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Photo: Hermann Auinger from flickr (CC BY-NC-ND 2.0)

Der legendäre britische Premier Winston Churchill galt als Genussmensch. Er rauchte dicke Zigarren und war dem Whisky nicht abgeneigt. Auch sein Körpermaß entsprach nicht einem ausgewogenen Body-Maß-Index. Dennoch wurde er 90 Jahre alt. Seine Gesundheitsphilosophie soll er mit den Worten „no sports“ umschrieben haben. Heute ist mangelnde Bewegung von Kindern wahrscheinlich die Hauptursache für Übergewicht. Jetzt hat die neue britische Regierung dieser Entwicklung den Kampf angesagt. Dabei hat sie nicht die Stundenzahl des Sportunterrichts verdoppelt, sondern sie will ab 2018 eine Strafsteuer auf zuckerhaltige Getränke einführen. Wahrscheinlich wird es nicht lange dauern, bis auch in Deutschland ähnliche Initiativen ergriffen werden. Es wäre eine typische Reaktion einer Regierung. Es wird ein Problem erkannt und durch eine Lenkungssteuer, starke Regulierung oder sanftes Nudging bekämpft. So ist es schon bei Zigaretten, Alkohol und anderen Genussmitteln. Die Regierung spielt den Oberlehrer. Sehr häufig spielen dabei Sachargumente gar keine Rolle. Es geht nur um das Unterstreichen von Handlungsfähigkeit. Beim Zucker gibt die Faktenlage eine Diskriminierung ohnehin nicht her.

Zwar steigt der Zuckerverbrauch weltweit, dies hat jedoch eher mit dem wirtschaftlichen Aufholen der Entwicklungsländer und ihrem steigenden Konsum zu tun. So schätzt die OECD einen Pro-Kopf-Anstieg des Zuckerkonsums von 24,3 Kilogramm auf 26,7 Kilogramm im Jahr 2024. In der EU und in den USA geht der Pro-Kopf-Verbrauch an Zucker jedoch zurück. Wahrscheinlich ist die Kalorienaufnahme für steigendes Übergewicht verantwortlich. Das hat nicht zwingend etwas mit Zucker zu tun. Doch selbst die Kalorienaufnahme ist seit vielen Jahren konstant und daher liegt die steigende Fettleibigkeit von Kindern eher am Bewegungsmangel als an zu viel Zucker.

Doch wer ist dafür verantwortlich? Die Regierung, die Krankenkassen, die Süßwarenindustrie, die Zuckerrübenanbauer? Und welches objektive Gremium stellt die Verantwortlichen fest? Etwa eine Regierungsmehrheit im Parlament? Werden die Strafsteuern dann christdemokratisch, sozialdemokratisch, ökologisch oder liberal festgelegt?

Nein, Lenkungssteuern sind falsch, sie wollen den Bürger erziehen und sein individuelles Verhalten verändern. Das steht keiner Regierung, keinem Parlament und keiner politischen Mehrheit zu. Denn wo soll diese Bevormundung enden, etwa bei der wöchentlichen Zuteilung von Genussmitteln wie bei George Orwells „1984“? Gegen dieses moderne Jakobinertum sollten wir uns schon in den Anfängen wehren. Freiheit setzt Verantwortung voraus, auch beim Konsum. Es ist aber eine individuelle Verantwortung, sie kann nicht kollektiviert werden, sonst stirbt die Freiheit.

Photo: Wikimedia Comons

Sechs Millionen Deutsche machten im vergangenen Jahr Urlaub in Polen. Zwei Millionen Polen und Polnisch-Stämmige leben dauerhaft in Deutschlands. Polen ist unser siebtwichtigster Handelspartner. Aber nur wenige wissen um die leuchtende Vergangenheit des Landes.

Eine Ausnahmeerscheinung in finsteren Zeiten

Entgegen der üblichen Wahrnehmung war das Mittelalter gar nicht eine so finstere Zeit. Dagegen war die darauffolgende frühe Neuzeit in einer Weise düster, die sich oft durchaus mit den finsteren Zeiten des 20. Jahrhunderts messen kann. Die Epoche zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert war in Europa geprägt von blutigen Glaubenskämpfen, von der zunehmenden Konzentration von Macht im Absolutismus und vom rasanten Wachstum des starken Staates. Inmitten dieser erstickenden Atmosphäre war die „Adelsrepublik Polen“ ein einzigartiges Phänomen, in dem jene Werte gedeihen konnten, die erst heute, etliche hundert Jahre später, in ganz Europa unser Selbstverständnis prägen.

Das Königreich Polen und das Großfürstentum Litauen bildeten bereits ab 1385 eine Personalunion. 1569 wurden die bisher gemeinsam regierten beiden Reiche in einer Realunion zusammengeführt. Gleichzeitig gab es eine massive Verfassungs-Revision, die aus dem neu entstandenen Reich ein Staatswesen mit beispielloser Freiheit machte. Das erbliche Königtum wurde abgeschafft zugunsten eines Wahlkönigtums. Damit einher ging eine deutliche Schwächung der Stellung des Königs, der mehr ein oberster Beamter war als ein klassischer Herrscher. Diese Entwicklung war dem absolutistischen Trend im Rest Europas diametral entgegengesetzt. (Ausnahmen bildeten nur noch die Vereinigten Niederlande und, mit Abstrichen, ab der „Glorious Revolution“ von 1688 auch Großbritannien.)

Demokratie und Toleranz

Gewählt wurde der König vom Adel sowie von Vertretern der freien Städte. Der Adel war freilich in Polen nicht eine kleine Elitenkaste. Ihm gehörten etwa 15 % der Bevölkerung an. Zum Vergleich: In Großbritannien, dem selbsterklärten „Mutterland der Demokratie“ durften erst nach der großen Reform von 1832 vergleichbar viele Bürger wählen. Die Adligen fanden sich alle zwei Jahre für sechs Wochen zusammen im Sejm, einem der ältesten Parlamente der Welt. Ausgestattet mit umfangreichen Veto-Möglichkeiten bestimmten sie über Gesetzgebung und Fiskalfragen sowie über außenpolitische Angelegenheiten. In der Zeit zwischen den Sejm-Sitzungen wachten 16 gewählte Senatoren darüber, dass der König sich an die Beschlüsse des Parlaments hielt. Außerdem gab es ein verbrieftes Recht zum Widerstand, sollte der König gegen „Recht, Freiheit, Privilegien und Gebräuche“ verstoßen.

Seit dem „Warschauer Religionsfrieden“ von 1573 gab es in der Republik auch garantierte Religionsfreiheit. In einer Zeit höchster Intoleranz zwischen den großen Konfessionen, gegenüber freikirchlichen „Sekten“ und „Ketzern“ und natürlich gegenüber Juden lebten in Polen Angehörige unterschiedlichster Konfessionen und Religionen friedlich zusammen: Katholiken, Protestanten, Orthodoxe, Juden und Muslime. Für viele verfolgte Anhänger protestantischer Freikirchen war Polen der einzige Zufluchtsort in Europa. Neben den religiösen Traditionen konnten sich auch kulturelle Eigenheiten in dem Vielvölkerstaat halten: Polen, Litauer, Ukrainer, Weißrussen, Esten, Letten, Slowaken, Ungarn, Moldauer, Juden, Deutsche, Armenier und Tataren fanden sich in einem föderalistisch organisierten Gemeinwesen zusammen.

Friedliche Koexistenz, wenn Macht begrenzt ist

Inmitten der zentralstaatlich organisierten, absolutistischen und kriegslüsternen europäischen Monarchien hatte es die Freiheitsinsel Polen-Litauen zunehmend schwer. Im Laufe des 18. Jahrhunderts wurde es aufgerieben zwischen den Großmächten in der Umgebung: Russland, Preußen, Österreich und Schweden bedrohten es von außen und durch Intrigen auch von innen. Auch der Versuch einer Verfassungsreform im Jahr 1791, die das Land modernisieren und noch weiter demokratisieren sollte, konnte den Untergang nicht abwenden. Nachdem bereits bei der ersten Polnischen Teilung 1772 bedeutende Teile des Landes von Russland, Preußen und Österreich annektiert worden waren, verschwand der Staat 1793 bis 1795 vollständig von der Landkarte. Die als „Goldene Freiheit“ bezeichnete Epoche war unwiderruflich vorbei.

Die beispiellose Freiheit, die über 200 Jahre hinweg in Polen-Litauen herrschte, sollte uns heute viel stärker wieder ins Bewusstsein kommen. Gerade in einer Zeit, in der sich nach dem Brexit-Votum die Gewichte innerhalb der EU verschieben könnten. Und gerade in einer Zeit, in der in vielen Staaten des östlichen Europas die Traditionen der Toleranz und Offenheit einen schweren Stand haben. Die Geschichte der „Goldenen Freiheit“ kann uns Warnung und Inspiration zugleich sein: Die Warnung lautet, dass die Freiheit immer bedroht ist durch die Macht. Die Entwicklungen in Russland in den letzten Jahren und in der Türkei in der jüngsten Zeit darf Europa nicht ignorieren. Zugleich zeigt die Geschichte aber auch vorbildhaft, dass eine friedliche Koexistenz vieler unterschiedlicher Lebensentwürfe möglich ist – gerade dann, wenn Macht nicht zentralisiert und absolutistisch ist. Das sei insbesondere den Verantwortlichen in Brüssel ans Herz gelegt …

Der Philosoph Karl Popper, dessen Geburtstag sich gestern jährte, stellte schon 1958 in einem Vortrag zum Thema „Woran glaubt der Westen“ (und die Geschichte Polen-Litauens beweist: auch der Osten glaubt daran!) fest:

„Unser Stolz sollte es sein, dass wir nicht eine Idee haben, sondern viele Ideen; dass wir nicht einen Glauben haben, nicht eine Religion, sondern viele, gute und schlechte. Es ist ein Zeichen der überragenden Kraft des Westens, dass wir uns das leisten können. Die Einigung des Westens auf eine Idee, auf einen Glauben, auf eine Religion, wäre das Ende des Westens, unsere Kapitulation, unsere bedingungslose Unterwerfung unter die totalitäre Idee.“

Photo: Polybert49 from Flickr (CC BY-SA 2.0)

0,42 Prozent des Bruttonationaleinkommens gab die deutsche Regierung im vergangenen Jahr für Entwicklungshilfe aus. Das ist weniger als die 0,7 Prozent, die die Vereinten Nationen bereits 1970 als Zielgröße empfohlen haben. Aber dennoch sind die 12,5 Milliarden Euro der drittgrößte Wert weltweit. Die Regierung wird daher zufrieden sein.

Doch ob diese rein quantitative Betrachtung der Entwicklungshilfe hilfreich ist, läßt sich sicherlich bezweifeln. Findet doch Entwicklungshilfe oft als reine Budgethilfe für afrikanische Staaten statt. Nach dem Zuckerbrot-und-Peitschen-Prinzip wird die jeweilige Regierung mit Budgethilfen belohnt, wenn sie sich rechtsstaatlich, demokratisch, ökologisch oder weniger diskriminierend gegenüber Minderheiten verhält. Dieser Erziehungsansatz mag bei Kleinkindern funktionieren, ob es souveränen Staaten und deren Machthabern unsere Form des demokratischen Rechtsstaates näherbringt, darf sicherlich bezweifelt werden. Ohne innere Einsicht wird das nicht klappen.

Um so erfreulicher ist es, wenn jetzt eine wichtige Organisation in der Entwicklungshilfe, die Weltbank, zumindest personell einen neuen Weg zu gehen scheint. Der Vorstand der Weltbank hat den New Yorker Ökonomen Paul Romer zum neuen Chefökonomen ernannt. Damit könnte auch ein Wandel in der weltweiten Entwicklungszusammenarbeit eingeläutet werden. Zu wünschen wäre es. Romer ist in mehrerer Hinsicht ein interessanterFall: Er gilt als einer der prägenden Köpfe einer endogenen Konjunkturtheorie, die den Fortschritt und das Wachstum ganzer Volkswirtschaften mit der Innovationskraft einzelner Unternehmen begründet. Für ihn ist der Konsumverzicht, also das Sparen, die Voraussetzung für Investitionen, die wiederum Wachstum und Arbeitsplätze schaffen. Im letzten Jahr erzeugte er eine heftige Debatte unter seinen Professorenkollegen, weil er ihnen eine Missbrauch der Mathematik vorwarf. Er nannte dies „Mathiness“ und meinte damit, dass unter dem Deckmantel der Mathematik, ideologische Dogmen vertreten und vermeintlich bewiesen werden.

Wahrscheinlich ist seine Konjunkturtheorie auch der Ansatz für seine entwicklungspolitische Idee, die er „Charter City“ nennt. Im Februar habe ich dieses Konzept bereits in meiner Kolumne im Blog von Roland Tichy vorgestellt. Er versteht darunter eine Art Sonderwirtschaftszone in Entwicklungsländern, in denen das Rechtssystem eines anderen Landes gilt. Seine Vorbilder sind Hongkong und Singapur, die unter einem anderen Rechtssystem eine wesentlich bessere Entwicklung genommen haben als ihr Umland. Erst diese Entwicklung hat China veranlaßt, mit Sonderwirtschaftszonen im eigenen Land diesen Regionen nachzueifern.

Romers Verdienst ist es, dass er Rechtsstaatlichkeit und Eigentumsschutz als wesentliche Triebfeder für den Wohlstand ansieht. Nur wenn Eigentum rechtssicher erworben und übertragen werden kann, investieren Unternehmer. Nur wenn die Regierung Korruption glaubhaft bekämpft, kommt Investitionskapital in das Land. Und nur wenn die Gleichheit vor dem Recht existiert, kann die Regierung nicht mehr willkürlich entscheiden.

Auf die aktuelle Entwicklung in der Türkei bezogen, bedeutet dies: So schädlich bereits der Putschversuch für ein Land ist, so ökonomisch verheerend ist das anschließende willkürliche Vorgehen der Regierung unter Staatspräsident Erdogan gegen vermeintliche Kritiker. Wahrscheinlich erlebt die Türkei in den nächsten Monaten einen Exodus seiner Eliten.

Auch hier wären „Charter Cities“ eine Alternative. Dort würde nicht türkisches Recht, sondern vielleicht englisches gelten. Die Richter wären unabhängig vom Zugriff der Regierung und stünden vielleicht sogar unter internationalem Schutz. Die Freiheit der Wissenschaft würde an den dortigen Hochschulen gelebt, weil sie sich selbst über Studienbeiträgen finanzieren. Kein Machthaber und kein Präsident hätte das Recht und die Möglichkeit, Wissenschaftlern die Ausreise zu verbieten oder sie zu entlassen. Es würde Investitionssicherheit herrschen, weil ein Grundbuch vorhanden ist und eine schlanke und effiziente Verwaltung existiert.

Romers Idee ist deshalb so bestechend, weil sie im Kleinen Dinge von einigen innovativen Kräften ausprobieren läßt, die andere aus Behäbigkeit, Verkrustung oder einem drohenden Machtverlust nie zulassen würden. Vielleicht ist die Berufung von Paul Romer zum Chefökonom der Weltbank eine Initialzündung für bald tausend Hongkongs auf dieser Welt. Der Bekämpfung von Hunger und Elend würde dies am besten dienen. Zu wünschen wäre es.

Verletzte Polizisten, brennende Autos und bundesweite Aufmerksamkeit. Was die Hausbesetzer in der Rigaer Straße in Berlin und ihre Mitkämpfer veranstalten, kann es eigentlich nur in einem marktwirtschaftlichen System geben. Überall sonst würde gnadenlos niedergeknüppelt.

Perfide Selbstinszenierung als „Widerstand“

Im Internet feiern sich die Hausbesetzer der Rigaer Straße 94 als „Teil des radikalen Widerstandes gegen Verdrängung und Vertreibung“. Sie sprechen von „Belagerung“ und „polizeilicher Besetzung“ (privat scheint das in Ordnung zu gehen) und drohen, „Berlin ins Chaos zu stürzen“. Jeder, der halbwegs bei Sinnen ist, findet dieses groteske Schauspiel abstoßend. Die hass- und wuterfüllte Rhetorik und die sich daraus ergebende Gewalt unterscheidet sich nur in den Parolen und Feindbildern vom gewaltbereiten Rechtsradikalismus – phänotypisch sind sie sich zum Verwechseln ähnlich.

Widerstand – das ist ein schwerwiegendes Wort, gerade in dieser Stadt. Wenn der Berliner sich eine Vorstellung davon machen möchte, was Widerstand bedeutet, kann er in die Gedenkstätte Plötzensee fahren, wo die Nationalsozialisten im Akkord Widerstandskämpfer an Fleischerhaken gehängt haben (unter anderem auch einen früheren Bewohner des besetzten Hauses: Ernst Pahnke). Oder man kann nach Hohenschönhausen fahren, wo einem ehemalige Insassen des Stasi-Gefängnisses aus erster Hand die Zelle zeigen können, in der sie Jahrelang eingesperrt waren, weil sie einen Witz über Walter Ulbricht weitererzählt hatten. Widerstand – davon können die Menschen in Russland berichten oder in den sozialistischen Vorzeigestaaten Kuba und Venezuela.

In Venezuela wäre das Haus längst geräumt

Mit Widerstand hat das Treiben der Linksextremen rund um die Rigaer Straße nichts zu tun. Widerstand kann gegen ein Unrechtsregime nötig, vielleicht sogar geboten sein. Die Zeiten, in denen die Rigaer Straße auf dem Gebiet einer Diktatur liegt, sind allerdings seit 26 Jahren zum Glück vorüber. Das sollte auch den Hausbesetzern klar sein: Gerade erst haben sie vom Landgericht Berlin Recht bekommen mit ihrer Beschwerde gegen den letzten Versuch einer Zwangsräumung. Ein solcher Vorgang wäre vollkommen undenkbar in einem Unrechtsstaat. Seit Ende der 90er Jahre widersetzen sich Bewohner des Hauses einer Räumung. Welche venezolanische Polizei, welche Stasi-Einheit oder gar welcher kubanische oder nordkoreanische Funktionär hätte wohl einem solchen Treiben über anderthalb Jahrzehnte so geduldig zugesehen?

Der freiheitlich-demokratische Rechtsstaat ist die mit Abstand langmütigste und toleranteste Staatsform, die man sich denken kann. In keinem der von vielen dieser Linksradikalen so hochgejubelten sozialistischen Staat der Welt wäre ein solcher „Widerstand“ so lange geduldet worden – heute nicht und früher erst recht nicht. Dass die Besetzer und ihre Mitstreiter weder brutal niedergeknüppelt noch wochenlang ohne Prozess eingesperrt werden, liegt daran, dass wir in unserer Gesellschaft eine Kultur friedlicher Konfliktlösungen etabliert haben – mit Demokratie, Rechtsstaat und Offener Gesellschaft. Ein ganz wichtiges Fundament dieser Kultur ist jene Marktwirtschaft, die der Hauptfeind der Hausbesetzer ist.

Marktwirtschaft, Demokratie und Rechtsstaat bedingen sich

Die Marktwirtschaft als System hat sich erst im Laufe der letzten vier- bis fünfhundert Jahre etabliert. Die Vorstellung, dass man in größerer Dimension Handel treiben könne, ohne von politischen Autoritäten dabei gesteuert oder zumindest kontrolliert zu werden, hatte es natürlich schwer, sich gegenüber diesen Autoritäten durchzusetzen. Durchgesetzt hat sie sich aber ganz offensichtlich und zum Glück dann doch. Fast immer mit Kompromissen und Zugeständnissen – doch selbst die Autokraten Chinas haben inzwischen eingesehen, dass dieses System freiwilliger Kooperation einer Planwirtschaft offenbar überlegen ist. Mit der Einführung der Marktwirtschaft geht aber mehr einher als nur ökonomische Effizienz.

Grundsätzlich sind gewalttätige Konflikte für das Funktionieren des Marktes immer schädlich – Friedfertigkeit und gewaltfreie Konfliktlösung erhöhen signifikant die Profitmöglichkeiten aller Marktteilnehmer. Schon aus praktischen Gründen ist ein demokratisches System mit der Marktwirtschaft kompatibler als mit einer Planwirtschaft, der Gewalt oft als einziges Mittel bleibt, um den Plan durchzuführen. Auch der Rechtsstaat und die Marktwirtschaft bedingen einander: Marktprozesse profitieren in hohem Maße von Rechtssicherheit. Das Interesse, das die Marktakteure an dieser Rechtssicherheit haben, ist eine Lebensgarantie für den Rechtsstaat.

Die Zivilisation des Vertrauens

Und schließlich kann die Marktwirtschaft auch zu Friedfertigkeit und Toleranz erziehen und ein Motor der Offenen Gesellschaft sein. Die Marktwirtschaft ermöglicht es uns, aus der kleinen Gruppe unserer unmittelbaren familiären Umgebung herauszukommen. Nicht mehr die gemeinsame Arbeit der kleinen Gruppe garantiert unser Überleben, sondern der Austausch mit zunächst fremden Personen. Diese Tauschprozesse aber erzeugen ein ganz neues Vertrauen: aus dem Fremden, der meine Ressourcen bedroht, wird ein Partner. Diese Zivilisation des Vertrauens steht im krassen Gegensatz zu dem Misstrauen, das zwischen den Horden vor vielen Jahrtausenden herrschte; das die Epoche des Feudalismus und der Leibeigenschaft prägte; das im Absolutismus und Nationalismus der Neuzeit präsent war; und das bis in die jüngste Vergangenheit die Länder unter kommunistischer Herrschaft heimsuchte.

Die Verachtung, die die Hausbesetzer diesem „System“ entgegenbringen, ist beschämend. Sie verdanken es einzig diesem System, dass sie Gerichte anrufen können, Brandstifter einen ordentlichen Prozess erhalten und eine freie Presse ihnen eine Bühne bietet, die eigentlich die Freiwillige Feuerwehr oder ehrenamtliche Flüchtlingshelfer verdient hätten. Was für eine Ironie: All das verdanken sie nicht zuletzt der Marktwirtschaft.

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Die ersten Schockmomente über die Abstimmung zum Brexit sind verflogen. Inzwischen taktieren die Beteiligten, was das Zeug hält. Aktuell machen es die Briten besser als die Rest-EU. Eigentlich hatten die Staats- und Regierungschefs erwartet, dass die britische Regierung bereits beim Europäischen Rat in dieser Woche ein formales Verfahren zum Austritt aus der EU beantragt. Danach würden sich zweijährige Verhandlungen anschließen, an deren Ende eine Vereinbarung stünde, die den Austritt und die danach folgende Zusammenarbeit der Briten mit der Rest-EU regeln sollte. Dies ist bislang nicht geschehen. Stattdessen setzt Noch-Premier David Cameron auf Zeit. Erst kündigt er seinen Rücktritt für Oktober an und besucht, als wenn nichts wäre, den Europäischen Rat in Brüssel als einer von 28. Einen Antrag stellte er jedoch nicht. Und dann winkt auch noch sein potenzieller Nachfolger Boris Johnson ab. Die Torys geben sich führungslos und sind es wahrscheinlich auch. Ob beabsichtigt oder nicht, diese Zeit des Interregnums ist für die Briten sehr hilfreich. So lange sie noch nicht offiziell einen Antrag nach Artikel 50 des EU-Vertrages auf Austritt aus der EU gestellt haben, behalten sie die Oberhand. Sie sind Herr des Verfahrens und gleichzeitig noch vollwertiges Mitglied der EU, mit Sitz und Stimme. Diejenigen, die als Konsequenz aus der Brexit-Entscheidung die EU jetzt noch enger und tiefer entwickeln wollen, benötigen dazu also auch die Zustimmung der Briten.

Die Rest-EU muss daher geduldig auf den ersten Zug der Briten warten. Bis dahin gibt Cameron den Takt vor. Er kann parallel das Feld vorbereiten, bilateral verhandeln und die Lage ausloten, welchen Weg die Briten gehen sollen. Dazu bieten sich mehrere Möglichkeiten an. Die Briten können einen Austritt nach Artikel 50 beantragen und befinden sich dann in einem starren Korsett der Europäischen Verträge. Sie können aber auch außerhalb dieses Regelwerkes einen Austritt verhandeln, an dessen Ende ein völkerrechtlicher Vertrag steht, der die Zusammenarbeit der Rest-EU mit Großbritannien regelt. Egal, welchen Weg sie wählen, die anschließende Zusammenarbeit kann ebenfalls sehr unterschiedlich vereinbart werden. Sie kann aus einer Fülle von Einzelvereinbarungen mit der Rest-EU wie bei der Schweiz bestehen oder aus einer Kollektivvereinbarung mit der Rest-EU wie es der Europäische Wirtschaftsraum EWR bei Norwegen ist.

Vielleicht nutzen die Schweiz und Norwegen auch die Situation, um mit Großbritannien die Europäische Freihandelszone EFTA zu stärken. Bis 1974 gehörte Großbritannien bereits diesem Verbund an. Dies hätte heute durchaus seinen Charme. Derzeit besteht der lose Zusammenschluss lediglich aus den 14 Millionen Bürgern Norwegens, der Schweiz, Islands und Liechtensteins. Mit Großbritannien würden auf einen Schlag weitere 65 Millionen Bürger hinzukommen, die es der EFTA erlaubten, den Handel mit der EU auf Augenhöhe verhandeln zu können. Derzeit müssen die übrigen Staaten in Europa bis 2018 rund 2,8 Milliarden Euro auf den Tisch legen, damit sie überhaupt den Zugang zum EU-Binnenmarkt erhalten. So eine Maßnahme kann die EU nur deshalb durchsetzen, weil die Binnenmärkte der vier EFTA-Staaten sehr klein sind. Kommen die Briten hinzu, dann ändert sich die Verhandlungssituation erheblich zugunsten der EFTA-Staaten. Das wäre sehr gut. Denn aktuell ist der EU-Binnenmarkt eine Wagenburg. Wer drin ist, kann die Vorteile nutzen. Wer rein will, muss vorab ein Handgeld bezahlen.

Dieses Verständnis folgt einem alten Denken aus der Zeit vor der Industrialisierung. Damals ging es darum, Reichtümer zu Lasten anderer anzusammeln. Man glaubte, dass die Wirtschaft ein Nullsummenspiel sei. Was der eine mehr hat, verliert der andere. Doch die Marktwirtschaft ist nicht so. Sie ist kein Nullsummenspiel, sie ist eine Win-Win-Situation. Beide Seiten profitieren in einer offenen Wirtschaft. Wenn, wie beim EU-Binnenmarkt, Marktteilnehmer der Zutritt verwehrt wird, dann schadet dies nicht nur den Marktteilnehmern, die nicht hinein dürfen, sondern auch den potenziellen Käufern dieser Waren und Dienstleistungen. Sie können weniger gut auswählen, weil das bestehende Angebot teurer und schlechter ist als in einem offenen Markt.

Beide Seiten müssen daher ein Interesse daran haben, den Markt möglichst weit zu öffnen. Dass die EU die kleinen Staaten, wie einst der Pharao im alten Ägypten tributpflichtig macht, hat korrupte Züge. Der Brexit ist ein guter Anlass, diese Praxis endlich zu beenden.

Erstmals erschienen in der Fuldaer Zeitung am 2.7.2016.