Photo: Musée Fesch from Wikimedia Commons (CC 0)

Von Dr. Benedikt Koehler, Schriftsteller, bis zu seinem Ruhestand im Bankenbereich tätig.

Der zweihundertste Todestag Napoleons am 5. Mai 2021 bietet Anlass, darüber nachzudenken, was aus seinem Anspruch wurde, Europa in einem Imperium zu vereinen. 1804 krönte sich Napoleon Bonaparte zum Kaiser, 1806 löste er das Heilige Römische Reich auf, 1810 heiratete er die Tochter des österreichischen Kaisers, um das alte Reich in sein neues zu integrieren. Er starb 1821, aber seine Träume vom Imperium lebten weiter. In den letzten 200 Jahren hat Europa viele weitere Kaiser kommen und gehen sehen, und erst 1945 wurden die Träume von Imperien in Europa endgültig diskreditiert.

Unabsehbares Leid hätte vermieden werden können, wenn die Europäer die Vorschläge beherzigt hätten, die der dänische Schriftsteller Konrad von Schmidt-Phiseldeck (1770-1832) im Todesjahr Napoleons veröffentlichte. Sein Buch „Der europäische Bund“ liest sich wie eine Blaupause für die Europäische Union.

Schmidt-Phiseldecks vorheriges Buch „Europa und Amerika“ wies darauf hin, dass die Amerikanische Revolution bessere Ergebnisse gezeitigt hatte als die Französische Revolution. Amerika war „mächtig durch die Fülle seiner Freiheiten, dennoch vereint unter einem gemeinsamen Band“, und die amerikanische Gesellschaft hatte ein „mehr materielles Gefühl und ausschließliche Aufmerksamkeit auf den Erwerb von weltlichem Reichtum, was einen unruhigen und unsteten Lebenslauf bewirkt“. Die Amerikaner würden die Vorherrschaft über Europa erlangen, weil „Europa, wenn es in seiner jetzigen Form weiterbesteht, nicht ohne Amerika auskommen kann, während Amerika andererseits keinen Bedarf nach Europa hat“. In Europa verschwendeten Kriege Ressourcen. In Amerika schuf die Expansion Wohlstand.

In dem Buch „Der europäische Bund“ forderte er seine kontinentalen Leser auf, sich ihrer Verehrung für Napoleon zu entledigen und sich an Adam Smith zu orientieren. Das Erbe von zwei Jahrzehnten napoleonischer Kriege war ein Kontinent, der in wachstumsschwachen Volkswirtschaften gefangen war. Folglich sollten die Europäer es so einfach machen, innerhalb Europas Arbeit zu finden, wie es für Amerikaner innerhalb der Vereinigten Staaten war. Mit anderen Worten: Europa sollte ein gemeinsamer Markt werden. Die Werke von Adam Smith boten die richtigen Rezepte: Staatsverschuldung begrenzen, Zölle verbieten und Freizügigkeit ermöglichen. Um all dies zu verwirklichen, war ein institutioneller Rahmen erforderlich. Zu diesen Institutionen gehörten eine europäische Versammlung, ein europäischer Gerichtshof und eine gemeinsame Staatsbürgerschaft. Aber Schmidt-Phiseldecks Ratschläge waren seiner Zeit zu weit voraus, um von den Eliten beachtet zu werden, die eher dem Zauber Napoleons folgten als Adam Smith zuzuhören.

Die postnapoleonische Staatskunst in Europa konzentrierte sich darauf, eine weitere Französische Revolution zu verhindern, und hätte im Idealfall gerne die Uhren zurück in die Welt des ancien régime gedreht. Doch das Zeitalter der Dynastien war vorbei, das Zeitalter der Nationen war gekommen – die Träume vom Imperium lebten jedoch weiter. Frankreich rief 1851 Napoleon III. als Kaiser des Zweiten Reiche aus, Deutschland 1871 Wilhelm I. als Kaiser des Deutschen Reiches, Großbritannien 1876 Königin Victoria als Kaiserin von Indien und Oberhaupt des British Empire. Der Werdegang dieser Reiche ähnelte dem von Napoleon. Sie blühten auf, wurden kriegerisch, bis sie schließlich durch Krieg untergingen: Der Deutsch-Französische Krieg von 1871 beendete das Zweite Reich, der Erste Weltkrieg das Deutsche Reich, der Zweite Weltkrieg das Britische Empire.

Der Zweite Weltkrieg verwandelte die Träume von Imperien in Europa in einen Albtraum. Schmidt-Phiseldecks Vorhersage, dass Imperien in Kriegen endeten, die Siegern und Besiegten gleichermaßen ungeheure Verluste zufügten, war eingetreten. Nach 1945 gaben die Europäer endlich die Vorstellung von einer europäischen „Ordnung“ auf, die an die Grenzen dessen ging, was die einzelnen Nationen ertragen konnten, und 1956 machten die Römischen Verträge den Weg frei für den Aufbau der Europäischen Union. Im Jahr 2021 ist vieles von der Vision Schmidt-Phiseldecks Wirklichkeit geworden: ein gemeinsamer Markt, ein gemeinsamer Gerichtshof und eine gemeinsame Staatsbürgerschaft. Frieden und Wohlstand kamen nach Europa, indem wir von der Amerikanischen statt von der Französischen Revolution lernten, einen gemeinsamen Markt statt eines gemeinsamen Imperiums aufbauten und Adam Smith statt Napoleon folgten.

Erstmals erschienen bei The Article.

Photo: antalaron from Flickr (CC BY-SA 2.0)

In einem neuen IREF Working Paper argumentieren David Stadelmann und Gustavo Torrens gegen paternalistische Schlussfolgerungen aus der verhaltensökonomischen Forschung und zeigen Alternativen auf. Die Ergebnisse der Autoren können als Warnung vor allzu leichtfertigen Eingriffen des Staates in individuelle Entscheidungen verstanden werden.

Irren ist menschlich

Ökonominnen und Ökonomen untersuchen das Verhalten von Menschen seit Jahrzehnten in kontrollierten Laborexperimenten. Regelmäßig weisen die experimentellen Ergebnisse darauf hin, dass Menschen sich nicht vollständig rational verhalten. Der Vergleichspunkt für das beobachtete Verhalten ist in der Regel das Model des Homo Oeconomicus, der sich annahmegemäß unter anderem dadurch auszeichnet, dass er stets die eigenen Interessen verfolgt und alle verfügbaren Informationen in seine Entscheidungen einfließen lässt. Experimentelle Ergebnisse, die demonstrieren, dass Menschen sich nicht immer so verhalten, wie es das Bild vom rationalen Homo Oeconomicus erwarten lässt, werden nach Ansicht von Stadelmann und Torrens gerne als Argumente für staatlichen Paternalismus angeführt.

Delegieren statt Paternalismus

Darauf entgegnen Stadelmann und Torrens, dass sich staatlicher Paternalismus nicht immer als vorzuziehende Antwort auf das Unvermögen von Menschen, rationale Entscheidungen zu fällen, aufdrängt. Menschen nutzen freiwillige Mechanismen, um sich vor den Konsequenzen eigener systematischer Fehlentscheidungen zu schützen, wenn sie die Möglichkeit haben, so die beiden Autoren. Märkte stellten diese Mechanismen regelmäßig zur Verfügung – ganz ohne staatliches Eingreifen. Stadelmann und Torrens diskutieren zahlreiche Beispiele für Entscheidungen, die an andere Individuen delegiert werden können, die ihrerseits die Fähigkeiten oder technologischen Möglichkeiten haben, Menschen vor ihrem eigenen irrationalen Verhalten zu schützen.

Sie führen die Beauftragung von Anwälten als ein Beispiel an. Menschen greifen nicht nur mangels juristischen Wissens auf Anwälte zurück. Juristische Laien gehen auch davon aus, dass Anwälte im Interesse ihrer Mandanten handeln, wenn diese auf sich allein gestellt zu ihrem eigenen Nachteil einlenken würden.

Konsequent zu bleiben fällt vielen schwer, sonst gäbe es unter anderem die Vielzahl angebotener Diäten nicht. Zahlreiche Anbieter geben Kunden auf unterschiedliche Weise Hilfestellungen, ihr inkonsequentes Verhalten in Bezug auf Ernährung und Bewegung zu überwinden, wie Stadelmann und Torrens ausführen. Dieses Beispiel hat in Deutschland auch politische Relevanz. So gibt es seit Jahren eine öffentliche Diskussion, ob der Staat etwa durch Kennzeichnung von ungesunden Lebensmitteln der Ernährung der Bürger auf die Sprünge helfen sollte.

Stadelmann und Torrens präsentieren außerdem Beispiele aus dem Bereich der Süchte. Für Alkoholabhängige gibt es etwa Mittel, die bei Alkoholkonsum heftige Übelkeit auslösen. Raucherpflaster oder spezielle Kaugummis seien zudem Instrumente, die ganz ohne staatlichen Eingriff Menschen helfen.

One size fits all?

Die Beispiele von Stadelmann und Torrens zeigen: Menschen sind fehlbar. Sie sind sich dieser Tatsache jedoch häufig bewusst und bleiben entsprechend nicht untätig. Mit Unterstützung des Einfallsreichtums anderer können sie sich teilweise vor der eigenen Irrationalität schützen.

Die Lösungen sind dabei so vielfältig und individuell wie die Menschen selbst. Hier liegt nach Ansicht der Autoren des Working Papers die große Stärke von Marktlösungen im Vergleich zu staatlichem Paternalismus: individuelle Lösungen für individuelle Probleme. Staatliche Lösungen können nicht in gleichem Maße individuelle Gegebenheiten adressieren und geben Innovationen weniger Raum.

Wettbewerb fördern

Stadelmann und Torrens resümieren, dass Marktlösungen staatlichen Lösungen überlegen sind – nicht in allen Fällen, aber in vielen. Ganz ohne paternalistisch einzugreifen solle der Staat einen Beitrag leisten, indem er die Märkte für Delegationsdienstleistungen offenhält. Der Wettbewerb zwischen alternativen Lösungen für Probleme von Menschen – auch für solche, die aus weniger als perfekter Rationalität erwachsen – würde so befördert werden.

Erstmals erschienen bei IREF.

Photo: Alwin Kroon from Unsplash (CC 0)

Von Alexander Horn, Geschäftsführer von Novo Argumente und Unternehmensberater. Zuletzt erschien sein Buch „Die Zombiewirtschaft – Warum die Politik Innovation behindert und die Unternehmen in Deutschland zu Wohlstandsbremsen geworden sind“ mit Beiträgen von Michael von Prollius und Phil Mullan.

Die EU hat eine neue Handelsstrategie und gibt sich freihandelsliebend. Tatsächlich stehen wettbewerbsschwache EU-Unternehmen unter Bestandsschutz. Knallharter Protektionismus ist die Folge.

Die Corona-Krise könnte „zum Beschleuniger von Trends wie Protektionismus oder der Entstehung von konkurrierenden geoökonomischen Blöcken werden“, warnte der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) vor einigen Monaten.[1] Allerdings hätten schon vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie „globale Handelskonflikte, neue Zölle und Handelsbarrieren zunehmend die Realität der außenwirtschaftlich orientierten Unternehmen in Deutschland bestimmt“. Hinzu komme nun, dass die Staaten durch die zahlreichen Corona-Rettungsmaßnahmen einen „wettbewerbsverzerrenden Subventionswettlauf“ gestartet haben und zu „wichtigen Wirtschaftsakteuren“ werden. Die Politik rufe nach „Industriestrategien, … Buy local Vorgaben … sowie nach staatlich gelenkter Rückverlagerung der Industrieproduktion“. Mit dieser Lagebeurteilung steht die Interessenvertretung der gewerblichen Wirtschaft nicht allein, denn viele Wirtschaftsvertreter, Ökonomen und Politiker warnen spätestens seit dem Ausbruch der Finanzkrise 2008 vor diesen Trends.

 Zölle unbedeutend

Vor diesem Hintergrund hat die EU-Kommission nun die europäische Handelsstrategie der nächsten Jahre festgelegt. Protektionismus wird eine klare Absage erteilt. Der EU-Handelskommissar Vladis Dombrovskis betont im Gegenteil, die EU bräuchte einen „offenen, regelbasierten Handel, um in der Zeit nach der Pandemie einen Beitrag zur Ankurbelung von Wachstum und Beschäftigung zu leisten.“ [2] Protektionismus sei die Sache anderer Staaten. Daher enthalte die neue Handelsstrategie geeignete „Instrumente zur Abwehr unlauterer Handelspraktiken“, mit denen man einen Kurs im Zeichen von „Offenheit, Nachhaltigkeit und Durchsetzungsfähigkeit“ verfolge. Die EU sei, so zeigt ein Factsheet zur Strategie, eine „offene Wirtschaft“, deren durchschnittliches Zollniveau – ähnlich wie das anderer entwickelter Länder – bei nur 5,1 Prozent liege. China oder Indien beispielsweise hätten ein deutlich höheres Zollniveau und zudem würden diese Länder, gedeckt durch WTO-Regularien, oft noch viel höhere Zölle erheben.[3]

Die Bewertung protektionistischer Trends erfolgt traditionell im Wesentlichen auf Grundlage des Zollniveaus und von Handelsbarrieren. Da es in Jahrzehnten gelang, das globale handelsgewichtete Zollniveau auf nur noch etwa fünf Prozent zu drücken und dieses Niveau auch nach der Finanzkrise 2008 in etwa gehalten wurde, scheint der globale Trend in Richtung offener Märkte wenig beeinträchtigt.[4] Die EU kann sich so als Vorreiter eines freien Welthandels präsentieren. Umgekehrt gilt der vom ehemaligen US-Präsidenten Trump angezettelte Handelsstreit als Paradebeispiel für Protektionismus, denn er hat das Zollniveau zwischen den USA und China deutlich erhöht.[5] Durch die Fokussierung auf Zölle und Handelsbeschränkungen wird die Dynamik protektionistischer Trends wie auch der Umfang längst etablierter Maßnahmen, die inländische Unternehmen beschützen, jedoch krass unterschätzt. Besonders eklatant ist die Diskrepanz zwischen freihändlerischer Rhetorik und protektionistischer Praxis in den entwickelten Volkswirtschaften, vor allem in der EU.

Viel zu lange schon hielten die G20-Länder die „diplomatische Fiktion aufrecht“, Protektionismus sei gebändigt, schreibt die auf das Monitoring des Welthandels spezialisierte Organisation Global Trade Alert (GTA). Die Regierungen, so die Autoren einer GTA-Studie, „haben ihre Aktivitäten nur auf andere Politikfelder verschoben“.[6] Importzölle waren 2016 nur noch für weniger als zehn Prozent der Handelsverzerrungen verantwortlich, so GTA, denn „staatliche Finanzhilfen, nicht Importbeschränkungen“, sind das Haupt-Tätigkeitsfeld zur Protektion der heimischen Wirtschaft.[7]

Der zunehmende Protektionismus hat sich in einer veränderten Form sogenannter „nicht-tarifärer Handelshemmnisse“ durchgesetzt. Er beruht vor allem auf Maßnahmen, die direkt die inländische Wirtschaft betreffen, also „hinter der Grenze“ wirken. Dazu gehören technische und Produkt-Standards, Klima-, Umweltschutz- sowie Gesundheits- und Sicherheitsregulierung, der Schutz vor ausländischen Übernahmen, Steuern oder Abgaben für ausländische Unternehmen und vor allem Subventionen (also Finanzhilfen und Steuererleichterungen) für inländische Unternehmen.

Globalistischer Protektionismus

Diese moderne Form des Protektionismus wird in Europa nicht in der Sprache des merkantilistischen Nationalismus gehüllt, der sich Trump bedient hatte. Die Europäer erreichen das gleiche Resultat, indem sie ihren Protektionismus globalistisch begründen, also auf übergeordnete Prinzipien und Normen setzen, die von supranationalen Institutionen wie der WTO etwa im Rahmen von Handelsregulierung durchgesetzt werden. Als Vehikel hierfür dient den Europäern die EU. Typisch für die unkritische Haltung gegenüber diesem globalistisch verbrämten Protektionismus ist die Auffassung des DIHK. So sieht dessen Hauptgeschäftsführer Martin Wansleben eine große Rolle der EU darin, „faire und gleiche Bedingungen, also ein internationales Level Playing Field“ zu schaffen. Unter diesem Label forciert die EU jedoch ihre protektionistische Ausrichtung. Das geschieht, indem mit immer neuen Regeln und Standards „faire und gleiche Bedingungen“ im Binnenmarkt etabliert werden, die jedoch ausländischen Wettbewerbern den Marktzugang erschweren. In anderen Fällen werden inländische Subventionen mit der Herstellung „gleicher Wettbewerbsbedingungen“ begründet.

So lässt der französische Industrie- und Binnenmarktkommissar der EU, Thierry Breton, kaum eine Gelegenheit aus, um deutlich zu machen, dass nicht der Wettbewerb geschützt werden müsse, sondern europäische Unternehmen vor diesem. So gehe es nicht um niedrige Preise für die Verbraucher, sondern um den Schutz der Unternehmen, was er als Forderungen nach mehr „Beschäftigung, Fortschritt und Souveränität“ verklausuliert.[8] Über Twitter erklärte er, die von der EU aufgenommenen Schulden für das 750 Milliarden Euro schwere Wiederaufbauprogramm sollten durch zusätzliche Steuern an den Außengrenzen des Binnenmarktes finanziert werden.[9] Die EU plant die Einführung einer Digitalsteuer, die vor allem amerikanische Tech-Giganten wie Apple oder Google treffen soll.[10] Eine neue CO2-Abgabe soll nun auf Importe von Ländern mit weniger scharfen Klimaschutzzielen erhoben werden.[11] „Wir sehen in der EU unter deutsch-französischer Führung einen Paradigmenwechsel. Wir sehen einen zunehmenden Protektionismus, der den Wettbewerb schwächt“, warnt Lars Feld, der wegen seiner wirtschaftsliberalen Ansichten bei der Bundesregierung in Ungnade gefallen war und den Vorsitz im Sachverständigenrat aufgeben musste.[12]

Die EU ihrerseits nutzt das wirtschaftliche Gewicht des Binnenmarkts inzwischen sogar, um anderen Staaten und Regionen die Bedingungen zu diktieren, unter denen diese in ihren heimischen Ländern produzieren müssen. Typisch hierfür ist das von der Bundesregierung nun auf den Weg gebrachte Lieferkettengesetz, dessen Verschärfung die EU-Kommission schon für dieses Jahr anstrebt. Hiesige Unternehmen sollen für die Unterschreitung europäischer Umwelt- und Sozialstandards innerhalb ihrer ausländischen Lieferketten haften. Das läuft darauf hinaus, wettbewerbliche Vorteile weniger entwickelter Länder zu eliminieren. Bereits in der EU produzierende Unternehmen werden so begünstigt und stärker internationalisierte Unternehmen zur Regionalisierung ihrer Wertschöpfungsketten gedrängt.

Protektionistische Abwärtsspirale

Der Protektionismus Europas ist jedoch längst nicht mehr nur eine Option. Er ist für viele Unternehmen existenziell geworden, denn sie sind aufgrund der jahrzehntelangen Erosion ihrer Wettbewerbsfähigkeit auf wirtschaftliche Rahmenbedingungen angewiesen, die ihnen das Überleben ermöglichen. Viel zu lange hat man mit Hilfe wirtschaftspolitischer Stabilisierungsmaßnahmen darauf hingearbeitet, Krisen zu dämpfen und dadurch inländische Unternehmen zu schützen. Die dauerhafte Bewahrung auch wenig profitabler Unternehmen hat zu einer schleichenden Zombifizierung der Wirtschaft geführt. Im Kern resultiert dies daraus, dass unprofitable Unternehmen nicht durch ordnungspolitische Rahmensetzungen zur Restrukturierung oder zur Aufgabe gezwungen sind. Da deren Kapital erhalten bleibt, bläht sich die gesamtwirtschaftliche Kapitalbasis künstlich auf und schmälert die Profitabilität auch der besser aufgestellten Wettbewerber. In ganz Europa sind daher die Investitionen der Unternehmen im Verhältnis zur ihrer Wertschöpfung schon seit Jahrzehnten rückläufig. Das hat, mangels kapitalintensiver Einführung produktivitätssteigernder Technologien, zu einer Erosion der Wettbewerbsfähigkeit geführt.

Die seit den 1970er Jahren wirtschaftspolitisch dominierende Stabilitätsorientierung hat die Wirtschaft so umfassend geschwächt, dass immer durchgreifendere Maßnahmen erforderlich sind, um etablierte Unternehmen zu schützen. Allein in Deutschland fließen jährlich mehr als 200 Milliarden Euro wirtschaftliche Subventionen, das sind etwa 2500 Euro pro Kopf der Bevölkerung.[13] Diese Wirtschaftspolitik wirkt gegenüber ausländischen Wettbewerbern zwangsläufig protektionistisch. Die EU steckt daher in einer selbstgestellten Protektionismus-Falle: Um die immer weniger wettbewerbliche europäische Wirtschaft vor einer tiefen Krise zu bewahren, müssen protektionistische Maßnahmen in Form von Regulierung, Finanzhilfen, Subventionen, Steuersenkungen, Konjunktur- und Rettungsprogrammen oder etwa die Niedrigzinspolitik kontinuierlich ausgebaut werden.

Die Leidtragenden dieses EU-Protektionismus sind die Erwerbstätigen in Europa. Seit der Finanzkrise 2008 erreichen die vor allzu hartem globalem Wettbewerb geschützten Unternehmen nur noch marginale Arbeitsproduktivitätssteigerungen. Da Reallöhne von der Produktivitätsentwicklung abhängen, steigen sie seit den 1990er Jahren in den entwickelten Volkswirtschaften und auch in Deutschland kaum noch.[14] Zudem sind in Europa viele Jobs in alten Industrien weggefallen und zu wenig neue Jobs entstanden, weil die Unternehmen anderswo investieren.

Es gibt zu wenige Kritiker, die diesen Zusammenhang herstellen. So gelingt es der EU und der Bundesregierung mit Leichtigkeit, eine glaubwürdig erscheinende freihändlerische Perspektive zu formulieren und dabei so tun, als ob die Bedrohung von Jobs und Wohlstand von unfairen Handelspraktiken anderer Länder ausginge. Diese Probleme sind jedoch hausgemacht, denn die Wirtschaftspolitik zielt immer konsequenter auf Erhalt und nicht die notwendige Restrukturierung wettbewerbsschwacher Unternehmen.

So wetzt der mächtigste Handelspolitiker Europas und gleichzeitig der Vertreter des mächtigsten Handelsblocks der Welt, EU-Kommissar Vladis Dombrovskis, die Säbel. Er provoziert keinen öffentlichen Aufschrei, wenn er die EU als Garant eines „offenen, regelbasierten Handels“ darstellt und anderen droht, dass die neue Handelsstrategie geeignete „Instrumente zur Abwehr unlauterer Handelspraktiken“ und zur „Durchsetzungsfähigkeit“ der EU biete. Leider formulieren wenige so klar wie der Präsident des Instituts für Weltwirtschaft (IfW), Gabriel Felbermayr, dass die Hauptverantwortlichen für den weltweit zunehmenden Protektionismus keineswegs in der US-Regierung oder kommunistischen Führung Chinas zu suchen seien. Die EU, so Felbermayr, betreibe „zunehmend eine Wirtschaftspolitik, die zulasten von Drittstaaten“ gehe.[15] Hinzuzufügen wäre noch, dass sie auf dem Rücken und zum Nachteil der Erwerbstätigen in Europa betrieben wird.


[1] „Die Globalisierung nach Corona“, Deutscher Industrie- und Handelskammertag, August 2020, https://www.dihk.de/resource/blob/22580/7b8e5a5f09066d49605295f6afa3ac8c/going-international-2020-data.pdf

[2] https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_21_644

[3] https://trade.ec.europa.eu/doclib/docs/2021/february/tradoc_159431.pdf

[4] https://www.bpb.de/politik/wirtschaft/freihandel/274498/die-wto-ist-nicht-tot

[5] https://www.wirtschaftsdienst.eu/inhalt/jahr/2020/heft/5/beitrag/wto-die-hueterin-des-welthandels-in-der-krise.html

[6] Simon J. Evenett / Johannes Fritz: „Will Awe Trump Rules?“ in: „The 21st Global Trade Alert Report”, 2017, S. 6. https://www.globaltradealert.org/reports/42

[7] Ebd., S. 25.

[8] Werner Mussler: „Kampf um die Wettbewerbspolitik“ in:  F.A.Z., 09.03.2020, S. 17.

[9] Dorothea Siems: „In der ‚Protektionismus-Falle´ – auch Deutschland schadet dem Welthandel“, Welt online, 04.08.2020. (https://www.welt.de/wirtschaft/article212794329/In-der-Protektionismus-Falle-auch-Deutschland-schadet-dem-Welthandel.html)

[10] Matthias Bauer: „Digitalsteuer: Wirtschaftspopulismus unter dem Deckmantel fairer Besteuerung?“, INSM Ökonomenblog, 20.03.2018. (https://www.insm-oekonomenblog.de/18429-digitalsteuer-eu-kommission-wirtschaftspopulismus/)

[11] Susanne Dröge: „Die CO2-Grenzabgabe der EU – Klima- oder Fiskalpolitik?“, Stiftung Wissenschaft und Politik online, 03.08.2020. (https://www.swp-berlin.org/publikation/die-co2-grenzabgabe-der-eu-klima-oder-fiskalpolitik/#:~:text=Wenn%20es%20nach%20den%20Staats,Produktion%20der%20eingef%C3%BChrten%20G%C3%BCter%20anf%C3%A4llt)

[12] „Schutz vor Wettbewerb hilft nicht“ in: F.A.Z. 20.08.2020, S. 16.

[13] https://www.ifw-kiel.de/de/publikationen/kieler-beitraege-zur-wirtschaftspolitik/kieler-subventionsbericht-2020-subventionen-auf-dem-vormarsch-0/

[14] ILO, Global Wage Report 2018/19, S. 3.

[15] Dorothea Siems: „In der ‚Protektionismus-Falle´ – auch Deutschland schadet dem Welthandel“, Welt online, 04.08.2020. (https://www.welt.de/wirtschaft/article212794329/In-der-Protektionismus-Falle-auch-Deutschland-schadet-dem-Welthandel.html)

Photo: A_Peach from Flickr (CC BY 2.0)

Von Prof. Dr. Thomas Mayer, Kuratoriumsvorsitzender von Prometheus und Gründungsdirektor des Flossbach von Storch Research Institute.

Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union nennt „Rechtsstaatlichkeit“ als einen der Werte, auf den sich die Union gründet. Damit schmückt sie sich gerne. Aber der Schmuck verblasst und die Heuchelei nimmt zu.

Im freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat sind die Regierungen und die Verwaltung Recht und Gesetz unterworfen. Laut Friedrich von Hayek entwickelt sich das Recht über die Zeit aus dem Rechtsempfinden der Mitglieder der freiheitlichen Gesellschaft. Es wird vom Parlament in Gesetze gefasst, aus denen bei Streitfällen Gerichte Recht „finden“. Recht kann also nicht von Gesetzgebern aus politischer Zweckmäßigkeit „erfunden“ und Gesetze können nicht von Gerichten politisch zweckmäßig ausgelegt werden. Insbesondere dürfen vom Bundestag verabschiedete Gesetze dem Grundgesetz, die unserer Freiheitsordnung das Gerüst gibt, nicht widersprechen.

Doch die politischen Organe der Europäischen Union und die Mehrheit deutscher Politiker neigen immer stärker dazu, Recht und Gesetz politisch zweckmäßig auszulegen und anzuwenden, um sich den von Recht und Gesetz beabsichtigten Handlungsbeschränkungen zu entziehen. Dadurch verliert die Union schleichend ihre Rechtsstaatlichkeit. „Nimm das Recht weg – was ist dann ein Staat noch anderes als eine große Räuberbande?“ Leider scheinen viele Europapolitiker diese Warnung Augustinus von Hippo nicht zu kennen, oder nicht ernst zu nehmen.

Politische Zweckmäßigkeit bestimmt den Umgang mit europäischem Recht gegenwärtig auf den Gebieten der Geldpolitik und Fiskalpolitik. Artikel 123 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union verbietet der Europäischen Zentralbank den unmittelbaren Erwerb von Schuldtiteln der Mitgliedsstaaten des Euroraums. Die Absicht dieser rechtlich bindenden Vorschrift ist es, die monetäre Finanzierung von Staatsschulden der Euroländer zu verbieten. Nicht verboten ist der EZB, Staatsanleihen im Rahmen der Offenmarktpolitik zu geldpolitischen Zwecken im Sekundärmarkt zu handeln. Offenmarktgeschäfte können getätigt werden, um über Veränderungen der Marktzinsen die Kreditgeschäfte der Banken zur Erzielung von Preisstabilität zu beeinflussen. Sie sind aber nicht legitim, wenn dadurch die Neuverschuldung der Staaten finanziert, Staatsanleihen bis zur Fälligkeit gehalten und bei Rückzahlung durch Ankäufe neuer Anleihen ersetzt werden.

Genau dies aber unternimmt die EZB im Rahmen ihrer Ankaufprogramme für Staatsanleihen. Mit den Programmen signalisiert sie den Anleihehändlern der Banken, dass sie neu emittierte Anleihen im Sekundärmarkt aufkaufen wird. Damit umgeht sie das Verbot direkter Käufe im Primärmarkt. Sie hat im Jahr 2020 95,5 Prozent der von Eurostaaten neu emittierten Anleihen aufgekauft und versprochen, diese Anleihen über Jahre zu halten. Hat sie im Rahmen des Kaufprogramms für öffentliche Anleihen PSPP die Käufe auf die einzelnen Staaten noch nach den Anteilen dieser Staaten an ihrem Eigenkapital aufgeteilt, kauft sie im Rahmen des Pandemie Notfallprogramms PEPP die Anleihen mit dem Ziel, den jeweiligen Staaten günstige Konditionen für die Finanzierung ihrer Schuldenaufnahme zu schaffen.

Dazu hat sie letztes Jahr in Italien 17 Prozent und in Spanien 13 Prozent mehr Staatsanleihen aufgekauft als von diesen Staaten neu emittiert wurden. Inzwischen hält die EZB 21 Prozent der gesamten Schuld der Eurostaaten auf ihrer Bilanz. Von einem Plan, wie sie die gewaltigen Anleihebestände ohne schwere Marktverwerfungen jemals wieder verkaufen kann, ist nichts bekannt. Beim Deutschen Bundesverfassungsgericht sind mehrere Klagen gegen die Anleihekäufe der EZB anhängig. Es wird mit gesundem Menschverstand nicht mehr nachvollziehbare, juristische Verrenkungen der Richter brauchen, um die EZB vom Vorwurf der monetären Staatsfinanzierung freizusprechen.

Laut Artikel 310 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union muss die Union ihren Haushalt ausgleichen. Sie darf keine Rechtsakte erlassen, ohne sichergestellt zu haben, dass die damit verbundenen Ausgaben unter Einhaltung des mehrjährigen Finanzrahmens mit Eigenmitteln finanziert werden können. Und als ob dies nicht genug wäre, wiederholt Artikel 311: „Der Haushalt wird unbeschadet der sonstigen Einnahmen vollständig aus Eigenmitteln finanziert.“ Nun hat aber der Europäische Rat beschlossen, den EU-Wiederaufbaufonds durch die Aufnahme von Schulden der Union zu finanzieren.

Man sollte meinen, dass dies offensichtlich rechtswidrig ist. Doch steht in Artikel 311 auch, dass die Union das System der Eigenmittel ändern und neue Kategorien von Eigenmitteln einführen kann. Bisher gehören zu den Eigenmitteln Zolleinnahmen und die Mitgliedsbeiträge der EU-Staaten. Wie Roland Vaubel im Blog Wirtschaftliche Freiheit schreibt, scheint die EU nun dem „System der Eigenmittel“ eine neue Kategorie hinzufügen zu wollen, die Fremdfinanzierung zum System der Eigenmittel zählt, weil die Fremdfinanzierung ja später mal mit Eigenmitteln zurückgezahlt werden soll.

Diese Art der Gesetzesauslegung kommt dem „Double Think“ in George Orwells Roman „1984“ sehr nahe. Der Widerspruch zwischen Eigenmitteln und Fremdmitteln wird aufgelöst, indem Fremdmittel über scheinlogische Winkelzüge in Eigenmittel umgemünzt werden. Dennoch stimmte der Bundestag am 25. März mit großer Mehrheit der Ratifizierung des in bestem Orwellschem „Double Speak“ bezeichneten „Eigenmittelbeschluss“ des Europäischen Rats zu. Der Bundespräsident konnte nur durch einen am 26. März eilig ausgefertigten „Hängebeschluss“ des Bundesverfassungsgerichts von der Unterzeichnung und damit Inkraftsetzung des Ratifizierungsgesetzes abgehalten werden.

Allerdings geht kaum ein Beobachter davon aus, dass sich das Bundesverfassungsgericht trauen wird, der Europäischen Union die Schuldenaufnahme zu verwehren. Staaten wie Italien und Spanien, die von dem Wiederaufbaufonds hohe Transfers zu erwarten haben, könnten im Verbund mit Frankreich einen kalten Krieg innerhalb der EU gegen Deutschland organisieren. Wie beim zu erwartenden Freispruch der EZB vom Rechtsbruch durch Staatsfinanzierung kann deshalb nur mit Spannung erwartet werden, mit welchem „Double Think“ und „Double Speak“ die Richter der „Rechtsstaatlichkeit“ der Europäischen Union auch auf dem Feld der Fiskalpolitik Genüge tun werden.

Erstmals veröffentlicht bei Flossbach von Storch Research Institute.

Photo: NOAA Photo Library from Flickr (CC BY 2.0)

Von Dr. Alexander Fink, Universität Leipzig, Senior Fellow des IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues und Fabian Kurz, Doktorand der Volkswirtschaftslehre.

Die Zulassung der ersten Corona-Impfstoffe hat gezeigt, dass sichere und schnelle Zulassungen möglich sind. Da Zulassungsbehörden allerdings einen systematischen Anreiz haben, Zulassungen zu verzögern, sollten zum einen Medikamente bereits vor der Zulassung für ausgewählte Risikogruppen verfügbar sein und zum anderen ihre Zulassungen von Zulassungsbehörden gegenseitig anerkannt werden.

Der Corona-Impfstoff wurde nicht nur in Rekordzeit entwickelt und getestet, sondern auch zugelassen. In der Regel dauert die Entwicklung eines neuen Wirkstoffs in der Pharmaindustrie mehr als 13 Jahre, davon entfallen im Durchschnitt 1,5 Jahre auf das Zulassungsverfahren. Angesichts der deutlich schnelleren Zulassung des Corona-Impfstoffs stellt sich die Frage, warum eine schnellere Zulassung nicht auch in normalen Zeiten die Regel ist?

Warum diesmal so schnell?

Pharmaunternehmen stimmen sich bei der Entwicklung und Zulassung von Medikamenten eng mit der jeweiligen Zulassungsbehörde ab. Potentielle Verzögerungen, die auf das Gebaren von Zulassungsbehörden zurückzuführen sind, entstehen daher nicht ausschließlich erst während des eigentlichen Zulassungsverfahrens.

Die Europäische Arzneimittel Agentur (EMA) hat für die beschleunigte Entwicklung der Corona-Impfstoffe vor allem eigene Fristen in diesem Prozess verkürzt. Für die Abstimmung mit den Unternehmen bezüglich der Durchführung von Studien veranschlagt die EMA normalerweise bis zu 70 Tage. Die Frist für diese Beratungen wurde für die Corona-Impfstoffe auf maximal 20 Tage gekürzt. Die Abstimmung der Behörde mit den Unternehmen bezüglich der Verträglichkeit bei Kindern wird normalerweise auf bis zu 120 Tage veranschlagt. Für Corona-Impfstoffe wurde dies auf unter 20 Tage verkürzt.

Sobald die notwendigen Phase-3 Studien abgeschlossen sind, können Impfstoffentwickler eine Zulassung beantragen. Über den Antrag wird bei der EMA innerhalb von 210 Werktagen beschieden. Auch hier hat die EMA angesetzt, um das Verfahren zu beschleunigen. Sie hat die Frist auf maximal 150 Werktage verkürzt.

Um das Zulassungsverfahren weiter zu beschleunigen, können die Unternehmen ihre Zulassung mit Hilfe des rollierenden Verfahrens erreichen. Dabei werden die Testdaten in regelmäßigen Abständen bereits während der Durchführung der Studien an die EMA gemeldet und nicht erst mit einem vollständigen Zulassungsantrag auf einen Schlag der EMA präsentiert. Diesen Weg schlugen BioNTech und Pfizer ein.

Die eingereichten Unterlagen und Daten werden vom Ausschuss für Human-Arzneimittel geprüft. Dieser besteht aus Experten der nationalen Zulassungsbehörden, wie dem deutschen Paul-Ehrlich-Institut. Im Ausschuss werden zwei federführende Gutachter aus dem Kreis der jeweiligen nationalen Zulassungsbehörden bestimmt. Diese erstellen Gutachten, auf deren Grundlage der Ausschuss seine Empfehlung zur Zulassung abgibt. Die formale Zulassung wird allerdings nicht durch die EMA erteilt. Diese gibt nur eine Empfehlung ab. Die Zulassung selbst wird durch die EU-Kommission erteilt.

Die EMA betont, das Zulassungsverfahren für den Impfstoff von BioNTech und Pfizer sei schneller gewesen, aber nicht unsicherer.

Verzögerung kostet nicht nur in der Pandemie Menschenleben

Während einer Pandemie sind die Kosten, welche mit einer Verzögerung einer Zulassung eines Impfstoffes einhergehen, offensichtlich. Jeden Tag infizieren sich Menschen. Auch die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Schäden sind mit jedem weiteren Tag, an dem die Pandemie wütet, beträchtlich.

Ernste Konsequenzen hat allerdings nicht nur eine verzögerte Zulassung von Corona-Impfstoffen, sondern auch Verzögerungen bei der Zulassung von Wirkstoffen für andere Krankheiten. Manche Patienten erhalten potentiell lebensrettende Medikamente zu spät oder gar nicht. In der Regel gibt es für diese Opfer kein tägliches ZDF-Spezial und die mediale Berichterstattung hält sich insgesamt in Grenzen.

Zulassungsbehörden im Wartemodus

Während die Opfer einer Verzögerung nicht im Fokus der öffentlichen Debatte stehen, werden Fehler der Zulassungsbehörden bei fälschlicherweise zugelassenen Medikamenten öffentlichkeitswirksam diskutiert. Zulassungsbehörden haben deshalb einen Anreiz, besonders eingehend zu prüfen und sich bei Genehmigungen Zeit zu lassen. Kommt es zu Schwierigkeiten mit einem zugelassenen Präparat, können die Behörden dann immerhin darauf verweisen, es lange geprüft zu haben.

Die Zulassungsbehörden habenbeim Corona-Impfstoff demonstriert, dass schnellere sichere Zulassungsverfahren möglich sind. Möglicherweise hat auch der öffentliche Druck angesichts hoher Todeszahlen durch Corona dazu beigetragen, dass die EMA ihre Entscheidungsprozesse beschleunigte.

Die EMA betonte mehrfach, wie umfangreich die zu prüfenden Unterlagen und Daten seien und dass man „rund um die Uhr“ arbeite. Der Präsident des Paul-Ehrlich-Instituts Klaus Cichutek weist drauf hin, dass bis zu 100 Experten EU-weit mit der Bearbeitung eines Antrags beschäftigt seien. Ob dies angesichts der Dringlichkeit tatsächlich ein angemessen hoher Einsatz von Personalressourcen ist, ist fraglich. Außer Frage steht, dass ein höherer Ressourceneinsatz Zulassungsverfahren beschleunigen könnte.

Zwei Vorschläge zur Beschleunigung

Dem Anreiz der Zulassungsbehörden, Zulassungen eher zu spät als zu früh zu erteilen, ist nur schwer zu begegnen. Dennoch können zwei Maßnahmen zur Beschleunigung beitragen und Patienten, die am meisten unter der Verzögerung leiden, einen schnelleren Zugang zu neuen Medikamenten ermöglichen.

Erstens könnten die großen Zulassungsbehörden der Industrieländer, etwa der EU, der USA, Kanada, Großbritannien, der Schweiz und Japan ihre Zulassungen umgehend gegenseitig anerkennen. Dies ist für europäische Staaten nichts Neues. Zulassungen, die nicht durch das zentrale Verfahren der EMA in Europa erfolgen, sondern durch nationale Zulassungsbehörden, können in ganz Europa anerkannt werden.

Schon heute müssen die Pharmafirmen sehr ähnliche Anträge und fast die gleichen Daten bei den jeweiligen Zulassungsbehörden einreichen. Die amerikanische FDA und die europäische EMA haben beispielsweise ein gemeinsames Dokument publiziert, in dem sie erklären, welche gleichen Textteile in welcher Reihenfolge in den erforderlichen Unterlagen für die Zulassung für Kinder zu erscheinen haben.

Müsste nicht jeder Wirkstoff bei allen Zulassungsbehörden zugelassen werden und würde von anderen anerkannt, würden erhebliche Personalkapazitäten bei den Behörden, aber auch bei den Unternehmen frei werden.

Zweitens suggeriert der Zulassungsprozess, das Kosten-Nutzen-Verhältnis eines Medikamentes sei für jeden Patienten gleich. Dies ist allerdings, wie das Beispiel Corona zeigt, nicht der Fall. Manche Menschen sind höheren Risiken durch eine Krankheit ausgesetzt und wären bereit, bei einer Impfung oder Behandlung höhere Risiken einzugehen. Medikamente sollten daher leichter als bisher bereits vor der offiziellen Zulassung Patienten verfügbar gemacht werden.

Schnelle Zulassungen möglich

Die Zulassung der ersten Corona-Impfstoffe hat gezeigt, dass sichere und schnelle Zulassungen möglich sind. Da Zulassungsbehörden allerdings einen systematischen Anreiz haben, Zulassungen zu verzögern, sollten zum einen Medikamente bereits vor der Zulassung für ausgewählte Risikogruppen verfügbar sein und zum anderen ihre Zulassungen von Zulassungsbehörden gegenseitig anerkannt werden. Neue Präparate wären dann in allen Regionen so schnell verfügbar wie in der Region mit der schnellsten Zulassungsbehörde.

Erstmals veröffentlicht bei IREF.