt. Inzwischen sind dreieinhalb Jahre vergangen. Bis das abschließende Urteil erwartet wird, werden vier Jahre vergangen sein.

Die Welt hat sich inzwischen weitergedreht. Das OMT-Programm wurde bislang nie angewandt, sondern durch ein neues Programm ersetzt, abgelöst oder vielmehr verschlimmbessert. Jetzt heißt es EAPP (Expanded Asset-Purchase Program). Auch die Begründung wurde verändert. Die Störung des „Transmissionsriemens“ wurde durch die „Bekämpfung einer drohenden Deflation“ ersetzt. Wer dagegen klagen will, muss wahrscheinlich wieder vier Jahre warten, bis er ein Urteil in der Hand halten kann.

Die EZB, mit all ihrer Kreativität und Chuzpe, ist viel effizienter als die Behäbigkeit eines öffentlich-rechtlichen Verfassungsgerichts in Deutschland. Was ist von Karlsruhe zu erwarten? Bestenfalls nicht viel. Der Prozessvertreter des Deutschen Bundestages Martin Nettesheim wies bereits den Weg, den das Verfassungsgericht gehen könnte. Es könnte Anleihenkäufe definieren, die erlaubt sind und die nicht erlaubt sind. Für dieses Wischiwaschi-Urteil hätte das Verfassungsgericht dann vier Jahre gebraucht. Bemerkenswert!

Doch Richterschelte soll hier nicht geübt werden. Darum geht es nicht. Der Grundfehler dieser Auseinandersetzung ist, dass viele meinen, es sei eine juristische Frage, wie die Geldpolitik der EZB zu interpretieren sei. Das ist es vielleicht in Teilen auch. Dennoch versperrt diese juristisch spitzfindige Diskussion zuweilen den Blick für das Wesentliche. Worum geht es eigentlich? Geht es um die Auslegung von völkerrechtlichen Verträgen, von Verfassungsnormen oder früheren Rechtsprechungen? Nein, es ist zuvorderst eine ökonomische Frage. Löst die Intervention in den Anleihenmarkt in Euro-Raum irgendein Problem? Nach sechs Jahren Euro-Staatsschuldenkrise kann dies bereits empirisch verneint werden. Noch nie waren die Schuldenstände im Süden Europas so hoch und der Beschäftigungsquote so niedrig.

Es ist nahezu irrelevant, ob die EZB nur Anleihen der Krisenstaaten kauft oder von allen Euro-Staaten. Hier geht es allenfalls um die Körnung in der Schrotflinte. Furchtbare Kollateralschäden verursacht jeder dieser Schüsse. Probleme können nicht dadurch gelöst werden, dass die Zentralbank Schulden von Staaten mit Geld aus dem Nichts bezahlt. Würde das funktionieren, wäre Simbabwe reich, wohlhabend und prosperierend.

Der Euro kann unter diesen Voraussetzungen nicht auf Dauer überleben. Die wachsenden ökonomischen Ungleichgewichte innerhalb der Euro-Staaten lassen den Druck auf der Währung immer größer werden, bis sie platzt. Es braucht endlich ein wirksames Ventil, um die Luft aus der Schuldenblase langsam abzulassen. Dieses Ventil kann entweder die Insolvenz von Staaten innerhalb des Euro-Clubs und/oder der Austritt aus dem Euro-Club sein. Gerade in der Fastenzeit sollte man sich daher an den Ökonomen Roland Baader erinnern, der gesagt hat: „Was heute verfrühstückt wird, muss morgen nachgehungert werden.“

Photo: Japanexpertena.se from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Die Europäische Union und mit ihr die europäische Idee der Freiheit stecken seit Jahren in einer Krise. Zwar ist der klassische Ost-West-Konflikt mit dem Fall der Mauer überwunden und viele ehemalige Ostblockstaaten sind inzwischen Mitglied der EU, dennoch hat man den Eindruck, dass sie am Scheideweg steht. Die Euro-Schuldenkrise und erst recht die Einwanderungs- und Flüchtlingskrise zerreißen förmlich den Zusammenhalt, der ja das Anliegen ist, das dem gesamten Projekt zugrunde liegt.

Ressentiments, Misstrauen, Erpressungen, Häme und Schadenfreunde sind an der Tagesordnung. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sagte während und zu der ersten Phase der Griechenland-Krise: „Wenn es ernst wird, muss man lügen“. Der griechische Verteidigungsminister Panos Kammenos drohte der Staatengemeinschaft Anfang 2015, wenn Europa Griechenland nicht ausreichend unterstütze, werde man die Flüchtlinge in Scharen weiterleiten. Und wenn unter den Flüchtlingen auch Mitglieder des IS sein sollten, sei Europa selbst schuld. Diese Beispiele zeigen: Es findet in ein Verfall der Sitten statt.

Warum ist das so? Haben die Bürger, die Politiker und die Regierungen nichts aus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts gelernt?

Wer nur moralisch argumentiert, vergisst, dass die Ursache dieser Entwicklung in der fehlenden Ordnungspolitik zu suchen ist. Walter Eucken, der in diesem Jahr 125 Jahre geworden wäre, gilt als entscheidender Wegbereiter unserer Wirtschaftsordnung. In seinen 1952 erschienen „Grundsätzen der Wirtschaftspolitik“ nannte er konstituierende Prinzipien für eine funktionierende Ordnungspolitik. Er zählte dazu gutes Geld, offene Märkt, Privateigentum, Haftung, Vertragsfreiheit und eine konstante Wirtschaftspolitik. Dies alles habe das Ziel, ein funktionierendes Preissystem sicherzustellen.

Wenn wir diese Prinzipien auf die aktuelle Situation in Europa abklopfen, dann wird klar, dass europäische Politik nicht prinzipienbasiert ist. GUTES GELD zerstört die EZB durch ihre Niedrigzinspolitik und die Staatfinanzierung durch die Notenpresse. OFFENE MÄRKTE drohen durch das Schleifen des Dublin-Abkommens durch Angela Merkel und die mangelnde Sicherung der EU-Außengrenzen zerstört zu werden. PRIVATEIGENTUM setzt die Verfügungsgewalt über das eigene Eigentum voraus. Staatlicher Paternalismus, seien es Mietpreisbremsen, Zwangsbegrünung von Häusern oder das staatlich verordnete Rauchverbot in Hotels- und Gaststätten, höhlen privates Eigentum aus, so dass es nur noch eine leere Hülle ist. Die HAFTUNG ist bei Staaten und Banken ein Fremdwort. Leben sie über ihre Verhältnisse, werden die Gewinne zuvorderst privatisiert und später die Lasten sozialisiert. Spätestens mit der Einschränkung der Bargeldzahlung und gar einem drohenden Verbot derselben wird klar, dass auch die VERTRAGSFREIHEIT immer mehr verschwindet. Das alles hat dann mit einer KONSTANZ DER WIRTSCHAFTSPOLITIK nichts zu tun. Die Regierung, die EU-Kommission und die EZB intervenieren immer stärker und willkürlich in Marktprozesse. Seien es so banale Dinge wie die Regulierung von Plastiktüten, Ölkännchen oder Glühbirnen. Oder so fundamentale Frage wie eine europäische Bankenaufsicht und eine einheitliche Einlagensicherung für alle Banken von Stockholm bis Saragossa.

Wenn die konstituierenden Prinzipien für eine funktionierende Wettbewerbsordnung nicht eingehalten werden, dann kann auch kein funktionsfähiges Preissystem existieren. Und ohne ein funktionierendes Preissystem kann wiederum keine Marktwirtschaft existieren.

Jetzt hilft es nicht, wenn die Brüsseler Bürokratie den Ausweg in einer größeren Koordinierung der Wirtschafts- und Finanzpolitik sieht. Die mangelnde Koordinierung sei der Grund, wieso die Volkswirtschaften im Euro-Club immer weiter auseinanderfallen, heißt es bei den Befürwortern. Doch mehr Zentralismus heilt nicht die Prinzipienlosigkeit in Europa. Die Prinzipienlosigkeit ist gleichbedeutend mit dem Vorrang des Primats der Politik. Dieses Primat der Politik ist die Ursache der Krisen und gleichzeitig der Grund für die Verschleppung, Verschleierung und Verniedlichung der Probleme. Und dies wiederum ist der Grund, wieso extreme Parteien von rechts und links Wahlerfolge in Europa feiern. Es ist die Flucht des Wählers vor der Lösungsinkompetenz der etablierten Parteien. Und genau hier liegt die Chance für eine Bewegung, die die Marktwirtschaft, das Recht und die Freiheit des Einzelnen im Herzen trägt. Sie muss für ein Primat von Recht und Freiheit stehen, dem ein Primat der Politik untergeordnet ist. Sie zu nutzen, ist nicht nur eine Überlebensfrage für ein friedliches Europa, sondern für eine freie Gesellschaft.

Erstmals erschienen beim Liberalen Netzwerk.