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Photo: Heinrich-Böll-Stiftung from Flrickr (CC BY-SA 2.0)

Wolfgang Schäuble kommt die Nominierung von Martin Schulz zum Kanzlerkandidaten der SPD sehr recht. Es gibt ihm die Chance, die SPD in der Eurofrage in den kommenden Wochen an die Wand zu spielen. Das ist zumindest in dieser Frage einfacher, als wenn Sigmar Gabriel Kandidat der SPD geworden wäre. Dieser sitzt mit Schäuble am Kabinettstisch, Schulz dagegen nicht. Er ist Sinnbild des EU-Zentralismus und war der Repräsentant der Ja-Sager im EU-Parlament.

Der Taktiker Schäuble hat spätestens seit dem zweiten Griechenlandpaket 2010 nicht mehr geglaubt, dass Griechenland Willens und in der Lage ist, sich innerhalb des Euroraums von seinen Schulden nennenswert zu befreien und auf einen wirtschaftlich soliden Pfad zu kommen. Er hat dennoch alle Programme für Griechenland mitverhandelt und unterschrieben. Er ist also eindeutig mitschuldig an der verzwickten Situation des Euros, weil er sie lange hat schleifen lassen. Er wollte die Probleme innerhalb seiner Amtszeit als Finanzminister aussitzen. Seine historische Rolle als Finanzminister, der Überschüsse im Bundeshaushalt erzielt und die relative Verschuldung Deutschlands zurückführt, wollte er sich nicht durch die unbelehrbaren Sozialisten in der griechischen Regierung kaputt machen lassen.

Auch den IWF hat er lediglich für seine Taktik benutzt, Zeit zu gewinnen. Es war spätestens seit dem Inkrafttreten des ESM 2012 klar, dass der IWF nicht weiter Kredite für Griechenland bereitstellen wird. Noch unter dem Vorgänger-Mechanismus des dauerhaften Rettungsschirms ESM, der EFSF, war die Beteiligung des Internationalen Währungsfonds eine zwingende Bedingung. Damals war das Argument Deutschlands, dass der IWF besondere „Expertisen“ besitze, um überschuldeten Staaten ein Reformprogramm zu verordnen. Schon das war damals schöngeredet. Wer die Beteiligung des IWFs in Staatsschuldenkrisen untersucht, kommt schnell zum Schluss, dass deren Bilanz sehr überschaubar ist. In den ersten Jahren werden die Vorgaben meist noch einigermaßen eingehalten, nach wenigen Jahren lässt jedoch die Bindungskraft immer mehr nach. So war es in Südamerika, erst recht in Afrika und eben auch in Griechenland. Es war auch eigentlich nur der Wunsch Deutschlands, dass sich der IWF beteiligt. Die Brüsseler Bürokratie und auch die Krisenstaaten wollten den IWF von Anfang an nicht, sie wollten lieber untereinander kungeln und nicht die USA indirekt mit am Tisch haben.

Der dauerhafte Schuldenschirm ESM sieht jedoch eine zwingende Beteiligung des IWF nicht mehr vor. Dieser wird in den Statuten lediglich eingeladen, sich zu beteiligen. Nur die deutsche Zustimmung 2015 zum dritten Griechenlandpaket über 86 Milliarden Euro macht die Beteiligung des IWF zur Bedingung. Diese Bedingung ist jedoch „nur“ eine Aufforderung des Bundestages an die eigene Regierung – nicht mehr und nicht weniger. Schäuble versprach damals vor dem Parlament, sich dafür einzusetzen, wohlwissend, dass die Realisierung nicht sehr wahrscheinlich ist.

Die Euro-Zone ist auf sich alleine gestellt. Die aggressiven Äußerungen aus der Trump-Administration zur EU und zum Euro lassen erkennen, dass Trump lieber die Finger in die Wunde des Euros legt, anstatt zu helfen. Er setzt wirtschaftspolitisch auf eine Schwächung der EU und des Euro, weil er sich dadurch Vorteile für sein Land erhofft. Doch die Schwächung des einen bedeutet nicht automatisch die Stärkung des anderen. Letztlich sitzen Amerika und Europa wirtschaftspolitisch in einem Boot. In Griechenland tut sich nach wie vor nichts. Während der Primärüberschuss im Haushalt schon als Trendwende verkauft wird, schrumpft selbst die Tourismusindustrie Griechenlands, obwohl eigentlich alle, wirklich alle Rahmenbedingungen für Hellas sprechen. Die unsichere Lage in der Türkei und in Nordafrika sind eigentlich ideale Voraussetzungen für den Sommerurlaub in Griechenland, und dennoch gingen die Einnahmen 2016 im Tourismus um rund sieben Prozent zum Vorjahr zurück. Ende des dritten Quartals 2016 lag die Staatsverschuldung bei 311 Mrd. Euro oder bei 177 Prozent zur Wirtschaftsleistung, trotz mehrfachem Schuldenerlass.

Es gilt, was bereits 2010 galt: Niemand kann Griechenland besser helfen als Griechenland selbst. Nur wenn die Hellenen selbst einsehen, dass es grundlegende Strukturreformen bedarf, die sie aus eigener Erkenntnis wollen und umsetzen müssen, wird sich etwas ändern. Wenn Griechenland die aufgezwungenen Reformen nur als Diktat der EU oder Deutschlands empfindet, dann fehlt die innere Einsicht. Griechenland muss selbst entscheiden, ob es im Euro bleiben will oder nicht. Eine deutsche Regierung muss aber ebenfalls selbst entscheiden, ob sie weiter Geld in ein schwarzes Loch werfen will, ohne dass sie jemals etwas davon wiedersieht. Lange Zeit wurde der Glaube verbreitet, es sei „preiswerter“, Griechenland weiter durchzufüttern, da der Zusammenhalt der Euro-Zone die Nachteile überwiegen würde. Doch Griechenland ist nur ein Symptom der Euro-Krise. Griechenland ist die Spitze des Eisbergs, dessen Ursprung mindestens 25 Jahre alt ist.

Der Maastrichter Vertrag, der letzte Woche dieses Jubiläum feiert, legte die Grundlage für die Konvergenzkriterien der öffentlichen Verschuldung der Mitgliedsstaaten. Er war ein Produkt staatlicher Ingenieurskunst. Beamte haben sich am Schreibtisch überlegt, wie die ideale EU auszusehen hat. Doch Papier ist gerade in der EU geduldig. Die Verschuldungskriterien von 60 Prozent für die Staatsverschuldung und von drei Prozent für das maximale Haushaltsdefizit waren schon das in Papier geschriebene Misstrauen in die Solidität der Mitgliedsstaaten. Es war sehr berechtigt, weil es anschließend nie funktioniert hat. Doch eigentlich braucht es diese Verschuldungskriterien nicht. Soll doch jede Regierung, jedes Parlament so viel Schulden machen können, wie sie und ihre Wähler es für richtig halten. Es braucht eigentlich nur eine Regel, auf die sich alle verständigen und die hart und entschlossen durchgesetzt werden muss: Jeder haftet für seine Schulden selbst. Daran, und nur daran macht sich die Zukunft des Euros fest.

Erstmals erschienen auf Tichys Einblick.

Photo: Matt Popovich from Flickr (CC0 1.0)

Die Europäische Union hat offensichtlich an Anziehungskraft verloren. Das zeigt gerade die Flucht ihres ehemaligen Parlamentspräsidenten Martin Schulz in eine hasardeurische Kanzlerkandidatur, an deren Ende wahrscheinlich nicht seine Kanzlerschaft stehen wird, sondern bestenfalls eine Ministerlimousine. Wäre die Europäische Union das Zukunftsprojekt, für das es viele Eurokraten lange gehalten oder dies zumindest in Sonntagsreden immer wieder apostrophiert haben, dann wäre sein Platz weiterhin – oder gar jetzt erst recht – in Brüssel und Straßburg. Dann würde er und andere vom EU-Parlament aus für mehr Rechte des Parlaments kämpfen. Sie würden dem Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs trotzen und die Kommission zum Jagen tragen.

Doch das Gegenteil ist der Fall. Man kann Schulz vieles vorwerfen – ein leiser Vertreter der Interessen des EU-Parlaments war er nicht. Er hat dem EU-Parlament ein Gesicht gegeben, das nicht jedem gefallen hat. Er hat sich ins Bild gedrängt, auch wenn er nicht darum gebeten wurde. Er hat lange Zeit mit Kommissionspräsident Juncker ein Tandem gebildet, das für das Dogma einer „ever closer union“ stand, also für das Ziel der Vereinigten Staaten von Europa. Kurz: Schulz verkörperte wie kein anderer die „alte“ EU.

Stille Langweiligkeit bleibt jetzt übrig. Sein Nachfolger, der Italiener Antonio Tajani, ist die fleischgewordene Inkarnation dieser Langeweile. Bei seiner ersten Pressekonferenz wurde er zur Brexit-Rede von Premierministerin Theresa May am Tag zuvor befragt. Seine Antwort darauf: „Ich sollte nichts sagen zu Äußerungen von Regierungschefs der europäischen Staaten.“ Weniger geht nicht.

Dabei hat die Britin einen bemerkenswerten Spagat geschafft. Sie bricht nicht mit Europa, sondern nur mit der Europäischen Union. Und dies auch nicht mit nationalistischen Tönen, sondern sie begründet das letztlich mit dem großen kulturellen Unterschied zwischen der Insel und dem Festland. Es ist der Wunsch nach Rückgewinnung eigener Souveränität, in der Rechtsetzung, in der Rechtsprechung oder im Einwanderungsrecht. Das ist legitim und konsequent, insbesondere, wenn man glaubt, den Weg der EU in eine immer engere Union nicht umkehren zu können.

In der Tradition der „Rule of Law“ ist auch das Urteil des obersten Gerichtshofs in Großbritannien zu sehen. Die Richter haben diese Woche entschieden, dass zum Austrittsantrag aus der EU nach Art. 50 der Europäischen Verträge erst das britische Parlament seine Zustimmung erteilen muss. Das haben viele Kommentatoren als Niederlage Mays interpretiert. Doch gerade dieses Urteil kennzeichnet exemplarisch den Unterschied zur Europäischen Union. Existentielle Fragen werden nicht durch Rechtsbeugung der Exekutive und deren anschließendes Durchwinken durch die Judikative legitimiert. Sondern eine Regierung muss die Grenzen ihres Handelns beachten, kann sie also nicht einfach durch falsch verstandenen Pragmatismus beseitigen. In diesem Urteil zeigt sich die große Verfassungstradition der Briten. In ihrer Geschichte ging es seit der Unterzeichnung der Magna Carta durch König Johann Ohneland (1166 – 1216) immer um die Machtbegrenzung der Herrschenden durch das Recht. Kein König, kein Herrschender und auch keine Regierung durften sich seitdem über das Gesetz stellen. Diese Herrschaft des Rechts ist von England aus in Europa und in die Welt exportiert worden.

Das EU-Parlament, aber auch der Gerichtshof der EU ist bislang nicht dabei aufgefallen, dass es besonders kritisch mit der Kommission umgegangen ist. Im Gegenteil, das Parlament suchte bislang immer den nibelungentreuen Schulterschluss mit der Kommission und das Gericht hatte eine besondere Freude daran, im Sinne einer stärkeren Zentralisierung der EU zu urteilen. Diese „kulturellen“ Unterschiede zwischen Großbritannien und der restlichen EU sind der eigentliche Kern dessen, warum sie sich auseinandergelebt haben. Natürlich muss und wird sich Großbritannien verändern. Aber viel dringender sind Veränderungen der Europäischen Union. Wer glaubt, man müsse jetzt besonders hart mit Großbritannien umgehen, damit der Brexit nicht zum Einfallstor für weitere Austritte wird, denkt in den Kategorien der alten EU des Martin Schulz. Wer nur mit Druck und Repression eine Staatengemeinschaft zusammenhalten kann, wird bei der erst besten Erschütterung die Fliehkräfte nicht mehr eindämmen können. Eine „neue“ EU würde Großbritannien die Hand reichen, ihr ein Freihandelsabkommen anbieten, so wie England es 1860 mit Frankreich vereinbart hat. England verzichtete damals einseitig auf alle Schutzzölle. Wie wäre es denn, wenn britische Unternehmen in die EU künftig nicht 10 Prozent Einfuhrzoll für Autos und andere Waren bezahlen, sondern sich die Unternehmen in der EU dem unverzerrten Wettbewerb stellen müssten. Die EU wäre keine Wagenburg mehr, sondern ein offener Marktplatz für alle.

Daraus folgt: Wenn Leute wie Martin Schulz in der EU den Hut nehmen, ist vielleicht der Magna-Carta-Moment für die EU gekommen. Jean-Claude Ohneland sollte jetzt eingedämmt werden mit klaren Rechtsregeln und einem institutionellen Rahmen, der der Freiheit der Bürger dient und nicht dem ungezügelten Machtanspruch der Bürokraten und Politiker.

Erstmals erschienen bei Tichys Einblick.

Photo: kees torn from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Viele, die den Ausgang der US-Präsidentschaftswahl anders vorhergesagt haben, bemühten sich nach der Wahl von Donald Trump zum neuen US-Präsidenten um Relativierung. So schlimm werde es sicherlich nicht kommen, Senat und Repräsentantenhaus würden Trump schon einhegen. Im Wahlkampf würde viel gefordert und erzählt, nachher sei man bestimmt realistischer. Die wenigen Tage Trumps im Amt lassen ganz anderes vermuten. Er macht, was er sagt. Das ist in der Politik schon einmal viel wert. Man erinnert sich noch vage an den Bundestagswahlkampf 2005, als Kanzlerkandidatin Angela Merkel eine Mehrwertsteuererhöhung von maximal zwei Prozentpunkten ankündigte und sie anschließend drei Prozent mit dem Koalitionspartner SPD, der eigentlich gar keine Erhöhung wollte, beschloss.

Vieles wird hierzulande auch übertrieben dargestellt. So ist sein Bekenntnis zu „America first“ kein Paradigmenwechsel. Im Zuge der Finanzkrise 2007/2008 verschärfte die Obama-Administration 2009 die bereits bestehende „Buy American“-Klausel für das öffentliche Beschaffungswesen. Solange das Angebot des amerikanischen Anbieters nicht 25 Prozent teurer als ein vergleichbares Wettbewerbsangebot ist, muss der amerikanische Anbieter den Zuschlag erhalten. Dieses industriepolitische Vorgehen für die heimische Industrie ist auch nicht auf Amerika beschränkt. Frankreich verband seine Hilfe für die Automobilindustrie in dieser Zeit mit der Forderung, dass keine Werke in Frankreich geschlossen werden dürften.

Doch nur, weil man im Wahlkampf die Wahrheit gesagt hat, heißt das noch lange nicht, dass das, was gesagt wurde, zu begrüßen ist. Es zeigt nur, dass Geschichte sich zuweilen auch wiederholen kann. In der Weltwirtschaftskrise in den 1920er und -30er Jahren veranlasste die amerikanische Politik, ähnlich zu reagieren wie heute. Nach einem Konjunktureinbruch 1924 ermöglichte die amerikanische Notenbank eine massive Kreditausweitung der Banken, die zu einer Blase an den Finanzmärkten führte, die dann 1929 im Börsencrash ihren Höhepunkt fand. Anschließend senkte die Fed die Notenbankzinsen auf ein historisch niedriges Niveau von zuletzt zwei Prozent und kaufte massiv US-Staatsanleihen auf. Innerhalb eines Jahres stieg deren Bilanz um 350 Prozent. Die Regierung Hoover und das Parlament reagierten mit dem Schutz der heimischen Industrie vor ausländischen Wettbewerbern. Es war das Ende des Freihandels auf der Welt. Der Smoot-Hawley Tariff Act im Juni 1930 führt für über 20 000 Artikel Schutzzölle ein, auf die die betroffenen Staaten mit Gegenmaßnahmen reagierten. Das bereits wiedereinsetzende Wachstum brach jäh zusammen. Der Welthandel schrumpfte. 1938 lag dessen Volumen um 60 Prozent unter dem Wert von 1929.

So weit sind wir noch nicht. Aber die Gefahr besteht wieder. Nach dem letzten Börsencrash 2008 liegt der US-Notenbankzins unter ein Prozent. Die Fed-Bilanz hat sich seitdem um 350 Prozent erhöht und Donald Trump präferiert „Amerika first“. Er will als Macher dastehen wie Herbert Hoover und noch mehr Franklin D. Roosevelt. Bald täglich verkündet er, dass dieses oder jenes Unternehmen seine Standortverlagerung ins Ausland zurückgenommen hat und in den USA investieren will. Für alle anderen droht er mit Schutzzöllen. Er suggeriert damit, er könne Strukturprobleme durch politischen Druck auf die Unternehmen beseitigen. Das wird auf Dauer nicht funktionieren. Angenommen, er würde so jeden Tag ein anderes Unternehmen dazu zu bringen, dass tausend Jobs im eigenen Land erhalten bleiben, dann wären es im Jahr dennoch weniger als 400 000. Bei einer arbeitsfähigen Bevölkerung von fast 250 Millionen wären dies 0,16 Prozent und damit nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

Wie sollte man auf diese Politik als deutsche Regierung reagieren? Sollte man, wie 1930 weltweit geschehen, ebenfalls mit Schutzzöllen für amerikanische Waren antworten? Nein, es würde wahrscheinlich ebenso enden wie im letzten Jahrhundert. Der Handelskrieg damals trug auch zum handfesten Krieg wenige Jahre später bei. Auf Schutzzölle darf nicht mit Schutzzöllen reagiert werden, sondern mit deren einseitigem Abbau im eigenen Land. Wer für das eigene Land auf die internationale Arbeitsteilung verzichtet, schädigt sich selbst, weil er sich abkapselt. Wir sollten auf einen drohenden Handelskrieg deshalb mit einem Handelspazifismus antworten, denn Freihandel schafft nicht nur Wohlstand, sondern ist friedensstiftend.

Erstmals erschienen in der Fuldaer Zeitung am 28. Januar 2017.

Photo: Wendy from Flickr (CC BY-NC 2.0)

Von Prof. Roland Vaubel, emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre und Politische Ökonomie an der Universität Mannheim.

Im März nächsten Jahres will die EU-Kommission Vorschläge machen, wie die „Governance“ der Euro-Zone ausgebaut werden kann und sollte. Die deutsche Verhandlungsposition ist bereits erkennbar. Finanzminister Schäuble hat erklärt: „Wir müssen Europa unterhalb der Schwelle von EU-Vertragsänderungen handlungsfähiger machen. … Das Primärrecht müssten wir dafür nicht ändern. Das könnten wir in der Euro-Zone auch mit einer Änderung des ESM-Vertrages hinbekommen“ (Interview, Stuttgarter Zeitung, 15.10.16). Was will er „hinbekommen“? Schäuble will einen „Euro-Finanzminister“. Er will diesen Superminister sogar mit einem eigenen Haushalt ausstatten, der aus der Mehrwert- und Einkommensteuer gespeist werden soll. Lässt sich das mit einer Änderung des ESM-Vertrages bewerkstelligen? Soll der Geschäftsführende Direktor des Europäischen Stabilitätsmechanismus – ein Deutscher namens Klaus Regling – Euro-Finanzminister werden?

Bislang erhält der ESM keine laufenden Zahlungen aus Steuermitteln. Er hat drei Einnahmequellen. Erstens hat er Zinseinkünfte aus den Krediten, die er an überschuldete Euro-Staaten vergeben hat, und aus den Anleihen dieser Staaten, die er im Rahmen seiner Programme gekauft hat. Diese Zinsen sind etwas höher als die Zinsen, die er auf seine von den Mitgliedstaaten verbürgten Anleihen zahlt: „Bei der Gewährung von Stabilitätshilfe strebt der ESM die volle Deckung seiner Finanzierungs- und Betriebskosten an und kalkuliert eine angemessene Marge ein“ (Art. 20 Abs. 1 des ESM-Vertrags).

Zweitens erzielt der ESM Zinserträge, indem er das bei ihm eingezahlte Kapital (80 Mrd. Euro) im Kapitalmarkt investiert – zum Beispiel, indem er Staatsanleihen oder wie im Juli 2015 Anleihen des EU-Hilfsfonds EFSM erwirbt. (Der EFSM leitete das Geld an Griechenland weiter, dessen ESM-Programm abgelaufen war.) Der ESM „hat das Recht, einen Teil des Ertrags aus seinem Anlageportfolio zur Deckung seiner Betriebs- und Verwaltungskosten zu verwenden“ (Art. 22 Abs. 1). Nicht benötigte Anlageerträge können an die Mitgliedstaaten ausgeschüttet werden. Sie müssten sogar in voller Höhe ausgeschüttet werden, wenn der ESM einmal keine Finanzhilfen mehr gewähren würde (Art. 23).

Drittens kann der ESM Einnahmen aus finanziellen Sanktionen gegen seine Mitglieder erhalten (Art. 24 Abs.2). Dabei handelt es sich um Geldbußen in Rahmen des sogenannten „Sixpack“ von 2011, insbesondere die Verordnungen 1174 und 1176 über die Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte und die Verordnung 1177 bei übermäßigen Defiziten. Wenn die Verwaltungskosten – so wie es Schäuble vorschlägt – aus den Mehrwert- und Einkommensteuereinnahmen der Euro-Staaten finanziert würden, wäre der ESM nicht mehr ein „Kreditinstitut“ der Euro-Staaten, sondern eine Euro-Finanzbehörde, und an ihrer Spitze stünde ein „Finanzminister“.

Weshalb will Schäuble den ESM-Vertrag und nicht den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) ändern? Er sagt: weil das einfacher ist. Das ist wahr. Eine Änderung des AEUV müsste nicht nur von den Euro-Staaten, sondern auch von den anderen EU-Staaten – zum Beispiel Polen, Tschechien und vorerst auch Großbritannien – ratifiziert werden. Das könnte Schwierigkeiten bereiten und würde die Verhandlungsmacht dieser Länder stärken. Außerdem müssten – zum Beispiel in Irland – Mehrheiten in Volksabstimmungen gefunden werden.

Aber mindestens genau so wichtig ist, dass die Entscheidungen im ESM nur einstimmig getroffen werden können. Deutschland könnte den Vertrag sogar kündigen. Im Rat der EU dagegen genügt eine qualifizierte Mehrheit, und Schäuble könnte überstimmt werden. Außerdem redet in der EU das Europa-Parlament ein Wörtchen mit, im ESM hat das Europa-Parlament nichts zu sagen. Schäuble wird auch gefallen, dass die Letztentscheidung im ESM beim Gouverneursrat, d.h. bei den Finanzministern, liegt. Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch durchgesetzt, dass Schäuble bei Entscheidungen, die „die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages betreffen“, die Zustimmung des Bundestages braucht.

Schäuble will verhindern, dass der ESM – sein Werk – eines Tages vielleicht wieder abgeschafft wird oder zu wenig Einnahmen hat, wenn einmal keine Kreditforderungen mehr ausstehen. Deshalb versucht er, den ESM zu stärken, ihm zusätzliche Kompetenzen und Einnahmen zu verschaffen. Der ESM soll ein für alle mal unentbehrlich werden.

Wohin die Reise gehen soll, zeigen auch die Verlautbarungen der Deutschen Bundesbank. Schon im Februar haben sich Jens Weidmann und sein französischer Amtskollege Francois Villeroy de Galhau in einem gemeinsamen Zeitungsartikel ebenfalls für einen Finanzminister der Euro-Zone ausgesprochen (Süddeutsche Zeitung, 08.02.16). Die Bundesbank schreibt zu diesem Thema in ihrem Monatsbericht vom Juli 2016:

„Es könnte in diesem Zusammenhang daran gedacht werden, die Rolle des ESM grundsätzlich zu stärken. Mit dem Antrag eines Mitgliedstaates auf Finanzhilfen beim ESM wird die Einschätzung zur weiteren Wirtschaftsentwicklung, zur Schuldentragfähigkeit und zum Finanzbedarf derzeit durch die Europäische Kommission im Benehmen mit der EZB erstellt, und dies ist auch für die Überwachung der wirtschaftspolitischen Auflagen vorgesehen. Diese Aufgaben könnten künftig auf den ESM übertragen werden“ (S. 57).

„Im Falle einer Umschuldung … könnten Koordination und begleitende Aufgaben, wie etwa die Erfassung der bestehenden Ansprüche, auf den ESM übertragen werden, und dieser könnte auch mit der effektiven Abstimmung der Umschuldung mit einem Anpassungsprogramm und Finanzhilfen des ESM beauftragt werden. Mit Stärkung des Krisenbewältigungsmechanismus könnte darüber hinaus auch in Erwägung gezogen werden, dem ESM ergänzend die Funktion einer unabhängigen Fiskalbehörde zu übertragen. Dazu könnten ihm die bisher bei der Europäischen Kommission liegenden Aufgaben der Bewertung der Haushaltsentwicklungen und der Einhaltung der Fiskalregeln übertragen werden“ (S. 64).

Betrachten wir erstens die Überwachung der wirtschaftspolitischen Auflagen. Ist es günstiger, wenn nicht Kommission und EZB über die Einhaltung der Auflagen wachen, sondern der ESM? Aus der Geschichte des Internationalen Währungsfonds (IWF) lassen sich diesbezüglich wichtige Lehren ziehen. Auch der IWF vergibt ja subventionierte Kredite an überschuldete Mitgliedstaaten und verhängt dabei wirtschaftspolitische Auflagen. Der IWF hat im Zeitraum 1991-2012 insgesamt 41 Programme wegen Nichterfüllung seiner Auflagen abgebrochen (Urbaczka, Vaubel 2013). Das ist zwar mehr, als der ESM vorweisen kann – nämlich überhaupt keine Abbrüche, aber auf 21 dieser 41 abgebrochenen IWF-Programme folgte bereits am folgenden Tag ein neues Programm. Dreissig Staaten erhielten einen Anschlusskredit innerhalb eines Jahres. Nur fünf Staaten bekamen nach dem Abbruch ihres Programms vom IWF keinen Kredit mehr.

Weshalb vergibt der IWF immer wieder neue Kredite an Staaten, die nach seiner eigenen Einschätzung die Auflagen nicht eingehalten haben? Weil auch er sich über die Marge zwischen seinem Kreditzins und dem Zins, den er seinen Gläubigern zahlt, finanziert. Wenn er – wie zum Beispiel 2007 – nicht genug Kredite vergibt, kann er seine Verwaltungskosten nicht decken und muss Personal abbauen. Die Regierungen der Schuldnerländer wissen das und nehmen daher die Auflagen nicht ernst, denn sie bekommen ja doch wieder einen neuen Kredit.

Genau so könnte es dem ESM ergehen – bei der Überwachung der Auflagen, aber auch bei der Einschätzung der Schuldentragfähigkeit und des Finanzbedarfs. Um genug Kredite vergeben zu können, würde er die Schuldentragfähigkeit zu optimistisch beurteilen und den Finanzbedarf zu großzügig kalkulieren. Weniger verzerrte Einschätzungen erhält man, wenn man nicht die Kredit gebende Institution, sondern wie bisher die EU-Kommission und die EZB fragt. Die Kommission ist besser geeignet als die EZB, weil nicht alle EU-Staaten der Währungsunion angehören. Noch neutraler wäre zum Beispiel die OECD, weil die Euro-Staaten dort in der Minderheit sind. Ungeeignet wäre dagegen der IWF (obwohl er zum Beispiel die Schuldentragfähigkeit Griechenlands realistischer einschätzt als Kommission und EZB). Denn der IWF vergibt selbst Kredite und kann daher an verzerrten Einschätzungen interessiert sein.

Kann man die Anreizprobleme des ESM dadurch beseitigen, dass man ihn aus Steuermitteln finanziert? Sicher nicht, solange er bei seinen Ausleihungen weiterhin eine Zinsmarge erwirtschaftet. Aber selbst wenn das geändert würde, wäre auf den ESM kein Verlass. Denn die Hilfsprogramme sind für die ESM-Bürokratie nicht nur eine Einnahmequelle, sondern auch eine Quelle von Macht und Ansehen, und die Kosten der verfehlten Kreditvergabe tragen nicht die ESM-Beamten, sondern die Steuerzahler.

Ist es sinnvoll, wie die Bundesbank zweitens anregt, den ESM bei Umschuldungen einzuschalten? Als Gläubiger der umschuldenden Staaten sind die ESM-Beamten daran interessiert, dass sie selbst keine Forderungen abschreiben müssen und dass die anderen Gläubiger auf einen möglichst grossen Teil ihrer Forderungen verzichten. Auch im Fall der Umschuldung steht das Eigeninteresse des ESM-Personals daher einer vernünftigen Lösung im Weg. Effizient wäre die Einschaltung des Pariser bzw. Londoner Clubs, die ja auch sonst für Umschuldungen zuständig sind.

Sollte der ESM drittens im Rahmen des „Sixpack“ anstelle der Kommission die Haushaltsentwicklungen bewerten und die Einhaltung der Fiskalregeln überwachen, wie es die Bundesbank vorschlägt? Die Kommission hat leider wegen politischer Rücksichtnahmen immer wieder ein Auge zugedrückt. Aber wäre der ESM standhafter? Schäuble sagt: „Der ESM würde die Haushaltsentwürfe nicht politisch, sondern streng nach den Regeln beurteilen“ (Stuttgarter Zeitung, 15.10.16). Dafür könnte auf den ersten Blick sprechen, dass die Geldbußen, die die Euro-Staaten bei übermäßigen Haushaltsdefiziten zahlen müssten, dem ESM zufließen würden (EU 1177/2011, Art. 16). Dennoch ist das Gegenteil zu erwarten: Wir würden vom Regen in die Traufe kommen. Die EU-Kommissare werden zwar von den Regierungen der Mitgliedstaaten ausgewählt und beeinflusst, aber sie sind weisungsunabhängig. Im ESM dagegen würden letztlich die Finanzminister als Gouverneure selbst entscheiden – also diejenigen, die die Haushaltsdefizite höchstpersönlich zu verantworten haben. Sie haben keinen Anreiz, Geldbußen einzutreiben, die sie selbst bezahlen müssen. Wollen Schäuble und Weidmann die Böcke zu Gärtnern machen? Der Stabilitäts- und Wachstumspakt würde nur dann funktionieren, wenn die vorgesehenen Sanktionen automatisch greifen würden. Das ist aber nicht konsensfähig. Damit ist schon Theo Waigel 1996 gescheitert.

Erstmals erschienen bei Ökonomenstimmen.

Photo: Riccardo from Flickr (CC BY 2.0)

Lange Zeit wurde die Mär verbreitet, die Zukunft des Euro würde von Griechenland abhängen. Das war 2010 beim ersten Bail-Out so und dann auch in den Folgejahren. Scheitert der Euro in Griechenland, dann scheitert Europa, so das Credo. Heute ist klar, Griechenland ist ein Failed State, der durchgefüttert wird, aber bei dem allen Beteiligten klar ist, dass er dauerhaft am Tropf hängt, so lange er im Euro verbleibt. Seit dem Rettungsversuch Griechenlands hat sich die Krise jedoch wie ein Virus in das Zentrum Europas verbreitet. Die Mitte des Orkans ist inzwischen Italien. Italien steckt nicht erst seit dem gescheiterten Referendum vom vergangenen Sonntag in einer fundamentalen Strukturkrise. Doch das Scheitern Renzis bringt die Strukturprobleme deutlich ans Tageslicht.

Seit der Euro-Einführung 1999 hat sich die Staatsverschuldung Italiens um rund 1.000 Milliarden Euro erhöht. Nur in den Zwischenkriegsjahren war die relative Verschuldung zur Wirtschaftsleistung höher. Heute beträgt sie fast 135 Prozent. Die steigende staatliche Verschuldung geht einher mit einem Verlust von Wirtschaftskraft im Norden wie im Süden des Landes. Bis zur Einführung des Euros entwickelten sich der Norden und der Süden – natürlich von unterschiedlichen Ausgangsniveaus – im Gleichklang. Während der Norden seitdem seine Wirtschaftskraft zwar nicht steigern, aber zumindest halten konnte, verlor der Süden massiv an Wirtschaftskraft: im Vergleich zu 2001 sind es 11,2 Prozent.  Das lässt sich auch an einigen wichtigen Wirtschaftszweigen ablesen. Das produzierende Gewerbe ging gegenüber dem Hoch im Dezember 2006 um 27,8 Prozent zurück und verharrt seit über 3 Jahren auf diesem niedrigen Niveau. Die Automobilindustrie, eine der wichtigen Schlüsselindustrien Italiens, folgt einem stetigen Niedergang und produziert heute so viele Autos wie 1960. Im Vergleich zu den Hochzeiten Anfang der 1990er Jahre hat sie über 66 Prozent der Produktion eingebüßt. Auch andere Branchen wie die Stahlindustrie produzieren auf dem Mengenniveau der 1970er Jahre.

All das bleibt nicht ohne Folgen. Das Bankensystem ist durch die strukturelle Wachstumsschwäche überschuldet. Rund ein Drittel der faulen Kredite europäischer Banken sind in den Büchern der italienischen Institute. Insgesamt sind dies inzwischen über 360 Milliarden Euro, rund 200 Milliarden davon sind länger als 90 Tage im Zahlungsverzug. Über 22 Prozent aller Kredite in Italien sind damit im Feuer. Daher geht es in Italien nicht nur um die Existenz der Skandalbank, der Banca Monte dei Paschi die Siena, sondern um eine lang aufgestaute Strukturkrise des gesamten Bankensektors.

Die offizielle Arbeitslosigkeit verharrt auf fast 12 Prozent und die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei über 36 Prozent. Die tatsächlichen Zahlen liegen wahrscheinlich erheblich höher. Die Folge ist, dass die jungen Menschen das Land verlassen. Ausdruck des wirtschaftlichen Niedergangs ist der negative Target2-Saldo gegenüber anderen Ländern der Eurozone. Mit 358 Milliarden Euro ist die italienischen Notenbank in der Kreide. Wahrscheinlich ist nicht nur der wirtschaftliche Niedergang der italienischen Wirtschaft insbesondere im Export dafür verantwortlich, sondern auch eine steigende Kapitalflucht aus dem Land. Ein Indiz dafür ist der stetig ansteigende Banknotenumlauf. Seit der Einführung der Euro-Banknote 2002 ist dieser von rund 50 Milliarden Euro auf jetzt 177 Milliarden Euro gestiegen.

Umgekehrt sind die Target2-Salden auf Seiten der Deutschen Bundesbank mit 754 Milliarden Euro auf einem Allzeithoch. Auch dies drückt die Grundproblematik des Euros aus. Die Ökonomien im Euro-Club entwickeln sich immer weiter auseinander. Während Deutschland seine Industrieproduktion zum Vorkrisenjahr längst wieder erreicht hat, liegt Italien immer noch 20 Prozent darunter.

Italien wird immer mehr zum neuen Griechenland für die Euro-Zone. Derzeit rettet alleine der EZB-Präsident Mario Draghi sein Heimatland. Die Verlängerung seines Schuldenaufkaufprogrammes um weitere 540 Milliarden Euro auf dann 2.280 Milliarden Euro sichert für eine gewisse Zeit noch das niedrige Zinsniveau in Italien. Würde dies nicht geschehen, wäre Italien sofort zahlungsunfähig. Mitte der 1990er Jahre musste der italienische Staat bei 1.000 Milliarden Staatsverschuldung noch 14 Prozent Zinsen für 10-jährige Staatsanleihen bezahlen, heute sind es bei 2.200 Milliarden Euro nur noch 2 Prozent.

Wahrscheinlich muss Italien den Euro aufgeben, um ihn und sich zu retten. Das wird ein äußerst schmerzhafter Prozess. Aber der Euroraum ist zu inhomogen, um dauerhaft diese divergierenden Spannungskräfte auszuhalten. Daher ist es zwingend notwendig, dass die Eurostaaten sich endlich über eine geordnetes Ausstiegsverfahren aus dem Euro verständigen. Die Zeit dafür ist knapp. Die Eurogruppe hat viele Jahre vergeudet, um etwas künstlich zusammenzuhalten, was nicht zusammenpasst. Ein weiter so darf es nicht geben.