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Photo: Danny Huizinga from Flickr (CC BY 2.0)

Die bizarre bis erschreckende Situation, in der sich die USA derzeit befinden, ist auch das Ergebnis überzogener Versprechen der Politik. Wenn Weltenrettung der Mindeststandard geworden ist, darf man sich nicht über Kandidaten wie Trump oder Sanders wundern.

„Wenn Du mich wählst, sorge ich dafür, dass Du ein glücklicher Mensch wirst.“

George W. Bush versprach seiner Nation nach dem Trauma des 11. September einen harten, mühsamen, im Ende aber siegreichen Kampf gegen den Terrorismus. Mit dem Irak-Krieg wurde der Agenda auch noch die Demokratisierung des Nahen und Mittleren Ostens hinzugefügt. Nachdem diese beiden Vorhaben einen ganz anderen Verlauf genommen hatten, als ihn sich der Präsident vorgestellt hatte, punktete sein Nachfolger Barak Obama mit der Verheißung, einen Wandel herbeizuführen und die Vereinigten Staaten wieder zu versöhnen. Gemeinsam ist beiden in so vielen Punkten antagonistischen Präsidenten, dass sie gewaltige Versprechen abgegeben haben. Ihr Anspruch war nicht, das ein oder andere Problem zu lösen. Ihr Anspruch war die Rettung der Welt.

Damit haben sie nicht nur bei weitem die Grenzen dessen überschritten, was Politik in einer Demokratie überhaupt zu leisten befähigt ist. Sie haben vor allem auch ein Anspruchsdenken der Wähler an die Politiker befördert, dessen Früchte nun im Vorwahlkampf zu begutachten sind. Politik, so das implizite Versprechen von Bush und Obama, würde sich nicht mehr nur darauf beschränken, Art und Maß der Steuern zu bestimmen, die Umverteilung zu organisieren und Möglichkeiten der Gewährung von innerer und äußerer Sicherheit auszuloten. Politik würde die Welt fundamental verändern und das Leben der Menschen nachhaltig verbessern. Auch wenn das explizit nie so formuliert wurde – das was bei vielen Wählern ankam, war die Verheißung: „Wenn Du mich wählst, sorge ich dafür, dass Du ein glücklicher Mensch wirst.“

Das veränderte Politik-Verständnis

Natürlich wurden diese so geschürten Erwartungen auf voller Linie enttäuscht. Die beiden Präsidenten verloren sich auch im Klein-Klein der Alltagspolitik, machten technische Fehler, schätzten Situationen falsch ein, mussten äußeren Zwängen gehorchen und wurden von der Öffentlichkeit und vom Parlament vor sich hergetrieben. Die Bilanz nach acht Jahren Bush war viel erfolgloses Militärengagement, ein exzessiver Überwachungsstaat und eine enorme Steigerung der Staatsverschuldung. Die Bilanz nach acht Jahren Obama wird, von einigen Ausnahmen abgesehen, auch nicht viel besser ausfallen. Zudem hat sich die Spaltung des Landes eher noch verschlimmert.

Die Enttäuschung über die nicht eingehaltenen Versprechen hat allerdings nicht dazu geführt, dass sich die amerikanischen Wähler jetzt wieder den Pragmatikern zugewandt hätten, also etwa grundsoliden, wenn auch etwas langweiligen Leuten wie dem Republikaner John Kasich oder dem Demokraten Martin O’Malley. Und das liegt daran, dass Politiker wie Bush und Obama mit ihren völlig überzogenen Weltrettungs-Plänen das Politik-Verständnis der Mehrheit verändert haben. Dass noch keine paradiesischen Zustände eingetreten sind, liegt dann im Verständnis vieler an der Person Bush oder an der Person Obama, nicht an der Unerfüllbarkeit von deren Versprechen. Ein anderer, so die Erwartung, werde das dann aber schon hinbekommen.

Streben nach Glück statt Glücksversprechen

Das Ergebnis ist, dass extreme Exponenten wie Trump und Sanders einen erschreckenden Zulauf haben. Die beiden sind in gewisser Weise groteske und überzeichnete Karikaturen der letzten Präsidenten: Trump in seiner Hemdsärmeligkeit als vulgäre Variante von Bush und Sanders in seiner Intellektuellen-Manier als kompromisslose Variante von Obama. Anstatt die Erwartungshaltung an die Politik wieder zurückzuschrauben, wurde sie noch einmal um etliche Windungen weitergeschraubt. Das ist der Fluch unerfüllbarer Versprechen. Der Fluch der Verheißung, die Welt retten zu können.

Gerade weil viele Trends aus den USA oft mit ein paar Jahren Verspätung in Europa ankommen, kann man nur inständig hoffen, dass der derzeitige Alptraum eine vorübergehende kurze Episode bleiben wird. Hoffentlich wacht die Mehrheit der Amerikaner bald erschrocken auf und wendet sich wieder jenem Verständnis von Politik zu, das ihre Gründerväter formuliert hatten und das sie zu ihrer jetzigen Größe geführt hat. Denn das „Streben nach Glück“, das als unveräußerliches Recht in der Unabhängigkeitserklärung festgeschrieben wurde, ist eben nicht ein Glücksversprechen, das von außen kommt. Es wird nicht versprochen, dass die Bürger glücklich gemacht werden, sondern dass sie die Möglichkeit haben, ihr eigenes Glück zu verfolgen. Weder Grenzzäune noch ein massiver Ausbau der sozialen Sicherungssysteme werden Amerika wieder zu alter Größe führen. Einzig der Einsatz, der Fleiß, der Unternehmergeist und der Optimismus jedes einzelnen Bürgers kann ein Land nach vorne bringen – ob in den USA oder in unserem Land.

Tagung des Prometheus-Instituts im Würth Haus Berlin

Über das Thema „Europa zwischen Zentralität und Pluralität“ diskutierten auf Einladung des Prometheus-Instituts am gestrigen Abend Karl von Habsburg und Prof. Thomas Mayer in der Repräsentanz der Würth-Gruppe in Berlin. Von Habsburg ist Präsident der Paneuropa-Bewegung Österreich. Die Paneuropa-Bewegung wurde nach dem ersten Weltkrieg 1922 von Richard von Coudenhove-Kalergie gegründet und gilt als älteste Europabewegung. Von Habsburg warb für einen europäischen Föderalismus und betonte, dass Europa größer sei als die Europäische Union. Dieser Unterschied werde in Brüssel immer wieder negiert.
Der ehemalige Europaabgeordnete betonte, dass die EU, trotz ihrer Schwächen, in anderen Teilen der Welt als moderne Errungenschaft verstanden werde. Insbesondere in Afrika sehe man dies so. Für die westafrikanischen Staaten, die sogenannten ECOWAS-Staaten, sei die EU mit dem Schengen-Raum und der gemeinsamen Währung ein Vorbild, das diese nachbilden würden. Er forderte ein stärkeres außenpolitisches Engagement der EU. Auf die USA könne man derzeit nicht setzen, da bis in das Frühjahr des nächsten Jahres hinein, wegen des Präsidentschaftswahlkampfes und der dann folgenden Neusortierung der US-Regierung, keine Initiativen zu erwarten seien. Dies sehe er in Hinblick auf die Rolle Russlands mit Sorge.
In der Flüchtlingspolitik forderte er eine europäische Lösung. Es gebe keinen deutschen oder österreichischen Weg. Bis 2025 sei mit rund 12 Millionen Migranten zu rechnen, die sich unabhängig von der Schließung der Balkanroute ihren Weg nach Europa suchen würden. Es müsse daher eine Angleichung der Behandlung von Flüchtlingen geben. Solange dies nicht existiere, seien Kontingente wirkungslos.
Thomas Mayer, Gründungsdirektor des Flossbach von Storch Research Institute und Kuratoriumsvorsitzender von Prometheus, zog den Schluss, dass die Gründung des Euro zwangsläufig zu mehr Zentralismus in der EU führe. Die Gründerväter des Euro wollten die immer engere Union damit erzwingen. Er warb jedoch für die Idee eines konföderalen Europas. Hierzu hat er bereits im November gemeinsam mit Prof. Stefan Kooths, Prof. Justus Haucap und Frank Schäffler ein Manifest veröffentlicht. Darin sprechen sich die Autoren für die Idee eines Staatenverbundes aus. Am Beispiel der Asyl- und Flüchtlingspolitik zeige sich, dass sich Konsens in der EU nicht durch Gemeinschaftsinstitutionen ersetzen lasse, sondern dass sich das, was gemeinschaftlich koordiniert geschehen soll, am Konsens orientieren müsse. Deutschland dürfe seine Vorstellungen nicht zum Maßstab erklären, um dann von den Partnern zur Bewältigung der damit verbundenen Lasten Solidarität einzufordern.
Im Hinblick auf die Euro-Schuldenkrise ist die Spaltung Europas nur durch eine Entpolitisierung des Euros möglich. Der Euro-Raum müsse zu einer offenen Hartwährungsunion entwickelt werden, die den Austritt ermöglicht und andere Währungen parallel zulässt.
Prometheus-Geschäftsführer Frank Schäffler betonte, dass in Europa die Tradition eines Primates von Recht und Freiheit herrschen müsse. Das seien die Wurzeln der europäischen Idee. Sie zu hegen und zu pflegen, sei Auftrag einer offenen Gesellschaft. Manfred Kurz, Repräsentant der Würth-Gruppe, unterstrich die Wichtigkeit freiheitlicher Ideen, die in Deutschland vom Prometheus-Institut und Frank Schäffler vertreten würden.

Photo: dierk schaefer from Flickr (CC BY 2.0)

Es gibt sie noch: die Helden der Gegenwart. Sieglinde Baumert ist so eine. 61 Tage saß sie in Erzwingungshaft, bis der MDR ein Einsehen hatte. Er zog seinen Antrag auf Erlass eines Haftbefehls zurück, so dass das Amtsgericht Bad Salzungen ihn aufhob. Die Rundfunkgebührenverweigerin hat keinen Fernseher, soll aber dennoch Zwangsgebühren von 17,50 Euro pro Monat bezahlen. Das sah sie nicht ein und ging deshalb lieber ins Gefängnis. Eigentlich soll die Erzwingungshaft, wie der Name schon sagt, eine Zahlung erzwingen, doch Sieglinde Baumert hat nicht gezahlt und wird wohl auch künftig nicht zahlen. Das nötigt einem Respekt ab. Über die Öffentlich-Rechtlichen sagt der Vorgang aber sehr viel aus. Ihnen ist jedes Mittel recht, selbst der Freiheitsentzug.

Sieglinde Baumert ist die Speerspitze einer Protestbewegung, die die Öffentlich-Rechtlichen eigentlich zum Nachdenken veranlassen sollte. 4,5 Millionen Beitragskonten waren 2014 auf einem „Mahnstatus“. Das sind rund 10 Prozent aller Beitragskonten. Für 2015 wurden wahrscheinlich 2,2 Millionen Vollstreckungsersuchen durch den „Beitragsservice“ von ARD und ZDF bei den Städten und Gemeinden beantragt. Die Konsequenz ist die Pfändung oder die Abnahme der Vermögensauskunft.

Was viele Zwangsbeitragszahler fassungslos macht, ist nicht zuletzt die Ausgabementalität der Sender. Jüngstes Beispiel ist das neue heute journal-Studio des ZDF. Nein, so etwas kostet nicht eine Million, auch nicht zwei Millionen, sondern gleich 30 Millionen Euro. Nicht der Neubau des gesamten ZDF auf dem Lerchenberg in Mainz, sondern nur ein Studio, das einmal am Tag für eine halbe Stunde genutzt wird. Vielleicht wird auch noch die eine oder andere heute-Sendung dort ausgestrahlt? Mag sein. Aber 30 Millionen Euro? Schon wird wieder über den Rundfunkbeitrag hinter den Kulissen gefeilscht. Beitragskontinuität ist das Stichwort. Zwar nimmt der „Beitragsservice“ sehr viel mehr Geld ein als geplant, dennoch soll es für die üppigen Pensionen zurückgelegt werden. Immerhin 8,3 Milliarden Euro pro Jahr kommen für 23 Fernsehkanäle und 63 Radiosender rein. Deutschland hat mit Abstand den teuersten und umfangreichsten öffentlichen Rundfunk der Welt. Dabei gibt es überhaupt keinen Mangel an Informationen. Allein 400 TV-Sender sind in Deutschland empfangbar. Das Internet hat eine Revolution an unabhängiger Information geschaffen.

Deshalb hat sich diese Art der Rundfunkfinanzierung überholt. Da können die Rundfunkanstalten noch so oft die Urteile des Bundesverfassungsgerichts aus 1994 und 2007 rauskramen. Damals war es eine andere Welt. Die Digitalisierung fegt die traditionelle Informationsgewinnung per Tagesschau oder heute journal hinweg. Wieso sollen die Bürger dann mit einem Zwangsbeitrag dafür bezahlen müssen, dass immer weniger es sehen wollen, aber immer mehr bezahlt werden muss? Sie können ja nicht einmal über Programm und Ausgaben mitreden. Selbst so verstaubte Institutionen wie die Deutsche Rentenversicherung, die ebenfalls beitragsfinanziert ist, lässt ihre Zwangszahler mitreden – über Inhalte und Ausgaben. Nur bei ARD und ZDF landet man im Zweifel im Gefängnis. Damit bekommt die vom WDR-Chefredakteur Jörg Schönenborn so bezeichnete Rundfunkgebühr als „Demokratieabgabe“ eine ganz neue Bedeutung. Etwas überspitzt ausgedrückt: Wer gegen die Rundfunkgebühr ist, stellt sich gegen die Demokratie und muss deshalb ins Gefängnis. Aber wenigstens fallen dort für die Inhaftierten keine Zwangsbeiträge an, wenn sie früh morgens das Morgenmagazin anschauen. Was sollen sie dann auch sonst machen?

Erstmals erschienen bei Tichys Einblick.

Photo: Andrew Gomzyakov from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Wer sich mit Politik beschäftigt, ob professionell oder amateurhaft, spekuliert oft nur zu gerne über die Motive politischer Akteure. Die Gefahr ist groß, dass einem die Phantasie dabei durchgeht und man das eigentliche Problem und seine Lösungsmöglichkeiten aus dem Blick verliert.

Die neoliberale Weltverschwörung

Als Margaret Thatcher zwischen 1979 und 1990 Politik und Ökonomie Großbritanniens einem radikalen Wandel unterwarf und massive Reformen durchführte, da sahen die allermeisten ihrer Kritiker eine neoliberale Verschwörung am Werk. Ausbeuterische Großkonzerne und deren Helfershelfer in der Politik wollten in dieser Erzählung die Arbeiter ausplündern und das ganze Land zurück in die finsteren Zeiten des 19. Jahrhunderts katapultieren. Wer sich etwas eingehender mit Thatcher beschäftigt, wird sich ein sehr anderes Bild machen müssen. Zumindest in der Außendarstellung und mit sehr großer Wahrscheinlichkeit auch in ihrer Selbstwahrnehmung sah das ganz anders aus. In einer Rede, die sie 1977 in Zürich hielt, sagte sie:

„In unserer Weltsicht ist das Ziel des Einzelnen nicht, ein Diener des Staates und von dessen Zielen zu sein, sondern seine Talente und Begabungen so gut wie möglich zu entfalten. Das Gefühl der Selbständigkeit, eine Rolle zu spielen innerhalb einer Familie, selber Eigentum zu besitzen, für sein eigenes Leben aufzukommen – all das ist Teil des spirituellen Gewichts, das die Verantwortlichkeit der Bürger erhält. Und es stellt das solide Fundament bereit, von dem aus Menschen um sich blicken könne, um zu erkennen, was sie darüber hinaus noch tun können: für andere und für sich selbst. Das meine ich mit einer moralischen Gesellschaft. Nicht eine Gesellschaft, wo der Staat für alles Verantwortung trägt und keiner für das Gemeinwesen.“

Tatort-Kommissare auf heißer Spur

Wer von vornherein bereits „weiß“, dass Thatcher Teil der neoliberalen Weltverschwörung ist, der wird auch diese Worte für eine glatte Lüge halten, obwohl sie die Freiheit des einzelnen ebenso hochhalten wie die Forderung nach einem Gefühl gegenseitiger Verantwortlichkeit. Dieses Wissen über die Motive von Akteuren ist wahrlich eindrucksvoll. Der Wissende scheint bisweilen einen tieferen Einblick zu haben als andere Menschen. Er weiß, dass Großkonzerne TTIP nutzen, um uns ihre lebensgefährlichen Produkte und ausbeuterischen Arbeitsbedingungen aufzudrücken. Er weiß, dass Angela Merkel mit ihren einwanderungspolitischen Entscheidungen Deutschland islamisieren möchte. Und er weiß – mitunter zeitigt die Motivjagd unbeabsichtigt Satire –, dass die EU den ganzen Kontinent ihrer neoliberalen Agenda zu unterwerfen trachtet.

Woher rührt dieses Bedürfnis, Politik wie einen Sonntagabend-Tatort zu behandeln, bei dem die Suche nach dem Motiv den Ermittlern des nachts den Schlaf raubt? Wahrscheinlich sind unterschiedliche Faktoren dafür verantwortlich: Die Liebe zum Drama und zur gut erzählten Geschichte, die den Menschen immer schon fasziniert hat – von Homer bis „House of Cards“. Die Beobachtung, dass Politiker ja tatsächlich nicht immer Vorreiter an der Wahrhaftigkeitsfront sind, und das (durchaus sehr nachvollziehbare) Gefühl einer Entfremdung von der Politik. Und nicht zuletzt das dringende Bedürfnis, ein überschaubares Weltbild zu haben, das man selber immer gut unter Kontrolle hat. Denn indem man über das Motiv eines Akteurs spekuliert oder gar behauptet, es zu kennen, sichert man sich die Deutungshoheit und überkommt das Gefühl der Ohnmacht, das einen angesichts politischer Entscheidungen und Entwicklungen zuweilen überkommen kann.

Die Suche nach dem Motiv als Ersatzhandlung für echtes Engagement

Dabei ist die Motivsuche in sehr vielen Fällen kaum wirklich möglich. Wer wirklich finstere Motive hat, wird diese oft genug selbst vor den engsten Vertrauten verschleiern. Da jeder Mensch gerne gut dastehen möchte vor anderen und auch vor sich selbst, werden auch die allermeisten für sich in Anspruch nehmen, nur aus ganz und gar hehren Motiven heraus zu handeln. Wahrscheinlich liegt die Wahrheit irgendwo in der Mitte. Menschen handeln ja in den meisten Fällen aus mehreren unterschiedlichen Motiven: da sind solche, die man als altruistisch bezeichnen würde, ebenso vertreten wie solche, die die Brandmarke „egoistisch“ tragen. Darüber hinaus sind die Handlungen von politischen Akteuren häufig abhängig von vielen anderen Faktoren. Pfadabhängigkeiten spielen eine herausragende Rolle. Aber auch Verpflichtungen gegenüber anderen Akteuren, taktische Entscheidungen und auch der reine Zufall beeinflussen das Handeln (und das Denken) der Entscheidungsträger.

Wer sich zu intensiv damit beschäftigt, in der Politik Muster aus Macbeth oder „Verbotener Liebe“ zu identifizieren, gerät leicht in Gefahr, sich in seiner Phantasiewelt zu verlieren. Die Suche nach dem Motiv kann zu einer Ersatzhandlung für echtes Engagement werden. Viel wichtiger ist die Beschäftigung mit den tatsächlichen Folgen und Auswirkungen der politischen Entscheidungen. Ganz egal, ob man die Einführung des Mindestlohns für fatal hält, Waffenexporte ablehnt oder Deregulierung für Teufelswerk ansieht – Einsicht in die Motive der Urheber würde einen keinen Schritt weiterbringen. Was aber leicht passiert, wenn solche Motive vermeintlich identifiziert werden, ist eine massive Vergiftung der Atmosphäre. Als Margaret Thatcher vor drei Jahren starb, gab es tatsächlich Freudentänze auf den Straßen in Großbritannien. Den Motivjägern in allen Parteien ins Stammbuch: In der Realität zählt nicht, warum jemand etwas tut, sondern was er tut und welche Folgen das hat. Wer sich darauf konzentriert, hat nicht nur die reelle Chance, etwas zu verändern, sondern trägt auch dazu bei, den zivilisierten Rahmen des politischen Diskurses zu bewahren.

Photo: big-ashb from flickr (CC BY 2.0)

In diesen Tagen der europäischen Krise werden wieder die europäischen Werte beschworen. Europa sei eine Wertegemeinschaft, betonte Bundeskanzlerin Angela Merkel neulich im Parlament der Europäischen Union. Merkel bezog diese floskelhafte Aussage auf die Flüchtlingskrise. Sie forderte, Europa müsse sich an Menschenwürde, Rechtsstaatlichkeit, Toleranz, der Achtung von Minderheiten und Solidarität orientieren.

Kampf um Werte in Europa – banalisiert

Zweifelsohne sind dies wichtige Werte, die Europa historisch verbinden. Es waren spanische Dominikaner, die im 16. Jahrhundert beim Anblick der Unterdrückung der Bevölkerung in Mittel- und Südamerika die Menschenwürde als universelles Grundrecht gegenüber dem spanischen König einforderten. Es war im 13. Jahrhundert die Magna Charta, die die Willkür des englischen Königs beschnitt und den Weg zum Rechtsstaat bahnte. Schon im 16. Jahrhundert wurden die Werte Toleranz und Achtung von Minderheiten eindrücklich verwirklicht, als etwa das Königreich Polen-Litauen verfolgten Protestanten aus ganz Europa eine neue Heimat gab. Und es war der als Sankt Martin verehrte Bischof von Tours, der im 4. Jahrhundert seinen Mantel aus freien Stücken mit einem Bettler am Wegesrand geteilt hat.

Ob Angela Merkel wohl an diese historischen Ereignisse gedacht hat? Es spricht nicht viel dafür. Doch da ist sie nicht alleine. Heute werden die Werte Europas umgedeutet und in Sonntagsreden banalisiert. In der real existierenden Europäischen Union wird unter Menschenwürde der Beschäftigung vernichtende Mindestlohn und unter Rechtsstaatlichkeit die Vertragsbrüche von Maastricht und Dublin verstanden, unter Toleranz die Regulierung von Kerzen, Ölkännchen und Glühbirnen, unter der Achtung von Minderheiten die Förderung der Nomenklatura in Brüssel und unter Solidarität die Rettung europäischer Banken. Die europäische Wertegemeinschaft ist ein Wieselwort. Erst durch konkrete Institutionen werden abstrakte Werte real und fassbar.

Die Trennung von Kirche und Staat, Marktwirtschaft, individuelle Freiheitsrechte, Rechtsstaat und Demokratie sind Institutionen, die diese Werte Wirklichkeit werden lassen. Die Trennung von Kirche und Staat ist das Ergebnis eines über Jahrhunderte ausgetragenen Machtkampfes zwischen den Kirchen und den weltlichen Herrschern. Der Drang der Kaiser und Könige, sich in innerkirchliche Belange einzumischen, und das Ansinnen der Päpste und Bischöfe, sich die weltlichen Herrscher zu ihren Untertanen zu machen, hat eine Machtbalance hervorgebracht, deren Ergebnis die tatsächliche Trennung der beiden Bereiche war. Anders als etwa in den meisten islamischen Staaten, die keine Trennung zwischen Religion und Staat kennen. Ein entscheidender Unterschied ist, dass in unseren Breitengraden das kirchliche Recht nicht über dem staatlichen Recht steht, sondern ihm untergeordnet ist. Zwar entstammt die europäische Rechtstradition auch dem kanonischen, also kirchlichem Recht, aber auch dies entstammt letztlich griechisch-römischer Rechtstradition.

Wachsende Kluft zwischen Werten und Institutionen

Die Marktwirtschaft und der Kapitalismus haben ihre Verankerung im Privateigentum und im Individualismus. Beides verdanken wir der schottischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts, dessen prominentester Vertreter Adam Smith war. Einige wesentliche Erkenntnisse über deren Funktionieren haben sogar bereits die scholastischen Philosophen im 13. Jahrhundert und die Gelehrten der Schule von Salamanca im 16. Jahrhundert gewonnen und formuliert.

Die individuelle Freiheit folgt der Erkenntnis, dass nicht das Streben nach gemeinsamen Zielen eine freie und offene Gesellschaft ermöglicht, sondern, dass die größtmögliche Verwirklichung individueller Freiheit am Ende auch die Freiheit einer ganzen Gesellschaft mehrt.

Der Rechtsstaat sichert in der Tradition eines Immanuel Kant die Gleichheit vor dem Gesetz. Sein kategorischer Imperativ: “Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde” hat nicht nur die europäische Verfassungsgeschichte seit dem 18. Jahrhundert maßgeblich beeinflusst, sondern auch die amerikanische.

Das Aufbegehren gegenüber den Königen und Fürsten durch das Volk brachte letztlich auch die Demokratie hervor, deren Wurzeln wir in der Schweiz verorten können wie in Großbritannien, in den Niederlanden wie in Polen. Bald erkannte man, dass es nicht genügt, nur dem reinen Mehrheitsprinzip zu folgen, sondern, dass man Demokratie einhegen muss in einen Grundrechtskatalog, der das Individuum vor der Despotie der Mehrheit schützt. Heute wissen wir, dass Fortschritt darin besteht, dass die Wenigen die Vielen überzeugen. Neue Ideen treten zuerst bei Einzelnen auf, bevor sie zur Mehrheitsmeinung werden können.

Diese Institutionen entstammen einer europäischen Wertetradition, die längst vergessen scheint, weil Werte und Institutionen immer wieder auseinander klaffen. Sie wieder an das Tageslicht zu bringen, würde Europa helfen, seine Krise zu überwinden und der europäischen Wertegemeinschaft wieder einen Sinn zu geben.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf Tichys Einblick.