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Die ersten Schockmomente über die Abstimmung zum Brexit sind verflogen. Inzwischen taktieren die Beteiligten, was das Zeug hält. Aktuell machen es die Briten besser als die Rest-EU. Eigentlich hatten die Staats- und Regierungschefs erwartet, dass die britische Regierung bereits beim Europäischen Rat in dieser Woche ein formales Verfahren zum Austritt aus der EU beantragt. Danach würden sich zweijährige Verhandlungen anschließen, an deren Ende eine Vereinbarung stünde, die den Austritt und die danach folgende Zusammenarbeit der Briten mit der Rest-EU regeln sollte. Dies ist bislang nicht geschehen. Stattdessen setzt Noch-Premier David Cameron auf Zeit. Erst kündigt er seinen Rücktritt für Oktober an und besucht, als wenn nichts wäre, den Europäischen Rat in Brüssel als einer von 28. Einen Antrag stellte er jedoch nicht. Und dann winkt auch noch sein potenzieller Nachfolger Boris Johnson ab. Die Torys geben sich führungslos und sind es wahrscheinlich auch. Ob beabsichtigt oder nicht, diese Zeit des Interregnums ist für die Briten sehr hilfreich. So lange sie noch nicht offiziell einen Antrag nach Artikel 50 des EU-Vertrages auf Austritt aus der EU gestellt haben, behalten sie die Oberhand. Sie sind Herr des Verfahrens und gleichzeitig noch vollwertiges Mitglied der EU, mit Sitz und Stimme. Diejenigen, die als Konsequenz aus der Brexit-Entscheidung die EU jetzt noch enger und tiefer entwickeln wollen, benötigen dazu also auch die Zustimmung der Briten.

Die Rest-EU muss daher geduldig auf den ersten Zug der Briten warten. Bis dahin gibt Cameron den Takt vor. Er kann parallel das Feld vorbereiten, bilateral verhandeln und die Lage ausloten, welchen Weg die Briten gehen sollen. Dazu bieten sich mehrere Möglichkeiten an. Die Briten können einen Austritt nach Artikel 50 beantragen und befinden sich dann in einem starren Korsett der Europäischen Verträge. Sie können aber auch außerhalb dieses Regelwerkes einen Austritt verhandeln, an dessen Ende ein völkerrechtlicher Vertrag steht, der die Zusammenarbeit der Rest-EU mit Großbritannien regelt. Egal, welchen Weg sie wählen, die anschließende Zusammenarbeit kann ebenfalls sehr unterschiedlich vereinbart werden. Sie kann aus einer Fülle von Einzelvereinbarungen mit der Rest-EU wie bei der Schweiz bestehen oder aus einer Kollektivvereinbarung mit der Rest-EU wie es der Europäische Wirtschaftsraum EWR bei Norwegen ist.

Vielleicht nutzen die Schweiz und Norwegen auch die Situation, um mit Großbritannien die Europäische Freihandelszone EFTA zu stärken. Bis 1974 gehörte Großbritannien bereits diesem Verbund an. Dies hätte heute durchaus seinen Charme. Derzeit besteht der lose Zusammenschluss lediglich aus den 14 Millionen Bürgern Norwegens, der Schweiz, Islands und Liechtensteins. Mit Großbritannien würden auf einen Schlag weitere 65 Millionen Bürger hinzukommen, die es der EFTA erlaubten, den Handel mit der EU auf Augenhöhe verhandeln zu können. Derzeit müssen die übrigen Staaten in Europa bis 2018 rund 2,8 Milliarden Euro auf den Tisch legen, damit sie überhaupt den Zugang zum EU-Binnenmarkt erhalten. So eine Maßnahme kann die EU nur deshalb durchsetzen, weil die Binnenmärkte der vier EFTA-Staaten sehr klein sind. Kommen die Briten hinzu, dann ändert sich die Verhandlungssituation erheblich zugunsten der EFTA-Staaten. Das wäre sehr gut. Denn aktuell ist der EU-Binnenmarkt eine Wagenburg. Wer drin ist, kann die Vorteile nutzen. Wer rein will, muss vorab ein Handgeld bezahlen.

Dieses Verständnis folgt einem alten Denken aus der Zeit vor der Industrialisierung. Damals ging es darum, Reichtümer zu Lasten anderer anzusammeln. Man glaubte, dass die Wirtschaft ein Nullsummenspiel sei. Was der eine mehr hat, verliert der andere. Doch die Marktwirtschaft ist nicht so. Sie ist kein Nullsummenspiel, sie ist eine Win-Win-Situation. Beide Seiten profitieren in einer offenen Wirtschaft. Wenn, wie beim EU-Binnenmarkt, Marktteilnehmer der Zutritt verwehrt wird, dann schadet dies nicht nur den Marktteilnehmern, die nicht hinein dürfen, sondern auch den potenziellen Käufern dieser Waren und Dienstleistungen. Sie können weniger gut auswählen, weil das bestehende Angebot teurer und schlechter ist als in einem offenen Markt.

Beide Seiten müssen daher ein Interesse daran haben, den Markt möglichst weit zu öffnen. Dass die EU die kleinen Staaten, wie einst der Pharao im alten Ägypten tributpflichtig macht, hat korrupte Züge. Der Brexit ist ein guter Anlass, diese Praxis endlich zu beenden.

Erstmals erschienen in der Fuldaer Zeitung am 2.7.2016.

Photo: Mehr Demokratie from Flickr (CC BY-SA 2.0)

„Das Volk hat entschieden.“ „Ein Sieg für die Demokratie.“ „Das Volk hat gegen die Eliten rebelliert.“ Kurz: Das Brexit-Votum war ein Paradebeispiel für gelungene Demokratie. Solche und ähnliche Äußerungen waren in den letzten Tagen bei Befürwortern des Brexit vermehrt zu lesen. Fast unverhohlen der Jubel, dass die einfachen Menschen es „denen da oben“ jetzt mal gezeigt haben. Dass sie sich zurückerobern, was nach Recht und Billigkeit das Ihre ist: die Volkssouveränität. Mit Verlaub: dieser Jubel ist grotesk. Er erinnert an die Argumentationsweise übereifriger Politikamateure, die das Wort „undemokratisch“ als Synonym für „dies ist nicht meine Meinung, ich halte sie für böse“ verwenden.

Volk ist eine Fiktion

Das Volk hat vor einer Woche im Vereinigten Königreich überhaupt nichts entschieden. Eine solide, wenn auch nicht überwältigende Mehrheit von 1,27 Millionen Briten, die zur Wahl gegangen sind, haben sich für die Option „Leave“ ausgesprochen. Insgesamt haben 46,5 Millionen Briten abgestimmt. Das Votum ist klar und es ist auf demokratischem Wege zustande gekommen. Es ist aber keineswegs eine Entscheidung des britischen Volkes.

Was soll das überhaupt sein, dieses britische Volk? Obwohl Großbritannien mit etwa 64 Millionen Einwohnern ein Stück kleiner ist als Deutschland, ist es vielleicht noch heterogener als unser Land. Es gibt signifikante Einkommensunterschiede: das BIP in London ist doppelt so hoch wie in der Gegend um Newcastle oder in Wales. Es gibt ausgeprägte Eliten-Schichten und -Traditionen und auf der anderen Seite eine verhältnismäßig große Gruppe an Bürgern, die in prekären Verhältnissen Leben, die sich zum Teil schon über Generationen hinziehen. (Der Gini-Koeffizient des Landes liegt bei 36 – zum Vergleich: in Deutschland, Österreich und der Schweiz liegt er zwischen 26 und 28,3 Punkten.)

Die Fliehkräfte innerhalb des Landes sind erheblich: das hat das schottische Unabhängigkeits-Referendum ebenso gezeigt wie die letzte Parlamentswahl und die jüngste Brexit-Abstimmung. Traditionell gibt es stark ausgeprägte Subkulturen – von den Katholiken in Nordirland über Inder, Pakistaner und Bangladeschis bis hin zu den Einwanderern aus der Karibik. Neben James Bond, Afternoon Tea und der Königin gibt es wenig Verbindendes. Das englische Volk ist eine Fiktion (ebenso wie das europäische Volk, von dem manche der wüsten EU-Romantiker träumen – da treffen sich beide Seiten …).

Wer „dem Volk“ Eigenschaft, Wille und Tätigkeit zuschreibt, der marginalisiert das Individuum

Überhaupt sind solche Kollektivbegriffe tunlichst zu vermeiden für jeden, dem der Wert des Individuums am Herzen liegt. Ist es schon logisch nicht möglich, dass ein Kollektivkörper von zig Millionen Menschen eine Entscheidung treffen kann, so ist eine solche Sprache auch das Einfallstor für die Feinde der Freiheit von rechts und links. Wie oft hört man in den Reden von Pablo Iglesias, Marine Le Pen, Victor Orban oder Sarah Wagenknecht, dass sie die Stimme des Volkes seien? Mit Schlagworten wie „schweigende Mehrheit“ oder „die einfachen Leute“ schwingen sich Feinde der Freiheit auf zu Volkstribunen und maßen sich an, für eine völlig unüberschaubare Gruppe zu sprechen. Wer den Begriff „Volk“ abseits des abstrakten juristischen Sprachgebrauchs nutzt; wer „dem Volk“ Eigenschaft, Wille und Tätigkeit zuschreibt, der marginalisiert das Individuum.

Demokratie ist kein Wert in sich. Demokratie ist ein Verfahren zur Ermittlung zustimmungsfähiger Entscheidungen und zum unblutigen Herrschaftswechsel. Mehr nicht. Dieses Verfahren ist wertvoll, weil es Mitsprache ermöglicht und Konflikte eindämmt. Aber es ist kein absoluter Wert, sondern lediglich Bedingung der Möglichkeit von Freiheit und Selbstbestimmung. Dass Demokratie nicht notwendigerweise diese Ergebnisse zeitigt, demonstrierten und demonstrieren Politiker wie Hugo Chavez, Vladimir Putin oder Recep Erdogan sehr eindrücklich, die alle auf demokratischen Wegen ins Amt gekommen sind. Alexis de Tocqueville warnte schon vor über 150 Jahren, die Demokratie könne zu einer „Tyrannei der Mehrheit“ ausarten. Seine Mahnung hat sich seitdem immer wieder eindrucksvoll bestätigt.

Demokratie ist niemals für sich genommen gut. Demokratie bedarf einer Bestimmung, um gute Wirkungen zu zeitigen. Es gehört zu den großen Leistungen der Autoren des Grundgesetzes, dass Sie das Wort demokratisch in der Regel mit dem Wort freiheitlich kombiniert haben und zugleich die Bedeutung des Rechtsstaates betont haben. Demokratie ist nur solange gut, wie sie das Individuum schützt.

Weltweit berufen sich Freiheitsverächter auf das Votum einer Mehrheit

Zurück zum Brexit: Natürlich steht außer Frage, dass das Referendum in einem Land durchgeführt wurde, das keine ernsthaften Zweifel zulässt an seiner freiheitlichen Tradition und Prägung, ja eine der wichtigsten Brutstätten freiheitlichen Gedankenguts überhaupt ist. Die unterlegenen Bürger tun gut daran, sich an die Spielregeln des demokratischen Geschäfts zu halten – auch an die inoffiziellen, sprich: Die Verteufelung der anderen Wähler zu vermeiden („xenophobe alte Männer, die uns unsere Zukunft versauen“).

Auf der anderen Seite sollten jene, die sich in der Tradition der – gerade englischen und schottischen – Aufklärung sehen, keine unkritische Verherrlichung der Demokratie betreiben. Das ist gerade heute gefährlich in einer Zeit, in der autoritäre und freiheitsfeindliche Politiker weltweit Oberwasser haben. Von den Philippinen bis Polen, in Ungarn, Russland, Venezuela und der Türkei können sich Freiheitsverächter auf das Votum einer Mehrheit berufen. Sie berufen sich auf den Auftrag des Volkes bei ihrem Unterfangen, die Errungenschaften der Bürgergesellschaft zurückzudrängen.

Es ist an der Zeit, Demokratie neu zu denken

Der Demokratie gebührt Respekt. Die Freiheit verdient Leidenschaft. Nicht umgekehrt. Denn es waren oft nicht demokratische Entscheidungen, die zu einem Mehr an Freiheit geführt haben. Es war in den meisten Fällen der entschlossene und mutige Einsatz von einzelnen Personen, die diese Welt verbessert haben – oft gegen den Widerstand breiter Mehrheiten. Die Sklavenbefreier, die Sufragetten und die Homosexuellenaktivisten sahen sich solchen Mehrheiten gegenüber. Die Vordenker unserer heutigen Freiheit waren oft genug einsame Menschen auf verlorenem Posten: von Richard Cobden über Ludwig von Mises bis zu Kurt Tucholsky. Niemals hätten sie zu ihrer Zeit Mehrheiten für ihre Überzeugungen gewinnen können. Wir aber ernten heute, was sie gesät haben.

Es ist an der Zeit, Demokratie neu zu denken. Gerade angesichts der demokratisch zustande gekommenen und kommenden Bedrohungen der Freiheit. Ein guter Denkanstoß mag in dem stecken, wie der englische Historiker Lord Acton die athenische Demokratie beschrieb: „Indem Solon jeden Bürger zum Wächter seiner eigenen Interessen machte, führte er das demokratische Element in den Staat ein.“ Demokratie bedeutet dann nicht mehr nur das reine Prozedere von Mehrheitsentscheidungen. Demokratie kann in diesem neuen Verständnis bedeuten, dass die Bereiche, in denen Menschen per Mehrheit über andere entscheiden, so weit wie möglich reduziert werden, damit jeder der Wächter seiner eigenen Interessen sein kann.

Und das sagen andere zum Thema:

Die abstrakte Anerkennung des Prinzips der Volkssouveränität vermehrt in nichts das Maß der Freiheit des Einzelnen, und wenn man dieser Souveränität einen Spielraum zuerkennt, den sie nicht haben sollte, kann die Freiheit diesem Prinzip zum Trotz oder sogar durch seine Einwirkung zugrunde gehen.
(Benjamin Constant, Grundprinzipien der Politik)

Das wahre demokratische Prinzip, dass keiner über das Volk Macht haben soll, wird so ausgelegt, dass keiner imstande sein soll, dessen Macht zu beschränken oder zu entkommen. Das wahre demokratische Prinzip, dass das Volk nicht gezwungen werden soll, zu tun, was es nicht will, wird so ausgelegt, dass es niemals gezwungen werden sollte, zu tolerieren, was ihm nicht gefällt. Das wahre demokratische Prinzip, dass der freie Wille eines jeden Menschen so unbehindert wie möglich sein soll, wird so ausgelegt, dass der freie Wille des gesamten Volkes durch nichts aufgehalten werden soll.
(Lord Acton, Sir Erskine May’s Democracy in Europe)

… er [Lord Acton] ist gegen die verhängnisvollste und gefährlichste von allen Fehlvorstellungen von Demokratie – gegen den Glauben, dass wir die Ansichten der Majorität als die richtigen und für die zukünftige Entwicklung bindenden annehmen müssen.
(Hayek, Wahrer und falscher Individualismus)

Der dogmatische Demokrat erachtet es als wünschenswert, dass möglichst viele Fragen durch Mehrheitsbeschluss entschieden werden, während der Liberale meint, dass es für den Bereich der Fragen, die so entschieden werden sollen, bestimmte Grenzen gibt. … Der Zentralbegriff des doktrinären Demokraten ist der der Volkssouveränität. Das heißt für ihn, dass die Herrschaft der Mehrheit unbeschränkt und unbeschränkbar ist. Das Ideal der Demokratie, die ursprünglich alle willkürliche Gewalt verhindern sollte, wird damit zur Rechtfertigung für eine neue willkürliche Gewalt.
(Hayek, Verfassung der Freiheit)

Die Idee der Allgewalt der Mehrheit ist … eine notwendige Folge der irrigen Ansicht, dass ein bestimmtes Verfahren zur Feststellung der Meinung der Mehrheit auf alle möglichen Fragen eine Antwort geben müsse, die wirklich die Meinung der Mehrheit widergibt. Dieser Irrtum hat zu dem merkwürdigen Glauben geführt, dass das bestehende demokratische Verfahren stets das gemeinsame Beste erzeuge, einfach, weil das gemeinsame Beste als das Ergebnis dieses bestimmten Entscheidungsverfahrens definiert ist.
(Hayek, Die Anschauungen der Mehrheit und die zeitgenössische Demokratie)

Wenn man darauf beharrt, dass Demokratie unbeschränkte Regierung bedeutet, dann glaube ich nicht an die Demokratie.
(Hayek, Die Sprachverwirrung im politischen Denken)

Wer das Prinzip der Demokratie in diesem Sinne akzeptiert, ist also nicht gezwungen, das Resultat einer demokratischen Abstimmung als einen autoritativen Ausdruck dessen anzusehen, was Recht ist. Er wird die Entscheidung der Majorität akzeptieren, um den demokratischen Institutionen die Arbeit zu ermöglichen. Es steht ihm aber frei, diese Entscheidung mit demokratischen Mitteln zu bekämpfen und auf ihre Revision hinzuarbeiten.
(Popper, Die Offene Gesellschaft und ihre Feinde)

Erstmals erschienen bei Peace Love Liberty.

Photo: Sue Clark from Flickr (CC BY 2.0)

Nach der Brexit-Entscheidung Großbritanniens konnte man in den heimischen Medien den Eindruck gewinnen, die Briten hätten den Weg der masochistischen Selbstbestrafung gewählt. Die Frage lautete unisono in verstörendem Ton: Warum votiert eine Mehrheit für eine unsichere Zukunft, anstatt weiter Platz im warmen Schoß der Europäischen Union zu nehmen? Hatte Obelix also doch recht, als er sagte: „Die Spinnen, die Briten.“

Diese Berichterstattung ist wohl der Tatsache geschuldet, dass niemand wirklich mit dem Austritt gerechnet hat. Es hat die Staats- und Regierungs-Chefs in der Europäischen Union förmlich aus ihrem „weiter-so-Tiefschlaf“ gerissen. Schon länger befindet sich die Europäische Union in der Sinnkrise und muss dringend auf die Behandlungsliege beim Therapeuten. Das kann man schon daran festmachen, wie die EU mit Staaten in Europa umgeht, die bewusst nicht Mitglied der EU sind.

Von Norwegen und der Schweiz lässt sich die EU beispielsweise deren Zugang zum Binnenmarkt mit Milliarden-Beträgen bezahlen. Die FAZ schreibt, dass die EU so bis 2018 rund 2,8 Milliarden Euro von europäischen Staaten kassiert. Eigentlich ein ungeheuerlicher Vorgang. Warum sollen die Schweiz, Norwegen und bald auch Großbritannien die Landwirtschaft in anderen Ländern subventionieren müssen? Und warum sollen diese Länder den Straßenbau in Polen, Griechenland und Portugal fördern müssen?

Da verhandelt die EU auf der einen Seite mit Kanada und den USA über Freihandelsabkommen, um Handelsschranken und Zölle zu beseitigen, und vor der eigenen Haustüre verlangt die EU einen Globalzoll, sonst errichtet sie in napoleonischer Manier eine Kontinentalsperre. Vor 210 Jahren waren es in Europa noch andere Zeiten. Der Freihandel war noch ein zartes Pflänzlein und bahnte sich erst langsam mit den Schriften von Adam Smith und David Ricardo über England hinaus seinen Weg.

Doch heute müssten die Handelnden auf diesem Kontinent eigentlich klüger sein. Mit welchem Recht verteuert die EU den freien Warenverkehr in Europa? Was macht es für einen Unterschied, ob ein Kunde in Deutschland eine Uhr aus Deutschland, Frankreich oder der Schweiz kauft? Verkäufer und Käufer sind diejenigen, die sich einigen müssen. Es darf keinen Unterschied machen, aus welchem Land die Uhr kommt. Mit welchem Recht verteuert die EU daher indirekt die Waren in der EU und für alle hier lebenden Bürger?

In ihrer gestrigen Regierungserklärung hat Angela Merkel ihre Lehren aus der britischen Entscheidung gezogen. Sie sagte: „Wer beispielsweise freien Zugang zum europäischen Binnenmarkt haben möchte, der wird im Gegenzug auch die europäischen Grundfreiheiten und die anderen Regeln und Verpflichtungen akzeptieren müssen“.

Wer den Satz Merkels zu Ende denkt, kommt schnell zum Ergebnis, dass dieser Anspruch in der Sackgasse endet. Gilt das auch für die USA, Japan oder China? Sollen diese Länder auch die Sozialstandards, Wochenarbeitszeiten und Mindestlöhne in der EU erfüllen müssen? Wohl kaum. Wenn dies so wäre, dann würde der Welthandel schnell zum erliegen kommen. Merkels Satz unterstellt, dass die eine oder andere Grundfreiheit eine Kröte ist, die man schlucken muss, um mitmachen zu dürfen. Doch das ist nicht so.

Deutschland profitiert von den Grundfreiheiten des Binnenmarktes unabhängig davon, ob andere Staaten nachfolgen. Die Bürger in Deutschland erhalten durch den Binnenmarkt billigere und bessere Waren und Dienstleistungen als vorher. Unternehmen können rechtssicherer als bisher investieren. Und der Arbeitsmarkt wird viel besser mit qualifizierten Arbeitnehmern versorgt, als wenn es keine Personenfreizügigkeit gäbe.

Dennoch kann ein Land für sich entscheiden, diese Vorzüge nicht zu wollen. Sie wollen vielleicht ihren Sozialstaat konservieren und nicht einem Systemwettbewerb aussetzen. Das halte ich zwar für falsch, dennoch ist die demokratische Selbstschädigung einer Gesellschaft durchaus erlaubt. Durch den Austritt Großbritanniens droht die EU frankophiler zu werden. Eigentlich müssten jetzt die „Kontinentalsperren“ in den Köpfen beseitigt werden. Ansonsten droht die EU im Protektionismus zu versinken. Bekanntlich endete auch Napoleons Kontinentalsperre gegen England wenige Jahre später in Waterloo.

Erstmals erschienen bei Tichys Einblick.

Photo: Hans Hansson from Flickr (CC BY-ND 2.0)

Von Prof. Roland Vaubel, emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre und Politische Ökonomie an der Universität Mannheim.

Der neue britische Premierminister hat die Wahl: Er kann mit Zustimmung des Unterhauses das Austrittsverfahren nach Artikel 50 EUV in Gang setzen, oder er kann versuchen, den Austritt im Rahmen einer Vertragsänderung zu vereinbaren. Das Verfahren nach Artikel 50 erlaubt ihm, den Zeitplan zu bestimmen: Er kann erzwingen, dass Grossbritannien nach zwei Jahren – also innerhalb der laufenden Legislaturperiode – aus der EU ausscheidet. Für das Vertragsänderungsverfahren könnte dagegen sprechen, dass die Austrittsmodalitäten, die er mit den anderen Mitgliedstaaten vereinbaren kann, nicht vom Europäischen Parlament, sondern von den nationalen Parlamenten genehmigt werden müssen.

Eine Änderung der Verträge wird von den verschiedensten Seiten und aus den verschiedensten Motiven gefordert – auch vom deutschen Finanzminister Schäuble und vom französischen Präsidenten Hollande -, aber erst nach den Wahlen im nächsten Jahr. Für den neuen britischen Premierminister könnte das zu lange dauern. Er könnte ad infinitum hingehalten werden. Deshalb wird er sich nicht auf eine Vertragsänderung verlassen wollen, sondern mit beiden Strategien spielen. Die Option der Vertragsänderung kann ihm dazu dienen, das Europäische Parlament unter Druck zu setzen.

Das Austrittsverfahren nach Artikel 50 beginnt mit der Übermittlung der Austrittsentscheidung. Diese Notifikation ist endgültig. Sie kann nicht zurück gezogen werden, wenn die von den Anderen angebotenen Austrittsmodalitäten ungünstiger als erwartet sind. Aber die Verhandlungen können im gegenseitigen Einvernehmen über die zwei Jahre hinaus beliebig verlängert werden. Geht man davon aus, dass die anderen Mitgliedstaaten nicht am Austritt des britischen Nettozahlers interessiert sind, so ist damit zu rechnen, dass sie die Verhandlungen nach Kräften in die Länge ziehen und innerhalb der ersten zwei Jahre kein akzeptables Angebot vorlegen werden, wenn nicht die britische Seite von vorne herein eine Verlängerung der Verhandlungen ausschliesst. Der neue britische Premierminister wird der EU daher vermutlich von Anfang an mitteilen, dass eine Verlängerung der Verhandlungen über zwei Jahre hinaus keinesfalls in Frage kommt.

Interessanterweise haben sich Kommissionspräsident Juncker und Parlamentspräsident Schulz für einen möglichst schnellen Abschluss der Austrittsverhandlungen nach Artikel 50 ausgesprochen. Sie scheinen verhindern zu wollen, dass Grossbritannien noch Mitglied ist, wenn Ende 2017 die geplanten Verhandlungen über die Änderung der europäischen Verträge beginnen. Die Briten sollen nicht die Möglichkeit haben, mit einer Blockierung der Vertragsänderungen zu drohen und damit ihre Verhandlungsposition zu stärken. Diese Befürchtung ist jedoch unbegründet, denn auch die EU kann ja verhindern, dass die Austrittsverhandlungen nach Artikel 50 länger als zwei Jahre dauern. Wenn die Austrittsentscheidung im vierten Quartal dieses Jahres übermittelt wird, kann die Neufassung der europäischen Verträge ab dem vierten Quartal 2018 von den Parlamenten der Mitgliedstaaten ratifiziert werden. Viel schneller wird es ohnehin nicht gehen.

Artikel 50 EUV sieht vor, dass eventuelle Nachfolgevereinbarungen mit Großbritannien von einer qualifizierten Mehrheit des Rates (ohne Großbritannien) und von einer einfachen Mehrheit des Europäischen Parlaments (kuriosererweise einschliesslich der britischen Abgeordneten) gebilligt werden müssen. Die Kommission darf nicht mitentscheiden. Sie muss aber nach Artikel 218 Absatz 3 AEUV gleich zu Beginn der Verhandlungen dem Rat Empfehlungen vorlegen. Der Rat braucht sich nicht an die Empfehlungen zu halten. Er bestellt einen Verhandlungsführer. Viel hängt davon ab, ob die Verhandlungen vom Ratspräsidenten Tusk oder von einem Mitglied der Kommission geführt werden.

Der neue britische Premierminister wird vermutlich ein Engländer sein. Er hat kein Interesse daran, dass Schottland vor dem hoffentlich erfolgreichen Abschluss der Austrittsverhandlungen – oder wenn es nicht dazu kommt, vor Ablauf der Zwei-Jahres-Frist – erneut über seine Unabhängigkeit abstimmt.

Jede Sezession – die britische, aber auch eine schottische – ist ein Akt der politischen Dezentralisierung. Sie stärkt den Wettbewerb zwischen den Regierungen der verschiedenen Staaten, eröffnet den Bürgern mehr Wahlmöglichkeiten und hält daher die staatliche Besteuerung und Regulierung im Zaum. Sie stärkt die Innovation und die Freiheit des Einzelnen. Das setzt natürlich voraus, dass die Freiheit des Handels und Kapitalverkehrs erhalten bleibt.

Photo: British High Commission from Flickr (CC BY-ND 2.0)

Es hat etwas von Sonnenkönig, wenn EU-Parlamentspräsident Martin Schulz sich im Vorfeld des britischen Referendums über deren Verbleib in der EU äußerte. „Wer geht, geht“. Die Befürworter dürften nicht darauf spekulieren, „nach einem Brexit auf Zeit zu spielen und eine möglichst gute Vereinbarung mit den EU-Partnern herauszuhandeln.“ Ungewollt gab Martin Schulz den Brexit-Befürwortern noch Argumente an die Hand. War doch der Souveränitätsverlust Großbritanniens eines der Hauptargumente der EU-Gegner. Jetzt ist es passiert. Die Briten haben mehrheitlich für den Brexit gestimmt.

Und nun fällt Martin Schulz seine Aussage vor die eigenen Füße. So redet eigentlich keiner, der den Geist eines friedlichen Europas aufgesogen hat. So redet vielleicht ein absolutistischer Herrscher in der Zeit des Merkantilismus, wo es darum ging, dem anderen etwas wegzunehmen und möglichst viel selbst zu behalten. Es zeigt die Kleingeistigkeit der Brüsseler Nomenklatura. Sie hat insgesamt den Wink Großbritanniens nie verstanden. Eigentlich ist der Brexit eine Chance für die Europäische Union. Zwingt sie diese doch zum Nachdenken über den eingeschlagenen Weg. Es kann eigentlich von niemandem mehr bezweifelt werden, dass sich die EU in einer schweren, schwelenden Krise befindet. Doch Reformen sind Mangelware.

Die Lehre aus dem Verfassungsentwurf 2004, der an Referenden in Frankreich und den Niederlanden gescheitert ist, war, dass die Vertiefung der EU nicht mehr mit umfangreichen Vertragsänderungen erfolgen sollte, sondern lediglich im Rahmen der Interpretation des Lissabonner Vertrags. Dieser trat 2009 in Kraft und ist seitdem Grundlage jeglicher Erweiterungsmaßnahmen. Seitdem gab es keine substanziellen Vertragsänderungen mehr. Alles wurde seitdem so ausgelegt, als gäbe es der Lissabonner Vertrag her. Die Griechenland-Hilfen und die Bankenunion sind nur zwei Beispiel, wo die EU-Institutionen die EU-Verträge soweit bogen, dass auch das Gegenteil dessen, was in den Verträgen steht, beschlossen werden konnte. Die Folge dieser Entwicklung ist, dass aus bislang guten Nachbarn Schuldner und Gläubiger gemacht wurden, die so eng mit einander verbunden sind, dass der nächste Zentralisierungsschritt darüber erzwungen werden kann. Soweit die Hoffnung und die Strategie der Eurokraten. Doch diese Vorgehensweise wird scheitern. Sie wird deshalb scheitern, weil sie keine Akzeptanz bei den Bürgern hat. Sie fühlen sich mehr und mehr hintergangen.

Die Krise der EU ist daher in erster Linie eine Akzeptanzkrise. Die Bürger in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union werden nicht mitgenommen. Die Prozesse werden nicht ausreichend rückgekoppelt und das vereinbarte Recht hat nicht einmal die Halbwertzeit von übermorgen. Die ursprüngliche Stärke der Union, die Freizügigkeit und der Binnenmarkt, werden durch neue Regulierungsbürokratien auf europäischer Ebene wieder in Frage gestellt. Diese neuen Bürokratien dienen zunehmend nicht der Marktöffnung, sondern sind Markteintrittsbarrieren für kleinere und mittlere Unternehmen. Sie fördern eine staatliche gelenkte Oligopole. Denn nur große Unternehmen können vielfach noch den regulatorischen Aufwand für den Binnenmarkt leisten.

Und die EU tritt zunehmend als Hegemon gegenüber den kleinen Staaten innerhalb und außerhalb der Europäischen Union auf. Schon heute haben kleine Staaten nur einen sehr geringen Einfluss auf die Ratspolitik. Sie werden am goldenen Zügel geführt und gelenkt. Nicht ein „Europa des Rechts“ sondern „Zuckerbrot und Peitsche“ sind die Ordnungsprinzipien der Europäischen Union. Länder außerhalb der EU, wie die Schweiz, werden unter Druck gesetzt, sämtliche Forderungen der EU bedingungslos zu übernehmen, ansonsten droht ihnen der Verlust des Zugangs zum EU-Binnenmarkt. Der wohlstandsfördernde Geist offener Grenzen und der friedensstiftende Wert, den der freie Warenverkehr stiftet, tritt gegenüber machtpolitischen Überlegungen zunehmend in den Hintergrund. Es geht nicht mehr darum, dass Unternehmen und Kunden sich auch grenzüberschreitend austauschen, wie sie es für gut und richtig empfinden, sondern eine Übermacht in Brüssel hebt oder senkt den Daumen.

Gleichzeitig wird hinter dieser Entwicklung auch der Hegemonialanspruch Deutschlands gesehen. Unterschwellig ist dies der eigentliche Spaltpilz Europas. Deutschlands ökonomische Stärke ist zwar anerkannt, wirkt aber auf viele Mitgliedsstaaten erdrückend. Der Euro wirkt für viele Staaten wie ein Korsett, das ihnen die Luft zum Atmen nimmt. Eigentlich müßte der Euro atmen, wenn er überleben will, ansonsten geht ihm über kurz oder lang die Luft aus. Es muss also geordnete Austrittsmöglichkeiten aus dem Euro für diejenigen geben, die es nicht schaffen oder nicht schaffen wollen.

Vor diesem Hintergrund ist der Brexit ein Geschenk. Er ermöglicht den Handelnden innezuhalten. Grundsätzlich die Diskussion über die Frage zu führen: Welche Europäische Union wollen wir eigentlich?

Der Verfassungsentwurf 2004 ist mit Recht gescheitert. Er war zu kompliziert und unverständlich. Der Beschluss Großbritanniens, Verhandlungen über den Ausstieg aus der EU zu beginnen, sollte die EU insgesamt veranlassen jetzt innezuhalten. Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, über die Europäischen Verträge neu nachzudenken. Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt einen Konvent für Europa einzuberufen, der die Verträge auf eine neue demokratische und rechtsstaatliche Basis stellt. Und vielleicht auch mit dem Dogma Schluss macht, immer von einer „ever closer union“ zu sprechen. Oftmals ist weniger mehr.

Vielleicht sollten sich die Staats- und Regierungschefs in der EU an diesem Tag an Margret Thatcher orientieren. Sie hat zur Rolle Großbritannien in Europa einmal gesagt: „Großbritannien träumt nicht von einer behaglichen, isolierten Existenz am Rande der Europäischen Gemeinschaft. Unsere Bestimmung liegt in Europa, als Teil der Gemeinschaft. Die Gemeinschaft ist kein Selbstzweck. Genauso wenig ist sie eine Einrichtung, die beständig verändert werden darf nach dem Diktat eines abstrakten intellektuellen Konzepts. Sie darf sich auch nicht verknöchern durch unaufhörliche Regulierungen. Die Europäische Gemeinschaft ist ein zweckmäßiges Mittel, mit dessen Hilfe Europa Wohlstand und Sicherheit seiner Bewohner auch in Zukunft garantieren kann.“