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Photo: Dr Les from Flickr (CC BY 2.0)

Das CETA-Abkommen kommt doch noch. Alle Freihandelsgegner haben zu früh gejubelt. Dennoch ist die EU am Scheideweg. Die Handelnden in Brüssel und insbesondere in Berlin sind selbst schuld am Schlamassel. Denn es war lange unklar, ob CETA ein gemischtes Abkommen ist oder nicht, ob es also der Zustimmung der Mitgliedsstaaten bedarf.

Die EU-Kommission vertrat Anfang Juni noch die Auffassung, dass Freihandelsabkommen ausschließlich in die Zuständigkeit der EU falle und die Zustimmung der nationalen und regionalen Parlamente nicht erforderlich sei. Die Kommission hatte dafür gute Gründe. Zur ausschließlichen Zuständigkeit der EU gehört eindeutig die gemeinsame Handelspolitik (Artikel 3, Absatz 1 e AEUV) und die ausschließliche Zuständigkeit für den Abschluss internationaler Übereinkünfte (Artikel 3, Absatz 2 AEUV). Klarer geht es nicht.

Doch die EU ist keine Rechtsgemeinschaft, weil die Mitgliedsstaaten sich nicht an gemeinsam geschaffenes Regeln halten und die Kommission ihre Aufgabe als Hüterin der Verträge nicht wahrnimmt. Daher ist das Beinahe-Scheitern von CETA eigentlich nicht Campact oder all den CETA-Gegnern anzulasten, sondern den Regierungen der Mitgliedsstaaten. Sie hatten buchstäblich die Hosen voll. Mit der Brexitentscheidung am 23. Juni in Großbritannien brach Panik aus in den Regierungszentralen in Berlin, Paris und anderswo. Sie vertraten plötzlich die Rechtsauffassung, dass eine Zustimmung des Europa-Parlaments und der 28 Parlamente der Mitgliedsstaaten nunmehr notwendig sei. Damit war die Lunte für das Scheitern gelegt. Erst jetzt konnte ein Regionalparlament, wie in der Wallonie, das nicht einmal ein Prozent der EU-Bevölkerung repräsentiert, den Rest erpressen.

Die fortgesetzten Vertragsbrüche im Kleinen wie im Großen sind wie Sargnägel für die EU. Die Nichtahndung der Verschuldungsgrenzen des Maastrichter-Vertrages in den 2000er Jahren bis heute haben dazu geführt, dass die Schuldenlast in den Mitgliedsstaaten immer weiter ansteigen konnte. Der Bail-Out Griechenlands war ein erneuter Rechtsbruch, der aber eine Folge der vorigen Rechtsbrüche der Maastrichter Schuldenkriterien war. Dass der Fiskalpakt heute keine Rolle mehr spielt, obwohl er eigentlich die Lehre aus dem griechischen Bail-Out sein sollte, beweist dies erneut. Dass Frankreich und Italien in der EU anders behandelt werden als Griechenland, Portugal oder Zypern, zeigt, dass europäisches Recht nicht für alle gleich gilt. Es werden Unterschiede zwischen Klein und Groß gemacht. Das schürt Missgunst und Ressentiments bei den kleinen Mitgliedsstaaten. Daher muss man sich nicht über die Wallonie wundern, sondern sich im Kanzleramt und im Élysée-Palast selbst an die Nase fassen. Und auch die einseitige Aussetzung des Dubliner Abkommens durch Angela Merkel im Sommer letzten Jahres war ein Brechen gemeinsamer Regeln. Gleichzeitig mischt sich die Kommission in Bereiche ein, die wiederum in die ausschließliche Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten fällt. Es ist ein Kampf um Zuständigkeiten, der zwischen Kommission und Mitgliedsstaaten geführt wird.

Die Ursache für die fortgesetzten Rechtsbrüche ist der unzureichende institutionelle Rahmen der EU. Sie ist nicht ausreichend demokratisch und sie ist nicht ausreichend rechtstaatlich. Das Prinzip der Gewaltenteilung existiert nicht. Die Kommission setzt Recht, kontrolliert und sanktioniert es. Das Parlament der EU kontrolliert die Kommission nicht, sondern will mit der Kommission gemeinsam lediglich mehr Zuständigkeiten von den Mitgliedsstaaten erhalten. Ihr Widerpart ist der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs. Er ist keine zweite Kammer, wie der Bundesrat oder der Senat in den USA. Der Rat kann daher auch keine eigenen Gesetzentwürfe vorlegen. Dieses Recht ist der Kommission vorbehalten, die es zur Ausweitung ihrer Kompetenzfülle missbraucht. Wann endlich beginnt in der EU eine systematische Diskussion über diese Konstruktionsfehler? Viele meinen, es sei schon zu spät. Doch Rom wurde auch nicht an einem Tag gebaut.

Erstmals erschienen bei Tichys Einblick.

Photo: theilr from Flickr (CC BY-SA 2.0)

In dieser Woche hat EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker eine einstündige Rede zur Lage der Union im Europaparlament gehalten. Sie wird nicht in die Geschichtsbücher eingehen, daher erlauben wir uns, ihm eine neue zu schreiben.

Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,

wir alle müssen innehalten. Die Europäische Union kann nicht so weitermachen wie bisher. Die Eurokrise, die Flüchtlings- und Migrationskrise und letztlich auch der drohende Brexit führen uns vor Augen, dass wir unsere Probleme nur unzureichend gelöst und an Attraktivität und Anziehungskraft verloren haben. Die Europäische Union muss sich verändern, um für die Menschen in Europa ein tatsächliches Friedensprojekt zu werden und den Wohlstand der Menschen in Europa zu mehren.

Das erfordert zuerst die Erkenntnis, dass Europa größer ist als die EU. Auch die Schweiz und Norwegen gehören zu Europa. Sie sind in vielerlei Hinsicht Leuchttürme in Europa. Die Europäische Union darf sich nicht länger anmaßen, für ganz Europa zu sprechen. Und wir dürfen uns nicht länger als Oberlehrer gegenüber den kleinen Staaten inner- und außerhalb der EU aufführen.

Viele hier im hohen Haus wollen die Europäische Union zu einem Bundesstaat nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten von Amerika entwickeln. Davon halte ich nichts. Ich glaube im Gegenteil, dass ein konföderales Europa souveräner Staaten das Ziel der Union sein sollte. Dies entspricht viel eher dem Wunsch der Bürgerinnen und Bürger in den Mitgliedsstaaten. Wir sollten daher Abschied vom bei vielen zum Dogma gewordenen Grundsatz einer „ever closer union“ nehmen. In der Europäischen Union muss es eine freiwillige vertiefte Zusammenarbeit dort geben, wo ein Konsens erzielt werden kann. Dieser Konsens muss nicht für alle Zeiten gelten, sondern Mitgliedsstaaten müssen ein Rückholrecht erhalten, wenn sich ihre Situation oder Meinung ändert.

Die EU beruht auf dem Konsens seiner Mitglieder. Dieser kann nicht erzwungen werden. Bei der Euro-Schuldenkrise, aber auch bei der jüngsten Flüchtlings- und Migrationskrise sind gemeinsam geschaffene Regeln außer Kraft gesetzt worden. Das darf es nie wieder geben. Deutschland darf nicht am Geist des Dubliner Abkommens vorbei einseitig Flüchtlinge und Migranten nach Deutschland einladen. Und Länder, die Außengrenzen der EU haben, müssen diese konsequent schützen und die unkontrollierte Einreise unterbinden. Nur so läßt sich der Schengenraum aufrechterhalten. Nur so läßt sich die Personenfreizügigkeit erhalten.

Die Kommission als Hüterin des Rechts wird künftig ohne Rücksicht auf die Größe des Mitgliedsstaates Vertragsbrüche einzelner konsequent sanktionieren.  Das gilt sowohl für die Defizitländer Frankreich, Portugal, Italien und erst recht für Griechenland. Seit 6 Jahren schwelt die Krise in Griechenland, ohne dass es nennenswerte Fortschritte gibt. Wir müssen nüchtern erkennen, dass der eingeschlagene Weg nicht erfolgreich war. Daher schlägt die Kommission vor, Griechenland in einem Zeitraum von einem Jahr geordnet aus dem Euro zu führen. Wir wollen den Euro zu einer atmenden Währung weiterentwickeln, weil wir glauben, dass nur so die fiskalische Disziplin in den Mitgliedsstaaten einkehrt.

Der Binnenmarkt ist das verbindende Element. Diesen wollen wir stärken. Wir sollten die Waren- und Dienstleistungsfreiheit und die Kapitalverkehrsfreiheit innerhalb des Binnenmarktes erhalten und sie als Vorbild für eine Renaissance des Freihandels auf der Welt betrachten. Deshalb tritt die EU-Kommission dafür ein, dass überall auf dieser Welt Handelsschranken abgebaut werden. Hierzu werden wir einseitig gegenüber anderen Staaten unsere Handelsschranken beseitigen und laden andere dazu ein, uns gleiches nachzutun.

Wir respektieren, dass Länder die mit uns Handel treiben wollen, nicht automatisch die Personenfreizügigkeit, die wir für richtig und notwendig halten, akzeptieren. Es darf kein „Alles oder Nichts“ für den Zugang zum Binnenmarkt geben.  Wir laden Großbritannien daher ein, ohne Vorbedingungen und ohne Zahlungen in den EU-Haushalt am Europäischen Wirtschaftsraum teilzunehmen. Der Handel der Mitgliedsstaaten mit Großbritannien und umgekehrt ist für beide Seiten von Vorteil.

Wir wollen eine Union sein, die für Marktwirtschaft und gegen ein Modell der Planification steht. Nur die Marktwirtschaft sichert Wachstum und Wohlstand in Europa. Dies setzt voraus, dass neben den Chancen im Markt auch die Übernahme von Verantwortung durch Haftung notwendig ist. Ein EU-Finanzminister mit eigenem Budget oder der nach mir benannte Investitionsplan sind keine geeigneten Maßnahmen, weil sie notwendige Anpassungsprozesse in den Mitgliedsstaaten hinauszögern oder sogar verhindern. Wir wollen stattdessen einen Wettbewerb der Systeme zwischen den Mitgliedsstaaten erreichen, in dem unterschiedliche Währungen, Sozial- und Rechtssysteme um die beste Lösung ringen.  Wir glauben, dass dies der historisch föderalen Struktur in Europa am besten gerecht wird.

Herr Präsident, meine Damen und Herren Abgeordnete,

all dies wird die Europäische Union grundlegend verändern. Daher werde ich heute auf dem EU-Gipfel in Bratislava ein umfangreiches Paket vorschlagen, das notwendige Änderungen der Europäischen Verträge einleitet, die im Rahmen von Volksabstimmungen in den Mitgliedsstaaten gebilligt werden sollten. Lassen Sie mich meine Ausführungen mit einem Zitat des ehemaligen EU-Kommissars Ralf Lord Dahrendorf beenden: „Europa muss Rechtsstaat und Demokratie verkörpern, pflegen und garantieren: sonst ist es der Mühe nicht wert“

Vielen Dank!

Foto: Traveller_40 from flickr (CC BY-NC-ND 2.0)

Was haben Mikronesien, die Seychellen, Antigua und Deutschland gemeinsam? Das Sommerwetter sicherlich nicht. Auch wenn wir gerade ein heißes Spätsommerwochenende erleben, ist der Sommer 2016 doch eher ins Wasser gefallen. Was diese Länder mit Deutschland eint, ist, dass sie ebenfalls einen Überschuss der Einnahmen über die Ausgaben des Staates erzielen. Es sind nicht viele Staaten auf dieser Welt, denen das aktuell gelingt, umso erfreulicher ist es für Deutschland. Deutschland erzielte im ersten halben Jahr 2016 einen Überschuss von 18,5 Milliarden Euro oder 1,2 Prozent im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung. Schon wird die Frage gestellt: wohin damit? Drei Möglichkeiten bieten sich an: Erstens kann der Staat seine Ausgaben erhöhen und sie einfach verfrühstücken. Zweitens kann er seine Verschuldung abbauen und Kredite tilgen. Drittens könnte er seine Einnahmen kurzfristig dadurch reduzieren, dass er den Bürgern weniger an Steuern wegnimmt.

Die erste Möglichkeit ist das Konzept der siebziger Jahre. Während der damaligen Ölkrise schwächelte die heimische Wirtschaft, die Arbeitslosigkeit stieg und Helmut Schmidt begründete die höhere Neuverschuldung mit den Worten: „Lieber fünf Prozent Inflation als fünf Prozent Arbeitslosigkeit.“ Bekanntlich hatte er dann 1980 beide Marken übertroffen und wurde auch deshalb wenige Jahre später abgewählt. Die zweite Möglichkeit sieht den Schuldenabbau vor. Allein der Bund schiebt derzeit 1050 Milliarden Euro Schulden vor sich her. Finanzminister Schäuble will davon nichts tilgen, sondern setzt darauf, dass das Wirtschaftswachstum die Schuldenquote im Jahr 2020 unter die 60 Prozent-Norm des Maastricht-Vertrages drückt.

Dabei hat er es derzeit sehr einfach. Mario Draghis Zinsvernichtungspolitik hilft Schäuble enorm. Noch vor wenigen Jahren musste Schäuble trotz 117 Milliarden Euro höherer Schulden weniger Zinsen bezahlen. In der Hochzeit waren es über 40 Milliarden pro Jahr, im nächsten Jahr sind es nur noch 19 Milliarden Euro. Historische Vorbilder großer Volkswirtschaften für einen radikalen Schuldenabbau gibt es nicht viele. Die Schweiz ist eines. Hatte die Schweiz zum Ende des Zweiten Weltkrieges noch eine Verschuldung von 60 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung, waren es in den 1970er Jahren nur noch unter 10 Prozent. Ein relativ konstanter Schuldenberg sank prozentual im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung durch ein starkes ökonomisches Wachstum. Die Schweizer Wirtschaft wuchs in dieser Zeit um über 3 Prozent pro Jahr.

Die dritte Variante wäre es, die Einnahmen des Staates kurzfristig zu reduzieren und die Bürger steuerlich zu entlasten, damit dadurch eine neue wirtschaftliche Dynamik entsteht, die dann mittel- und langfristig die Einnahmen des Staates wieder steigen lässt. Es wäre die Variante, die Ronald Reagan in den 1980er Jahren gewählt hat und die den wirtschaftlichen Aufstieg Amerikas in dieser Zeit begründete.

Historische Betrachtungen hinken meist, auch hier.

Schmidt konnte zu Beginn der 1970er Jahre nicht auf Überschüsse zurückgreifen. Der Staat gab damals schon mehr aus, als er einnahm. Deutschland ist nicht die Schweiz. Wir sind Mitglied des Euro-Währungsraumes, der inzwischen leider die Schulden des einen Landes zu Schulden des anderen Landes gemacht hat. Die Nichtbeistandsklausel in den Europäischen Verträgen gilt nur noch auf dem Papier. Das bankrotte Griechenland demonstriert uns jeden Tag diesen Umstand. Und auch die dritte Variante hinkt ein wenig. Die Steuereinnahmen steigen in dieser Legislaturperiode um über 100 Milliarden Euro vor allem deshalb, weil die Wirtschaft wächst. Deutschland hat im Vergleich zu vielen anderen EU-Ländern sehr solide Wachstumsraten.

Deutschland sollte daher lieber einen Dreiklang der Maßnahmen favorisieren. Erstens müssen die Ausgaben viel stärker in den Ausbau der Infrastruktur, sei es in die Bildung, den Straßenverkehr oder die digitale Infrastruktur umgeschichtet werden. Zweitens sollten die Ausgaben geringer steigen als die Einnahmen, um so den Schuldenstand im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung zu reduzieren. Und drittens muss ein kluger Finanzminister die Bürger berechenbar entlasten. Das heißt: Mindestens die Hälfte der Steuermehreinnahmen müssen künftig an die arbeitenden Bürger zurück.

Photo: Marcus Holland-Moritz from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Von Prof. Dr. Justus Haucap, Gründungsdirektor des Düsseldorfer Instituts für Wettbewerbsökonomie (DICE) an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und Mitglied im Kuratorium von Prometheus.

Mit knapper Mehrheit haben die Briten am 23. Juni 2016 dafür gestimmt, die Europäische Union zu verlassen. Viele Beobachter waren sehr überrascht. Bisher war es noch immer gut gegangen. Selbst als die Franzosen und Niederländer 2005 gegen die Europäische Verfassung stimmten, tat das der Integration keinen Abbruch. „Vorwärts immer, rückwärts nimmer“, so das bisher gültige Motto der EU. Nun aber will zum ersten Mal ein Land die EU wieder verlassen. Es scheint doch nicht alles alternativlos zu sein.

Besonders die wirtschaftlichen Konsequenzen werden für die Briten furchtbar sein, meinen durchaus nicht wenige meiner Kollegen (etwa hier). Die EU hingegen werde den Austritt schon verkraften, aber für die Briten sei ein Brexit desaströs, so die wohl mehrheitliche Meinung. In einer teils doch hysterisch anmutenden Berichterstattung und Kommentierung in den Tagen direkt nach dem Referendum wurden immer wieder zwei Vermutungen geäußert: Zum einen, dass viele Leute (besonders die Engländer und Waliser) wohl einfach zu dumm und zu wenig aufgeklärt seien, um die Vorteile der EU zu verstehen, und zum anderen, dass die alten Bürger zu störrisch sind und den jungen Briten in einem Akt der Misanthropie die Zukunft verbauen wollten. Dabei haben sich sehr viele junge Wähler der Stimme enthalten, weil es ihnen wohl doch nicht so wichtig zu sein schien, ob Großbritannien nun zur EU gehört oder nicht. Von den 18- bis 24-jährigen haben anscheinend nur 36 Prozent ihre Stimme abgegeben. Und auch die These, dass es primär Dummheit, Nationalismus oder gar Rassismus sei, die zu einer Skepsis gegenüber Brüssel führe, zeugt von Hochmut und mangelnder Fähigkeit zu differenzieren. Die Brexiteers sind keine homogene Masse, sondern ein recht heterogener Haufen. Ja, zum einen sind dies britische Nationalisten, aber es sind auch libertäre Ökonomen dabei und Bürger, denen die EU zu zentralistisch, zu bevormundend und zu wenig subsidiär ist.

Ob nun die wirtschaftlichen Konsequenzen für Großbritannien wirklich so dramatisch sein werden, wie manchmal skizziert, ist gar nicht klar. Interessanterweise gab der FTSE100, der Aktienindex der 100 wichtigsten britischen Unternehmen am Tag nach dem Referendum bis zum Börsenende nur um 3,15 Prozent nach. Der DAX hingegen verlor 6,8 Prozent, der französische Index CAC40 8 Prozent und die EuroStoxx 50, die 50 wichtigsten europäischen Aktien, sogar 8,6 Prozent. Mit der Interpretation sollte man vorsichtig sein, aber sicher suggerieren die Zahlen nicht, dass Großbritannien schwer getroffen wird, während es für den Rest der EU kaum etwas ausmacht. Natürlich herrscht nun große Unsicherheit, wie es genau weitergehen wird. Kurzfristig wird es negative Folgen für die britische und europäische Wirtschaft geben. Aber mittelfristig kann der Brexit auch eine Chance sein, sowohl für Großbritannien als auch für die EU.

Vieles wird, sowohl für Großbritannien als auch die EU, letztlich davon abhängen, wie sich die Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien ausgestalten werden. Dass es etwa zu einem Handelsembargo kommen wird, ist schwer vorstellbar. Der Freihandel und der Binnenmarkt werden sehr wahrscheinlich bestehen bleiben und damit auch ein Großteil der wirtschaftlichen Vorteile. Dass Großbritannien sich nun möglicherweise nicht an das Verbot von Glühbirnen, Plastiktüten und leistungsstarken Staubsaugern wird halten müssen, dürfte hingegen kaum wirtschaftlich spürbar sein. Auch die Schweiz und Norwegen darben trotz fehlender EU-Mitgliedschaft nicht im Elend, obgleich auch die Freizügigkeit etwa zwischen der Schweiz und den EU-Staaten im Vergleich zur Freizügigkeit innerhalb der EU drastisch eingeschränkt ist (zum Beispiel weil tendenziell nur EU-Bürger mit einem festen Arbeitsplatz oder einem anderweitig ausreichendem Einkommen ihren Wohnsitz in die Schweiz verlegen können). Der Thinktank Open Europe hat dementsprechend im März letzten Jahres prognostiziert, dass die Auswirkungen des Brexits positiv oder negativ sein können – je nachdem, welche Politik ergriffen wird. Denkbar wäre etwa auch, dass die Briten beim transatlantischen Freihandel voranpreschen, während große Teile der verbleibenden EU hier wesentlich zögerlicher sind. Der Austritt der Briten wird in der EU die protektionistischen und fortschrittsfeindlichen Kräfte weiter stärken.

Es mag provokant sein, aber: Die jungen Briten mögen mit ihrer impliziten Einschätzung durchaus recht gehabt haben, dass es letztlich zumindest ökonomisch nicht so einen großen Unterschied macht, ob Großbritannien nun in der EU ist oder nicht. Der Verweis, dass Großbritannien in den vergangenen 40 Jahren seit dem Zutritt zur EU einen starken wirtschaftlichen Aufschwung erlebt hat, stimmt natürlich. Allerdings gilt das auch für die Schweiz und Norwegen und sogar für Australien und Südkorea. Wie viel von diesem Aufschwung etwa auf eine EU-Mitgliedschaft im Vergleich zu einer hypothetischen Beschränkung auf die Mitgliedschaft in der europäischen Freihandelszone (EFTA) zurückzuführen ist, ist völlig unklar.

Europäische und auch deutsche Politiker, die jetzt fordern, die Briten ob ihres demokratischen Ungehorsams besonders deutlich zu bestrafen, werden vor allem auch der deutschen und europäischen Wirtschaft selbst schaden. Vergeltung ist eine ziemlich schlechte Antwort auf eine demokratische Entscheidung. Die EU ist keine Sekte, aus welcher man nicht wieder ohne Androhung von Vergeltungsmaßnahmen austreten darf.

Überhaupt reflektieren die Granden der EU erstaunlich wenig, welcher Reformbedarf denn wohl in Brüssel bestehen könnte. Es ist sicher eine menschlich verständliche Reaktion, die Schuld für das empfundene Desaster bei anderen zu suchen. Daher überrascht es auch nicht wirklich, dass besonders europäische Politiker vor allem über die Briten schimpfen, bei der Europäischen Union und ihren Institutionen jedoch offenbar kein Versagen erkennen können. Dabei ist das Vertrauen vieler Bürger in die Brüsseler Entscheidungsprozesse schon lange erschüttert. Das wiederholte Brechen von Recht (etwa der sogenannten Maastricht-Kriterien oder der Dublin-Verordnung zur Aufnahme von Flüchtlingen) und Versprechen („Kein weiteres Hilfe-Paket/Bail-out für Griechenland“) trägt nicht zur Vertrauensbildung bei. Die Haltung der Brüsseler Eliten, den (etwa dummen) Bürgern einmal zu erklären, was gut für sie ist, stößt auf Skepsis bei vielen. Viele Bürger empfinden etwa die Flüchtlinge nicht als „ein Geschenk wertvoller als Gold“, wie Martin Schulz es im Juni in seiner Heidelberger Hochschulrede ausgedrückt hat. Vielmehr sehen viele die mit der Flüchtlingskrise verbundenen Kosten und Risiken. Die mangelnde Handlungsfähigkeit und -willigkeit der EU führt hier sicher nicht zu einem positiven Bild von der EU. Und es nimmt den Menschen auch nicht die Ängste, sie im Gegenzug als unverbesserliche Rassisten zu beschimpfen. Auch Behauptungen wie die, dass es nie einen Bail-out Griechenlands geben werde oder dass die Energiewende die Bürger nicht mehr als eine Tasse Cappuccino kosten werden, führen zu einer fundamentalen Erosion des Vertrauens in die Politik. Mit Hochmut und Beschimpfungen der Wählerschaft wird man das verloren gegangene Vertrauen nicht zurückgewinnen.

Wie weit die Brüsseler Führung inzwischen von den Bürgern entfernt ist, zeigt die Reaktion Jean-Claude Junckers, der nun nicht innehalten und reflektieren möchte, sondern mit noch mehr Tempo mehr Staaten zur Übernahme des Euro drängen will. Das erinnert an Erich Honeckers Realitätsverlust im August 1989 als er glaubte, den Sozialismus in seinem Lauf hielten weder Ochs noch Esel auf.

Nicht nur die Briten sind nun gefordert. Auch die Europäische Union muss sich grundlegende Gedanken machen, wie es weitergehen soll. Weniger Harmonisierung und weniger Zentralismus sind nicht das Ende der Europäischen Union, vielmehr läge in einer Rückkehr zu einem echten Subsidiaritätsprinzip eine echte Chance, einen europäischen Staatenverbund doch zu einem Erfolg werden zu lassen. Der Brexit kann ein Weckruf zur richtigen Zeit sein, wir benötigen nun eine sachliche und gesellschaftliche Debatte über die Zukunft der EU. Panikmache, Hysterie und Durchhalteparolen sind dagegen fehl am Platz.

Erstmals veröffentlicht auf Merton Magazin.

Photo: Hermann Auinger from flickr (CC BY-NC-ND 2.0)

Der legendäre britische Premier Winston Churchill galt als Genussmensch. Er rauchte dicke Zigarren und war dem Whisky nicht abgeneigt. Auch sein Körpermaß entsprach nicht einem ausgewogenen Body-Maß-Index. Dennoch wurde er 90 Jahre alt. Seine Gesundheitsphilosophie soll er mit den Worten „no sports“ umschrieben haben. Heute ist mangelnde Bewegung von Kindern wahrscheinlich die Hauptursache für Übergewicht. Jetzt hat die neue britische Regierung dieser Entwicklung den Kampf angesagt. Dabei hat sie nicht die Stundenzahl des Sportunterrichts verdoppelt, sondern sie will ab 2018 eine Strafsteuer auf zuckerhaltige Getränke einführen. Wahrscheinlich wird es nicht lange dauern, bis auch in Deutschland ähnliche Initiativen ergriffen werden. Es wäre eine typische Reaktion einer Regierung. Es wird ein Problem erkannt und durch eine Lenkungssteuer, starke Regulierung oder sanftes Nudging bekämpft. So ist es schon bei Zigaretten, Alkohol und anderen Genussmitteln. Die Regierung spielt den Oberlehrer. Sehr häufig spielen dabei Sachargumente gar keine Rolle. Es geht nur um das Unterstreichen von Handlungsfähigkeit. Beim Zucker gibt die Faktenlage eine Diskriminierung ohnehin nicht her.

Zwar steigt der Zuckerverbrauch weltweit, dies hat jedoch eher mit dem wirtschaftlichen Aufholen der Entwicklungsländer und ihrem steigenden Konsum zu tun. So schätzt die OECD einen Pro-Kopf-Anstieg des Zuckerkonsums von 24,3 Kilogramm auf 26,7 Kilogramm im Jahr 2024. In der EU und in den USA geht der Pro-Kopf-Verbrauch an Zucker jedoch zurück. Wahrscheinlich ist die Kalorienaufnahme für steigendes Übergewicht verantwortlich. Das hat nicht zwingend etwas mit Zucker zu tun. Doch selbst die Kalorienaufnahme ist seit vielen Jahren konstant und daher liegt die steigende Fettleibigkeit von Kindern eher am Bewegungsmangel als an zu viel Zucker.

Doch wer ist dafür verantwortlich? Die Regierung, die Krankenkassen, die Süßwarenindustrie, die Zuckerrübenanbauer? Und welches objektive Gremium stellt die Verantwortlichen fest? Etwa eine Regierungsmehrheit im Parlament? Werden die Strafsteuern dann christdemokratisch, sozialdemokratisch, ökologisch oder liberal festgelegt?

Nein, Lenkungssteuern sind falsch, sie wollen den Bürger erziehen und sein individuelles Verhalten verändern. Das steht keiner Regierung, keinem Parlament und keiner politischen Mehrheit zu. Denn wo soll diese Bevormundung enden, etwa bei der wöchentlichen Zuteilung von Genussmitteln wie bei George Orwells „1984“? Gegen dieses moderne Jakobinertum sollten wir uns schon in den Anfängen wehren. Freiheit setzt Verantwortung voraus, auch beim Konsum. Es ist aber eine individuelle Verantwortung, sie kann nicht kollektiviert werden, sonst stirbt die Freiheit.