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Photo: Wikimedia Commons (CC BY 2.0)

Die Parlamentswahlen in Frankreich kommen einem Erdrutsch gleich. Das kann man schon daran festmachen, dass drei Viertel der Abgeordneten neu ins Parlament einziehen werden. Aus dem Stand hat „La République en marche“, die neugegründete Partei von Präsident Emmanuel Macron, die absolute Mehrheit in der Französischen Nationalversammlung erzielt. Das ist bemerkenswert. Ist die junge Partei doch erst im April letzten Jahres gegründet worden. Zwar ist „en marche“ in der zweiten Kammer, dem Senat, derzeit noch nicht vertreten, doch im September wird etwas mehr als die Hälfte der 348 Senatoren neu gewählt. Sollte sich der Erfolg Macrons dann auch fortsetzen, gibt es keine Ausreden mehr. Macron muss dann liefern. Das ist auch bitter notwendig. Frankreich liegt ökonomisch am Boden.

Frankreichs Industrieproduktion liegt nach wie vor fast 13 Prozentpunkte unter dem Hoch von April 2008. Das Baugewerbe sogar über 21 Prozentpunkte darunter. Der Niedergang der französischen Wirtschaft lässt sich am besten an der Zahl der Arbeitslosen festmachen. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 21,7 Prozent. Die offizielle Zahl der registrierten Arbeitslosen beträgt rund 3,5 Millionen (10 Prozent). Wird jedoch die versteckte Zahl an Personen, die geringfügig beschäftigt sind, aber mehr arbeiten wollen und Personen die sich in Weiterbildungsmaßnahmen befinden oder krank sind, hinzugerechnet, liegt die Zahl bei über 6 Millionen. Bei 67 Millionen Einwohnern ist dies eine gigantische Zahl und zeigt die ganze Dimension des Problems.

Das alles hat seinen Preis. Die Staatsquote liegt mit 56,6 Prozent im traditionell zentral regierten Frankreich besonders hoch. Die Staatsverschuldung hat sich in den letzten 10 Jahren um 1.000 Milliarden Euro und in Relation zur Wirtschaftskraft um 50 Prozent erhöht. Die zweitgrößte Wirtschaftsmacht in Europa steht mit dem Rücken zu Wand. Was Deutschland zu Beginn des Jahrtausends war, der kranke Mann Europas, ist heute Frankreich.

Macron müsste eigentlich Reformen im Ausmaß einer Schröderschen „Agenda 2010“ anstoßen, um Frankreich aus der Lethargie zu befreien. Erste Ansätze dazu hat er bereits vorgelegt. Die Körperschaftsteuer will er auf 25 Prozent (von 33 Prozent) reduzieren, die Arbeitslosenversicherung vereinheitlichen und das Arbeitsrecht flexibilisieren. Der Konflikt mit den mächtigen Gewerkschaften ist dabei vorprogrammiert, wenn er die Möglichkeit der Lohnverhandlungen von den Tarifparteien auf die Arbeitnehmer und Arbeitgeber verlagern will.

Macron lässt sich wirtschaftspolitisch dennoch nicht richtig fassen. Er ist wie ein glitschiger Aal.  Auf der einen Seite tritt er für einen „New Deal“ für die EU ein, will den Juncker Fonds sogar noch aufstocken, um Investitionen anzuregen. Gleiches plant er im eigenen Land mit einem Investitionsprogramm für 50 Mrd. Euro. Gleichzeitig will er die Staatsausgaben um 60 Mrd. Euro senken und 120.000 Stellen im Öffentlichen Dienst streichen, aber den Verteidigungsetat auf 50 Milliarden Euro erhöhen und 29.000 neue Stellen bei Polizei, Strafvollzug und in den Schulen schaffen. Sein Bekenntnis zum Maastricht-Ziel von max. 3 Prozent Staatsdefizit zur Wirtschaftsleistung und die Reduktion der Staatsquote auf 53 Prozent klingt dann wie die eierlegende Wollmilchsau. Von allem ein bisschen, aber nichts konsequent.

Der Präsident der 5. Republik ist sicherlich kein Liberaler. Er ist weniger Sozialist als sein Vorgänger Francois Hollande und er ist weniger Nationalist als seine Gegenkandidatin Marine Le Pen. Aber was ist er? Wie tickt Emmanuel Macron? Die Antwort auf diese Frage steht noch aus und entscheidet letztlich nicht nur über die Zukunft Frankreichs, sondern auch über die weitere Entwicklung der Europäischen Union und des Euros.

Photo: Marco Verch from Flickr (CC BY 2.0).

Man muss kein Vegetarier sein, um zu wissen, dass Soja-Mich oder Tofu-Butter nicht von einer Kuh oder Ziege stammen. Dennoch hat der Europäische Gerichtshof jetzt in einem Urteil diese Produktbezeichnungen verboten. Die Bezeichnung „Milch“ sei grundsätzlich allein Milch tierischen Ursprungs vorbehalten. „Butter“ dürfe nur ein Erzeugnis aus Milch genannt werden. Andere Produkte, wie zum Beispiel Leberkäse, die auch keine Milch enthalten, seien von der EU-Kommission ausdrücklich als Ausnahmen zugelassen und in einer Verordnung geregelt. Gott sei Dank, der Leberkäse ist gerettet!

Die Frage ist: Muss das sein? Muss die EU dies regeln? Ist damit dem Konsumenten gedient oder ist dies lediglich eine erneute bürokratische Stilblüte aus Brüssel? Dient das ganze tatsächlich der „gemeinsamen Marktintegration landwirtschaftlicher Produkte“ in einem gemeinsamen europäischen Markt? Wohl kaum.

Ein aufgeklärter Verbraucher macht sich schlau und informiert sich. Eine kritische Öffentlichkeit informiert über Fehlentwicklungen. Hersteller haben, wenn sie langfristig Erfolg haben wollen, selbst ein Interesse ihre Kunden zu informieren. Warum sollte ein Soja-Milch-Hersteller seine Kunden nicht darüber informieren wollen, dass Soja-Milch keine Milch von Kühen oder anderen Tieren enthält? Sie haben doch selbst ein Interesse daran, denn die Vegetarier sind ja ihre Zielgruppe.

Landwirtschaftsminister Christian Schmidt bläst inzwischen ins gleiche Horn wie die EU. Er will die vegetarische Currywurst verbieten. „Ich möchte nicht, dass wir bei diesen Pseudo-Fleischgerichten so tun, als ob es Fleisch wäre,“ so der Minister von der CSU. Natürlich kann man sich die Frage stellen, warum ein Vegetarier, der kein Fleisch oder Milch zu sich nehmen will, die typischen Bezeichnungen wie Wurst, Schnitzel oder Milch, Käse und Butter übernehmen soll. Aber es ist doch keine Frage, die der Landwirtschaftsminister oder die EU regeln müssen. Hier wird ein Popanz aufgebaut, wo man sich schon fragen muss, ob der gemeinsame europäische Markt nicht andere Probleme hat. Ist es nicht gerade dieser Vorschriftenwust, der dazu führt, dass kleine und mittelständische Unternehmen nicht mehr durchblicken? Sie werden sogar dadurch gehindert, am europäischen Markt teilzunehmen, weil sie immer Gefahr laufen, irgendeine Vorschrift übersehen zu haben. Sie können sich keine Stäbe im Unternehmen leisten, die erst mal die jeweiligen Vorschriften im anderen Land prüfen, damit sie dort Kunden beliefern dürfen.

Deutschland ist leider in Europa ein Paradebeispiel für diesen falschen Verbraucherschutz. Was haben vermeintliche Verbraucherschützer und Politiker beispielsweise für das Reinheitsgebot beim Bier gestritten? Vor 30 Jahren hat der EuGH das damalige Verbot, Bier, das nicht nach dem deutschen Reinheitsgebot gebraut wurde, hierzulande nicht verkauft werden durfte, aufgehoben. Der Untergang des Abendlandes wurde heraufbeschworen. Heute werben deutsche Brauereien mit dem Reinheitsgebot als Qualitätsmerkmal neben den vielen Anbietern, die nicht nach den strengen deutschen Regeln ihre Produkte in Deutschland verkaufen. Sind Konsumenten dadurch Nachteile entstanden? Nein, ganz im Gegenteil. Seitdem hat die Produktvielfalt beim Bier enorm zugenommen.

Das Ganze wird uns immer als Verbraucherschutz verkauft. Es ist aber das Gegenteil dessen. Es dient dazu, Märkte abzuschotten, etablierte Hersteller zu privilegieren und damit zu bevorteilen. Es soll die Regierung in ein vorteilhaftes Licht rücken. Mit dem Schutz der Konsumenten hat das aber alles nichts zu tun. Verbraucherschutz entmündigt den Verbraucher nicht, sondern vertraut ihm. Nur aufgeklärte Verbraucher finden sich in unserer komplizierten Welt zurecht. Ein Staat, der diese Verbraucher immer an die Hand nehmen will, der jeder vermeintlichen Gefahr vorab per Gesetz vorbeugen will, behandelt die Bürger wie Schafe. Sie sind eingezäunt und beaufsichtigt, bekommen regelmäßig zu essen und zu trinken und dürfen ab und zu herumblöken. Wer das nicht will, muss klar sagen: Freiheit für die Veggie-Wurst!

Erstmals erschienen in der Fuldaer Zeitung am 17. Juni 2017.

Photo: Kiefer from Flickr (CC BY-SA 2.0)

In der Politik geht es häufig um Gesichtswahrung. Insbesondere die „Rettung“ Griechenlands ist dafür ein beredtes und leider bewährtes Beispiel. So auch in dieser Woche, wenn sich die Finanzminister der Euro-Gruppe treffen. Eigentlich ist die Situation so eindeutig, wie sie aussichtslos ist. Griechenland hat nach 7 Jahren „Rettung“ ein Viertel seiner Wirtschaftskraft verloren, ohne dass es irgendwo Lichtblicke gibt. Selbst der Tourismus kommt nicht von der Stelle. Die Regierung Tsipras liegt in Umfragen inzwischen 10 Prozentpunkte hinter den Konservativen, die vor 2015 das Land regierten und auch nicht viel zustande gebracht haben. Kommt Griechenland nicht vom Fleck, kann Tsipras nicht irgendeinen Erfolg zu Hause vorweisen, wird er spätestens 2019 wieder abgewählt.

Deshalb drängt er darauf, dass der Euro-Club dem Land einen Teil seiner Schulden erlässt. Zwar hat Griechenland mit 318 Mrd Euro (2016) mehr Schulden als 2009 (301 Mrd. Euro), aber die Belastung dieser Verschuldung ist durch die Streckung der Laufzeit, der Tilgung und durch den Zinsverzicht der Gläubiger auf ein Minimum reduziert. Formal ist Griechenland zwar mit 181 Prozent zur Wirtschaftsleistung (2016) verschuldet und damit so hoch wie noch nie. Berücksichtigt man aber die Vergünstigungen bei der Laufzeit und beim Zins, so entspricht die Verschuldung Griechenlands weniger als 80 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt. Das ist weniger als Italien, was nicht verwundert. Aber es ist auch weniger als Frankreich, Österreich oder der Durchschnitt der Euro-Zone. Griechenland hat also kein Problem mit der laufenden Belastung trotz der historisch einmaligen Verschuldung. Es sind die übrigen Strukturprobleme des Landes bei der Korruptionsbekämpfung, im Arbeitsmarkt und bei der Bürokratie, die das Wachstum verhindern. Die Zinslast der Verschuldung wurde von den Gläubigern übernommen. Der faktische Schuldenschnitt ist daher längst vollzogen, er darf nur nicht so heißen und darf nicht abrupt haushaltswirksam werden.

Ein Schuldenschnitt für Griechenland wäre daher nur etwas für die Optik. Es wäre ein machtpolitischer Erfolg gegenüber den Geberstaaten, den Tsipras innenpolitisch nutzen könnte. Worüber sich der Internationale Währungsfonds und die Euro-Zone streiten, sind die weiteren Annahmen. Der IWF glaubt nicht an den prognostizierten Haushaltsüberschuss (ohne Zinsen) von 3,5 Prozent pro Jahr, den die Euro-Gruppe mit Griechenland vereinbart hat. Sie gehen lediglich von 1,5 Prozent aus. Zwar brüstet sich Tsipras mit einem Primärüberschuss von 4,3 Prozent 2016, doch ob diese Zahlen stimmen, kann vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit dem griechischen Statistikamt mit Fug und Recht bezweifelt werden. Sowohl die Zahlen des IWF als auch die Zahlen der EU sind problematisch. Mit dem derzeitigen Reformwillen wird Griechenland niemals auf einen dauerhaften Primärüberschuss von 3,5 Prozent kommen. Aber 1,5 Prozent sind für ein Land wie Griechenland viel zu gering und unambitioniert, als dass man darauf überhaupt eine Langfristprognose zur Sanierung eines Landes aufbauen kann.

All das vor Augen ist Wolfgang Schäuble ganz Pragmatiker. Er weiß, dass er dem Parlament das Versprechen gegeben hat, dass der IWF bei der Griechenland-Hilfe mit an Bord bleibt. Und er weiß auch, dass der IWF kein weiteres gutes Geld dem schlechten hinterherwerfen will und am liebsten die Europäer mit ihrem Problem alleine lassen würde.

Daher wird jetzt nach einem typischen Kompromiss gesucht. Der IWF macht weiter bei der Überprüfung des Programms mit, zahlt aber nicht seine zugesagte Tranche. Schäuble kann zu Hause Vollzug melden und hat Zeit gewonnen bis über die kommende Bundestagswahl hinaus. Ob es dann im kommenden Jahr einen Schuldenschnitt gibt und ob der IWF dann immer noch dabei ist, wird man sehen. Wahrscheinlich setzt Schäuble dann seinen Vorschlag eines Europäischen Währungsfonds durch, den er bereits 2010 gemacht hat. Dann wäre der IWF endgültig raus. Alle wären zufrieden. Tsipras müsste nur noch mit den Europäern über einen Schuldenschnitt verhandeln, der IWF könnte sich auf andere Teile der Welt konzentrieren und Wolfgang Schäuble hätte die Klippe der Bundestagswahl überwunden. Aber nicht nur das, er hätte auch eine neues Kriseninterventionsinstrument geschaffen, das am EU-Parlament und an der EU-Kommission vorbei eingreifen kann und Deutschland eine Veto-Funktion gibt. Wahrscheinlich würde sich der EWF an den Kapitalmärkten über Anleihen finanzieren, so dass er nur mittelbar in Schäubles Haushalt einschlagen würde. Wie gesagt, Schäuble ist in jeder Hinsicht Pragmatiker. Nach dem Motto: wenn die Schulden in der Euro-Zone schon vergemeinschaftet werden, dann will er zumindest das letzte Wort haben.

Erstmals erschienen bei Tichys Einblick.

Photo: kate m from Flickr (CC BY-SA 2.0).

Von Dr. Alexander Fink, Universität Leipzig, Senior Fellow des IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues und Kalle Kappner, Promotionsstudent an der Humboldt-Universität zu Berlin, Research Fellow bei IREF, Fackelträger von Prometheus

Derzeit ist das EU-Budget auf 1,23% des europäischen Bruttonationaleinkommens begrenzt. Doch sollten weitere Aufgaben in der Sozialpolitik, Verteidigung oder Flüchtlingspolitik auf die EU übertragen werden, ist eine Ausweitung des Budgets der EU wahrscheinlich. Das wäre Wasser auf die Mühlen prominenter Stimmen aus der europäischen Politik und Wissenschaft, die seit Jahren fordern, den derzeitigen EU-Finanzrahmen durch eine EU-Steuer zu ergänzen bzw. zu ersetzen. Von einer EU-Steuer versprechen sie sich aber nicht nur zusätzliche Einnahmen, sondern insbesondere Lenkungswirkungen, die durch nationale Steuern nicht erzielt werden könnten. Die nationalen Regierungen lehnen die Einrichtung einer Steuer, für die die EU die Ertragskompetenz und die Steuergesetzkompetenz hat, dagegen ab. Aus gutem Grund: Die Schaffung von EU-Steuern verspricht wenig Vorteile, birgt aber hohe Risiken.

Was ist eine EU-Steuer?

2015 machte der EU-Haushalt rund 1% des EU-BIP aus – absolut waren das 145,3 Milliarden Euro oder etwa 287€ pro Unionsbürger. Das derzeitige System der EU-Finanzierung basiert auf vier Einnahmequellen:

Beiträge der Mitgliedsstaaten entsprechend ihres Bruttoinlandprodukts (ca. 75% der Einnahmen), Zölle und Zuckerabgaben (ca. 13% der Einnahmen), eine Beteiligung an den Mehrwertsteuereinnahmen der Staaten (ca. 11% der Einnahmen) und sonstige Einnahmen, darunter Steuern und Abgaben auf die Gehälter von EU-Beamten (ca. 1% der Einnahmen).

Der EU-Haushalt wird also größtenteils durch Steuern der Bürger gespeist, die von den nationalen Regierungen an die Union überwiesen werden. Um EU-Steuern handelt es sich jedoch weder bei der Beteiligung an den nationalen Mehrwertsteuereinnahmen, noch bei den Beiträgen entsprechend der Wirtschaftskraft. Denn die EU hat nicht das Recht, Steuersatz und -basis unabhängig von den nationalen Regierungen zu verändern. Auch die Einführung neuer Steuern ist ihr nicht möglich.

Wird eine EU-Steuer gefordert, so ist damit also nicht nur die Ertragskompetenz (Steuereinnahmen fließen der EU zu) gemeint, sondern auch die Schaffung einer Steuergesetzgebungskompetenz auf EU-Ebene. Zur Durchsetzung ihrer Steueransprüche wäre die EU – wie in beinahe allen anderen Tätigkeitsfeldern auch – weiterhin auf die Kooperation der Mitgliedsstaaten angewiesen.

Die Einführung neuer Steuern kann niemals Selbstzweck sein. Sie ist dann sinnvoll, wenn die durch sie finanzierten Aktivitäten oder gewichtige politische Gründe dafür sprechen. Insbesondere letzteres vermuten die Befürworter von EU-Steuern. Sie versprechen sich durch die Ablösung des bisherigen Finanzierungssystems mehr Transparenz, die Eindämmung von als schädlich wahrgenommenem Steuerwettbewerb, eine supranational effektivere Besteuerung und mehr Autonomie für die EU.

Transparenzgewinne unwahrscheinlich

Auch wenn staatliche Budgets heute öffentlich einsehbar sind, bleibt die Finanzierung staatlicher Aktivitäten aus dem Blickwinkel des Individuums recht intransparent. Es ist leicht, den durchschnittlichen Steuerbeitrag pro Steuerzahler innerhalb eines Staates oder Staatenbundes zu errechnen. Doch aufgrund der Vielzahl verschiedener Steuern und staatlicher Einnahmequellen, kann kaum jemand korrekt einschätzen, wie hoch sein individueller Beitrag ist. Auch das EU-Budget bildet hier keine Ausnahme, denn individuelle Beiträge über die Zölle, den Mehrwertsteuerzuschlag und die BIP-abhängigen Transfers können nicht leicht abgeschätzt werden.

Charmant erscheint daher der Vorschlag, die EU-Finanzierung auf eine einzige Steuer zu reduzieren, sodass jeder Bürger zukünftig genau sehen kann, in welchem Ausmaß er zur Finanzierung der EU beiträgt. Doch nennenswerte Transparenzgewinne sind nur möglich, wenn eine solche Steuer relativ selten und in regelmäßigen Intervallen gezahlt wird – wie die Einkommensteuer, bei der ein jährlicher Betrag ausgewiesen wird. Ein Ausbau des EU-Mehrwertsteuerzuschlags, eine Finanztransaktionssteuer oder eine CO2-Emissionensteuer – wahrscheinlichere Szenarien als eine EU-Einkommensteuer – bringen hingegen keine Klarheit über den individuellen Beitrag zum EU-Budget.

Mittel gegen Steuerwettbewerb?

Als weiteres Argument für die EU-Steuer wird angeführt, dass die Verlagerung von Steuerkompetenzen auf EU-Ebene den Steuerwettbewerb zwischen den Mitgliedsstaaten abschwächen und so unerwünschte Ausweichreaktionen mobiler Faktoren und Unternehmen vermeiden kann. So ist die Vorstellung verbreitet, dass große Unternehmen die europäischen Staaten im Standortwettbewerb gegeneinander ausspielen und damit die Körperschaftsteuern nach unten treiben – eine einheitliche Besteuerung soll hier Abhilfe schaffen.

Doch zum einen können die Bürger vom Steuerwettbewerb zwischen Staaten profitieren. Zum anderen zeigt unabhängig von der Wohlfahrtswirkung des Steuerwettbewerbs die derzeitige Praxis der EU, dass eine Zentralisierung der Steuerkompetenzen nicht nötig ist, um Steuerwettbewerb einzuschränken: Die EU greift bereits heute regulierend in die nationale Steuergesetzgebung ein, belässt die Ertragshoheit jedoch auf nationaler Ebene. So können die Nationalstaaten ihre Mehrwertsteuersätze nur in einem von der EU vorgegebenen Korridor anpassen.

EU-weite Externalitäten besteuern?

Gibt es Steuern, die auf supranationaler Ebene wirkungsvoller erhoben werden können? Ein Argument für eine EU-Steuerkompetenz lautet, dass gewisse negative Externalitäten vor Grenzen nicht Halt machen und ihre Besteuerung daher auch grenzübergreifend erfolgen sollte – man denke an CO2-Emissionen. Auch die Besteuerung multinationaler Konzerne und Teile der digitalen Wirtschaft, die sich nur schwerlich national zuordnen lassen, wird als EU-Aufgabe diskutiert.

Doch schon im Fall der CO2-Emissionen zeigt sich, dass eine EU-Steuer nicht nötig ist, um grenzüberschreitende Externalitäten zu internalisieren. Auf EU-Ebene gibt es längst einen Zertifikatehandel. Zwar wäre es vorstellbar, die Internalisierung stattdessen durch eine EU-weit einheitliche Steuer auf CO2-Emissionen handzuhaben. Doch die Erträge dieser Steuer müssten nicht der EU zufließen, sondern könnten an die Mitgliedsstaaten gehen. Auch im Falle der Besteuerung grenzübergreifend operierender Unternehmen gilt ähnliches: Hier wäre eine koordinierende Tätigkeit der EU denkbar – die Ertragshoheit muss nicht auf EU-Ebene liegen. Ein allgemeines Argument für eine EU-Steuer ergibt sich daher auf der Basis EU-weit wirkender Externalitäten nicht.

Mehr Autonomie für die EU?

Nicht nur Enthusiasten der europäischen Einigung beklagen, dass die EU nichts weiter als der „verlängerte Arm der Mitgliedstaaten“ sei. Eine EU-Steuer, so die Hoffnung, brächte mehr Autonomie gegenüber den nationalen Regierungen, sodass die EU ohne Rücksicht auf nationale Befindlichkeiten besser auf die Wünsche der Bürger reagieren könnte. Die Bereitstellung öffentlicher (und öffentlich finanzierter privater) Güter auf EU-Ebene wäre dann nicht mehr durch die Zustimmung der Mitgliedsstaaten limitiert, die möglicherweise effiziente Verlagerungen auf die EU-Ebene verhindern, um ihr eigenes Budget nicht verringern zu müssen.

Doch es ist zweifelhaft, welchen Nutzen eine Ausweitung der Autonomie der EU für den Bürger hätte. Wesentliche durch die EU ermöglichte Vorteile – etwa durch die Binnenmarktintegration oder die Arbeitnehmerfreizügigkeit – wurden bereits realisiert. Abgesehen von der bisher nur unvollständig umgesetzten Dienstleistungsfreiheit erscheinen die meisten derzeit in der EU diskutierten Projekte risikoreicher und kontroverser.

Eine Ausweitung der Autonomie der EU durch eine eigene Steuererhebungskompetenz birgt daher Gefahren: Da sie ihr Budget unabhängig ausweiten könnte, könnte sie möglicherweise staatliche Aufgaben an sich reißen, die auf nationaler Ebene besser aufgehoben sind und gesellschaftlich unerwünschte Umverteilung an einflussreiche Interessengruppen vornehmen. Wie jede Bürokratie hätte auch die EU einen Anreiz, ihre Steuern langfristig zu erhöhen und zur Legitimation dieser Steuererhöhungen das Leistungsangebot auszubauen.

EU-Steuer birgt Missbrauchsrisiko

Es ist schwierig zu bewerten, ob der Grad fiskalischer Zentralisierung in der Europäischen Union derzeit zu hoch oder zu niedrig ist. Ist es ratsam, aufgrund des Verdachts ineffizient niedriger fiskalischer Zentralisierung eine EU-Steuer einzuführen und damit die Gefahr ineffizient hoher Zentralisierung zu erhöhen?

Vermutlich nicht. Denn selbst wenn angenommen wird, dass die heutigen EU-Entscheidungsträger verantwortungsvoll mit der Möglichkeit 400 Mio. Menschen zu besteuern umgehen – was angesichts hoher Agrarsubventionen und von Partikularinteressen getriebener Politik optimistisch erscheint – ist es nicht ratsam, davon auszugehen, dass dem auch in der Zukunft immer so sein wird.

Die durch eine EU-Steuer erwarteten Vorteile – mehr Transparenz, Unterbindung schädlichen Steuerwettbewerbs, supranational effektivere Besteuerung und die Ermöglichung effizienter Zentralisierung – sind gering und unsicher. Die Kosten eines missbräuchlichen Umgangs mit der „Macht zur Besteuerung“ sind dagegen immens, etwa in Form von massiven Steuererhöhungen, einer ungerechten Verteilung der Steuerlast und anschließender Umverteilung zugunsten von Partikularinteressen. Mit dem Grad fiskalischer Zentralisierung wächst die Trageweite des Kompetenzmissbrauchs. Ein solches Risiko sollte angesichts der geringen Vorteile einer EU-Steuerkompetenz nicht eingegangen werden.

Erstmals erschienen bei IREF.

Photo: Jonathan Rolande from Flickr (CC BY 2.0)

Mit einem Paukenschlag geht die Woche zu Ende. Und wieder haben die Wähler anders gewählt als die Regierenden geglaubt haben. Als vor wenigen Wochen Theresa May überraschend Neuwahlen erwirkte, haben viele Beobachter dies als klugen Schachzug empfunden. Schließlich stehen den Briten harte Verhandlungen mit der EU um den Brexit bevor. Diese sollten eigentlich am 19. Juni beginnen und von einer durch die Wähler gestärkten Theresa May angeführt werden. Da schien es sinnvoll, dass Theresa May ihre knappe Mehrheit von 330 Mandaten (326 Mandate sind notwendig) weiter ausbaut und sich dafür die Legitimation durch die britischen Bürger einholt. Jetzt hat sie mit Zitronen gehandelt. Sie wird die absolute Mehrheit verpassen. Ein „hung parliament“ ist beim reinen Mehrheitswahlrecht in Großbritannien ungewöhnlich. Es ist für Theresa May und ihre Tories der größte anzunehmende Unfall. Es ist ein politischer Super-Gau. Aller Voraussicht nach wird sie den Tag politisch nicht überleben, sondern heute bereits um 11 Uhr, während dieser Text veröffentlicht wird, ihre Niederlage eingestehen und Platz für einen Nachfolger machen.

Wer das sein wird, ist offen. Entweder Außenminister Boris Johnson wirft seinen Hut in den Ring oder Brexit-Minister David Davis. Ob diese dann als Premierminister in die Brexit-Verhandlungen gehen, hängt wesentlich von der sich bildenden Mehrheit im Unterhaus ab. Wird es eine erneute Koalitionsregierung mit den überraschend erstarkten Liberaldemokraten geben? Oder mit der nordirischen Democratic Unionist Party? Oder wird vielleicht sogar an den Tories vorbei eine Koalition um den Labour-Führer Jeremy Corbyn gebildet. Immerhin ist er der eindeutige Wahlgewinner. Seine Partei hat überraschend rund 30 Mandate hinzugewonnen. Jedoch haben die Liberaldemokraten einer Koalition unter Führung von Labour bereits eine Absage erteilt. Was sich Großbritannien sehr wahrscheinlich nicht leisten kann, sind erneute Neuwahlen und bis dahin eine Minderheitsregierung.

Ist diese Wahl jetzt eine Absage an den Brexit-Kurs? Sicherlich nicht eindeutig. Das kann man schon daran festmachen, dass die Scottish National Party rund ein Drittel ihrer Mandate verloren hat. Sie warb mit der Loslösung Schottlands von Großbritannien und einem Verbleib in der EU. Jetzt ist auch sie vom Wähler abgestraft worden. Es ist aber sicherlich eine Absage an den harten Brexit-Kurs der Tories.  Die Menschen spüren, dass es doch nicht so einfach ist, die umfangreichen Vertragswerke mit der EU neu zu verhandeln und in so kurzer Zeit auf neue Füße zu stellen. Vielleicht ist es ein Wink der Wähler, auf einen weichen Brexit zu setzen.

Das ist vielleicht auch die Quintessenz und die Chance dieses Wahlergebnisses. Schon einmal habe ich hier geschrieben, dass ein berechenbarer Ausstieg für alle Seiten von Vorteil wäre. Dieser Ausstieg müsste über eine Beitritt Großbritanniens in die EFTA (Europäische Freihandelsassoziation) und damit einem Verbleib im Europäischen Wirtschaftsraum erfolgen. Bis zum Beitritt Großbritanniens zur Europäischen Gemeinschaft 1973 gehörte das Vereinigte Königreich bereits der EFTA (heute sind es noch Island, Norwegen, Lichtenstein und die Schweiz) an. Dieser Beitritt würde allen Beteiligten die notwendige Zeit geben, über weitere Schritte zu verhandeln. Es würde auch den derzeitigen EFTA-Staaten helfen, da auch beispielsweise Schweizer Unternehmen Rechtssicherheit für Ihre Warenexporte nach Großbritannien bekämen.

Hierzulande wird unterschätzt, welche Bedeutung Großbritannien auch ökonomisch für Deutschland und Europa hat. Großbritannien ist die drittgrößte Volkswirtschaft im Europäischen Wirtschaftsraum. 65 Millionen der 500 Millionen Bürger in diesem Wirtschaftsraum kommen von der Insel. Deutsche Unternehmen haben in den letzten Jahren über 120 Milliarden Euro auf der Insel investiert. Über 400.000 Arbeitnehmer sind dort bei deutschen Unternehmen beschäftigt. Allein deutsche Unternehmen haben Waren und Dienstleistungen im Wert von 86 Milliarden Euro in das Vereinigte Königreich geliefert. Britische Unternehmen verkauften für 36 Milliarden Euro Produkte nach Deutschland. Der Finanzplatz London ist für den ganzen Kontinent von großer Bedeutung, da er notwendiges Kapital zur Verfügung stellt. Großbritannien ist viel zu wichtig, als dass man sich in Deutschland Häme oder Schadenfreude leisten könnte. Deshalb sollte die Regierung in Berlin und die EU-Kommission in Brüssel auf die britischen Befindlichkeiten Rücksicht nehmen. Ein weicher Brexit wäre ein guter Anfang.