Photo: Aussie~mobs from Flickr (CC 0)

Von Fabian Kurz, Doktorand der Volkswirtschaftslehre, Senior Fellow des IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues.

Möchte die EU langfristig stabile und freiere Handelsbeziehungen zu Washington etablieren, liegt es an den Europäern, den Stein ins Rollen zu bringen. Initiativen von der US-Seite sind anders als beim Klima kaum zu erwarten.

Der neue Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika Joe Biden ist bereits einige Wochen im Amt. Sein Vorgänger Donald Trump pflegte die Beziehungen zu westlichen Partnern im besten Fall stiefmütterlich. Zu Beginn seiner Präsidentschaft legte Trump nicht nur die Gespräche über das geplante Freihandelsabkommen TTIP auf Eis, sondern überzog unter anderem die europäischen Partner mit Zöllen auf Stahl und Aluminium. Die EU konterte mit Zöllen auf Bourbon, Harley Davidson Motorräder und andere Güter.

Mit dem Beginn der Präsidentschaft Bidens ist bei vielen westlichen Partnern die Hoffnung auf bessere Beziehungen zu den Vereinigten Staaten verbunden, auch wirtschaftliche. Ist die Hoffnung berechtigt und bekommt das Freihandelsabkommen TTIP noch einmal eine Chance?

Regelbasierter Handel unter Trump unter Druck

Der neue US-Präsident Biden verfolgt beim Handel einen stärker multilateralen Ansatz und ist insgesamt gemäßigter als sein Vorgänger. Doch ein glühender Verfechter des Freihandels ist nicht ins Weiße Haus eingezogen.

Traditionell preisen in den Vereinigten Staaten eher die Republikaner die Vorzüge des barrierefreien internationalen Handels. Die Demokraten stehen ihm skeptischer gegenüber. Donald Trump hatte diese Rollenverteilung durcheinandergewirbelt. Die grundlegende Handelsskepsis der Demokraten ist deswegen allerdings nicht einer stärkeren Handelsbefürwortung gewichen.

„Buy American“ wieder en vogue

Die grundlegende Skepsis zeigt sich bereits im „Biden-Plan“, den der Kandidat Biden vor der Wahl vorgestellt hatte. Freihandel oder freierer Handel spielen in dem Plan keine prominenten Rollen. Es wird das Ziel formuliert, Handelsregeln zusammen mit den Partnerländern zu reformieren. Das lässt weniger Alleingänge und mehr regelbasierte Zusammenarbeit erwarten.

Doch die konkreten Forderungen enttäuschen mitunter. So möchte Biden internationale Handelsregeln aufweichen, die heute verhindern, dass staatliche Stellen Aufträge nicht international ausschreiben müssen und ausschließlich im Inland erzeugte Produkte kaufen können. Die Diskriminierung ausländischer Anbieter, auch bekannt als „Buy American“, wurden schließlich auch als einer der ersten präsidentiellen Anordnungen von Biden unterzeichnet. Wie sehr sie Veränderungen nach sich zieht ist umstritten. Schließlich gingen ihr ähnliche Anordnungen voraus. Möglicherweise fällt die Maßnahme in die Kategorie „Symbolpolitik, um die eigen Parteilinke zu besänftigen“.

Die Diskriminierung ausländischer Anbieter bei der Vergabe öffentlicher Aufträge ist kein Phänomen, das exklusiv die USA betrifft. Auch in Europa sind solche Maßnahmen zu finden, im Namen des Datenschutzes oder der nationalen Sicherheit. Wünschenswert wäre es, wenn auf beiden Seiten des Atlantiks Bestrebungen zu erkennen wären, die Barrieren abzubauen, statt sie zu erhalten oder gar weiter auszubauen.

Abkehr von aktivistischer Handelspolitik

Die Präsidentschaft Donald Trumps war gekennzeichnet von der Abkehr vom Multilateralismus. Dies zeigte sich etwa im Ausscheiden der Vereinigten Staaten aus dem Pariser Klimaabkommen, aber auch an der gezielten Schwächung der Welthandelsorganisation (WTO). So verhinderte Trump mit seinem Veto, wie auch schon seine beiden Vorgänger, die Neubesetzung von Richterstellen bei der WTO. Da durch sein Veto die erforderliche Mindestanzahl von Richtern nicht mehr erreicht wurde, können Handelsstreitigkeiten seit Dezember 2019 nicht mehr vor dem höchsten WTO-Gericht verhandelt werden.

Eine gezielte Schwächung internationaler Ansätze ist von Biden nicht zu erwarten. Im Gegenteil: Es ist davon auszugehen, dass er in Handelsfragen wie in Klimafragen auf etablierte internationale Abkommen, Institutionen und Spielregeln setzen wird.

Diese Abkehr von Trumps aktivistischer Handelspolitik, die durch eine offensive Vertretung ausgewählter amerikanischer Interessen mittels Androhung und Durchsetzung von Zöllen geprägt war, ist eine Chance. Eine verlässliche Handelspolitik gibt Planungssicherheit und ist dem internationalen Handel zuträglich.

TTIP: Langfristige Regelbindung

Die Auswirkungen einer aktivistischen Handelspolitik à la Trump hätten möglicherweise durch ein verbindliches Freihandelsabkommen zwischen den USA und der EU begrenzt werden können. Unter Präsident Biden sind derartige Manöver nicht zu erwarten, insbesondere nicht in der Schärfe und Grobschlächtigkeit der Vorgängeradministration. Doch politische Umstände können sich schnell ändern. Es ist daher im langfristigen Interesse sowohl der USA als auch der EU, einen Handelsvertrag wie TTIP zu schließen, der verlässliche Rahmenbedingungen für den Umgang miteinander schafft und es Politikern erleichtert, sich glaubhaft an Regeln zu binden, die die Diskriminierung ausländischer Anbieter unterbinden. Zudem können Handelsabkommen helfen, innenpolitische Widerstände gegen den Abbau von Handelshemmnissen zu überwinden, wenn deren vorteilhafter unilaterale Abbau an inländischen Lobbybemühungen scheitert.

Der Ball liegt in Europa

Der internationale Handel hat unter Präsident Trump schwer gelitten. Insbesondere die WHO hat die Abneigung des Präsidenten gegen multilaterale Organisationen und globale Lösungen zu spüren bekommen. Mit der Präsidentschaft Bidens wird auch in Handelsfragen auf der Weltbühne erfreulicherweise wieder etwas Ruhe einkehren. Ein engagierter Einsatz für den Abbau nichttarifärer Hemmnisse und Zölle ist allerdings von Präsident Biden nicht zu erwarten. So hat er weder entsprechende Pläne vorgestellt, noch die unter Trump eingeführten Zölle wieder zurückgenommen.

Möchte Brüssel langfristig stabile und freiere Handelsbeziehungen zu Washington etablieren, liegt es an den Europäern, den Stein ins Rollen zu bringen. Initiativen von der US-Seite sind anders als beim Klima kaum zu erwarten. Die erratischen Trump-Jahre haben gezeigt, dass es verbindlichere Regeln im transatlantischen Handel braucht. Ein Handelsabkommen wie TTIP könnte dazu einen Beitrag leisten.

Erstmals erschienen bei IREF.

Photo: Andreas Praefcke from Wikimedia Commons (CC 0)

Von Prof. Dr. Thomas Mayer, Kuratoriumsvorsitzender von Prometheus und Gründungsdirektor des Flossbach von Storch Research Institute.

Dieser Text ist ein Auszug aus dem jüngst erschienen BuchDie Vermessung des Unbekannten – Ein Essay über Geld und Gesellschaft in Zeiten radikaler Unischerheit„.

Die Corona-Pandemie, oder besser gesagt die mehr oder weniger sinnvollen und mehr oder weniger effektiven Maßnahmen des Staates zu ihrer Bekämpfung, sind uns allen gehörig auf den Wecker gegangen. Aber wo viel Schatten ist, gibt es auch zumindest ein wenig Licht. Der Zwang, zu Hause zu bleiben, hat uns viel Zeit verschafft, zu „streamen“, nachzudenken oder – und das trifft auf mich zu – zu schreiben. So ist im Verlauf des letzten Jahres eine Serie von Kommentaren, Artikeln und Videos entstanden, in der ich mich mit der Frage beschäftigt habe, wie wir mit dem in Gegenwart und Zukunft lauernden Unbekannten umgehen. Die Antwort ist in den dunkleren Wochen und Monaten des Herbst-Winter Lockdowns zu einem Buch geronnen. Für alle, die meine Beschäftigung mit diesem Thema verfolgt haben oder sich für dieses Thema interessieren, will ich im Folgenden meine Diagnose unseres Umgangs mit dem Unbekannten zusammenfassen und meinen Vorschlag zum richtigen Umgang skizzieren.

Seit uns der Glaube an die göttliche Vorsehung abhandengekommen ist, haben wir uns zu ihrer Ergründung angewöhnt, in mathematischen Wahrscheinlichkeiten zu denken. Wenn wir schon nicht wissen können, was passieren wird, dann können wir doch vielleicht eine Liste der möglichen Entwicklungen erstellen und für jede eine Wahrscheinlichkeit vergeben. In seinem Buch „Against the Gods“ erzählt der Finanzhistoriker Peter L. Bernstein die Geschichte der Vermessung der Zukunft mithilfe der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Dazu muss mathematisch unfassbare Unsicherheit in mathematisch messbare Risiken verwandelt werden. Aus den uns vorstellbaren, künftig möglichen Entwicklungen wählen wir diejenige mit der höchsten Wahrscheinlichkeit als Prognose und vertrauen darauf, dass die Wahrscheinlichkeiten anderer Entwicklungen mit der Größe der Abweichung von der Prognose sinken. Unsicherheit wird scheinbar zum messbaren und damit versicherbaren Risiko.

Einige, aber nicht alle Risiken können wir privat versichern. Deshalb errichten wir den Versicherungsstaat, den wir beauftragen, unsere Lebensrisiken, die wir privat nicht versichern können oder wollen, zu minimieren und die Restrisiken öffentlich zu versichern. Doch scheitert die Vermessung der Zukunft – und damit der Versicherungsstaat – aber immer wieder an der mathematischen Unbeherrschbarkeit eigentlicher, „radikaler“ Unsicherheit, die man auch als fundamentale Ungewissheit bezeichnen könnte. Die Wahrscheinlichkeitsrechnung versagt. Wer wie ich lange in den Finanzmärkten unterwegs war, hat dies oft genug erlebt. Er weiß, dass Geldanlegen in der Kunst besteht, mit Überraschungen aller Art umzugehen, vom „gewussten Ungewussten“ bis zum „ungewussten Ungewussten“. Letzteres, das ungewusste Ungewusste entzieht der Vermessung der Zukunft mit den Methoden der Mathematik vollständig den Boden.

Die Corona-Pandemie ist ein Fanal dafür, wie wenig wir über die Gegenwart wissen, wie ungewiss die Zukunft ist und wie schwer es dem Staat fällt, die ihm zugewiesenen Rolle des Rundumversicherers seiner Bürger gegen Risiken für Gesundheit und wirtschaftlichen Wohlstand auszufüllen. Das Jahr 2020 sollte uns Bescheidenheit lehren. Doch fürchte ich, dass wir – wie nach der Großen Finanzkrise – auch daraus keine Lehren ziehen werden. Noch während wir im Nebel der Pandemie herumstocherten, sah die Politik in der von dem Virus verursachten Zerstörung die Chance, eine neue, nach ihren Vorstellungen geplante Welt zu gestalten. Nach dem Teilabriss infolge der Pandemie soll die Wirtschaft „grüner“ wieder auf- und dabei umgebaut werden. Woher Politik und Gesellschaft die Zuversicht nehmen, dass sie die mit dem Klimawandel verbundenen Unsicherheiten besser durchdringen und berechnen und die Wirtschaft effektiver und effizienter planen können als dies bei der Pandemie der Fall war, entzieht sich dem gesunden Menschenverstand.

Statt an der Illusion der Vermessbarkeit radikaler Unsicherheit festzuhalten oder Handlungen aus Angst vor Unsicherheit bis zur Selbstlähmung einzuschränken, gilt es, die Zukunft mit gesundem Menschenverstand zu ergründen und sich durch die Zeit mit Versuch und Irrtum voranzutasten. Dazu ist es nötig, für Vergangenheit und Gegenwart realistische Erzählungen („Narrative“) zu finden und aus der inneren Dynamik der Geschichten eine Ahnung – und leider ist mehr nicht möglich – über die Zukunft abzuleiten.

Zu den großen Narrativen unserer Zeit, die es zu ergründen gilt, gehören der demografische Wandel, die Völkerwanderungen unseres Zeitalters, die Digitalisierung unserer Lebensumstände, die ausufernde Geldvermehrung der Zentralbanken, die Entstehung einer neuen geopolitischen Weltordnung, der Klimawandel und die Corona-Pandemie sowie die Auflösung der liberalen Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft durch Identitätspolitik. Das sind die „bekannten Unbekannten“. Das „unbekannte Unbekannte“, das im Dunkel fundamentaler Ungewissheit lauert, können wir nicht erzählen, sondern nur bedenken.

Könnten wir die Finalität der Geschichte erkennen, würden wir uns wohl auf geradem Weg dorthin begeben. Wäre die Geschichte ein Zufallsprozess – oder „ein verdammtes Ding nach dem anderen“, wie der britische Historiker Arnold Toynbee meinte –, könnten wir aus ihr nichts lernen. Liegt die Wahrheit jedoch in der Mitte, verändert die Geschichte uns und wir verändern sie. Insofern ist die Zukunft offen, aber nicht rein zufällig.

Vermutlich ist die Geschichte pfadabhängiger und damit auch zyklischer als wir Kinder der Aufklärung wahrhaben wollen. Mit einer ausgereiften Erzählung können wir den Pfad besser verstehen und die Zukunft erahnen. Diese Erkenntnis eröffnet auch neue Handlungsmöglichkeiten, die den Lauf der Geschichte verändern können. Nicht der Random Walk, sondern der Error-Correction-Process wäre dann das entsprechende, der Statistik entstammende Bild.

Durch Irrtum und Korrektur kann eine im Nachhinein in Umrissen beobachtbare, aber schwer in die Zukunft prognostizierbare Zyklik entstehen. Doch ein Muster ist erkennbar: Fehlerhafte Entwicklungen setzen ein, wenn die individuelle Freiheit durch Verpflichtungen aller auf Ziele, die von wenigen definiert werden, unterdrückt wird. Korrekturen entwickeln sich, wenn diese Verpflichtungen aufgehoben werden. Gegenwärtig haben Freiheitsbeschränkungen Konjunktur. Wie weit die fehlerhafte Entwicklung gehen wird, ist offen. Zuversichtlich stimmt jedoch, dass wir auf die Korrektur hoffen dürfen.

Photo: Josh Withers from Unsplash (CC 0)

Von Kalle Kappner, Promotionsstudent an der Humboldt-Universität zu Berlin, Research Fellow bei IREF, Fackelträger von Prometheus.

Unkompliziert auf einer WG-Couch übernachten; sich im Privat-PKW vom Flughafen zur Stadtmitte fahren lassen; den Umzug von ein paar Studenten durchführen lassen – immer mehr Menschen nutzen die vielfältigen, oft sehr preiswerten Angebote digitaler Plattformunternehmen wie Airbnb, Uber oder TaskRabbit. Noch ist die volkswirtschaftliche Bedeutung dieser digitalen Plattformen gering. Doch dass ihr Potenzial groß ist, wird durch die in der gegenwärtigen Pandemie sprunghaft ansteigende Nachfrage nach Lieferangeboten anschaulich demonstriert.

Zunehmend geraten allerdings die Arbeits- und Vergütungsbedingungen sogenannter Plattformarbeiter unter Kritik. Befürchtet wird, dass digitale Plattformen lang bewährte Absicherungs- und Arbeitsschutzmechanismen des Normalarbeitsverhältnisses aushöhlen und durch eine prekäre „Gig-Ökonomie“ ersetzen.

Die empirische Evidenz zeichnet ein nuanciertes Bild. Nur ein kleiner Teil der digitalen Plattformarbeiter nutzt die Gig-Ökonomie als Haupteinkommensquelle. Die meisten Gelegenheitsplattformarbeiter schätzen die Flexibilität und die guten Honorare für Programmier-, Consulting- und Recherche-„Gigs“. Unzufrieden äußern sich niedrigqualifizierte Plattformarbeiter ohne alternative Einkommensquellen – eine Minderheit, deren unattraktive „Gigs“ sich angesichts hoher Lohnkosten für niedrigqualifizierte Normalarbeitsverhältnisse kaum mehr in attraktive „Jobs“ umwandeln lassen.

Um das Potenzial der durch Arbeitnehmer überwiegend geschätzten Gig-Ökonomie zu bewahren, sollte die Politik davon absehen, Vermittlungsunternehmen wie klassische Arbeitgeber zu regulieren. Stattdessen gilt es, für niedrigqualifizierte Plattformarbeiter ausreichend Vorsorge- und Absicherungsmöglichkeiten zu schaffen.

Was ist die digitale Gig-Ökonomie?

Grundlage der digitalen Gig-Ökonomie sind neue internetbasierte Vermittlungsplattformen, auf denen sich Anbieter und Nachfrager von Produkten und Dienstleistungen finden. Transaktionen kommen dabei in der Regel einmalig, zeitlich eng befristet oder projektbasiert zustande – eine langfristige oder gar unbefristete Bindung über einen konkreten Gig hinaus wird von beiden Seiten nicht intendiert.

Ökonomen bezeichnen derartige auf Vermittlungsplattformen basierende Arrangements als zwei- und vielseitige Märkte. Zwar handelt es sich dabei nicht um ein grundsätzlich neues Geschäftsmodell – man denke an Kreditkartenunternehmen, Flohmärkte oder Shopping-Center. Doch die neuen digitalen Plattformen zeichnen sich durch ihr rasantes Wachstum, Ortsungebundenheit und die geringe Anzahl von Intermediären zwischen Endkunden und Anbietern aus.

Wer seine Schlafcouch vermietet, andere im Privatwagen durch die Stadt fährt oder kurzfristig beim Umzug hilft, ist rechtlich kein Angestellter von Airbnb, Uber oder TaskRabbit, sondern ein selbständiger „Plattformarbeiter“, der das jeweilige Plattformunternehmen für die Vermittlung bezahlt. Abzugrenzen sind die neuen digitalen Plattformarbeiter nicht nur von festangestellten Arbeitnehmern, sondern auch von Offline-(Solo-)Selbständigen.

Digitale „Gigs“: Nur selten Haupteinkommensquelle

Wie groß ist die digitale Gig-Ökonomie in Deutschland? Für 2017 schätzten die OECD und der aktuelle „Crowdworking Monitor“ des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales den Anteil der digitalen Plattformarbeiter an der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland auf etwa 3 bzw. 4 % – nah am Mittelfeld der OECD-Länder und den in Studien von McKinsey und JP Morgan Chase ermittelten 4 % für die USA. Deutlich mehr Menschen haben zumindest zeitweise Erfahrungen in der digitalen Gig-Ökonomie gesammelt. So berichtet der „Crowdworking Monitor“ , dass etwa 7 % der Erwachsenen in Deutschland bereits Dienste auf digitalen Plattformen angeboten haben. Eine europaweite Studie schätzte den Anteil 2018 dagegen auf 10,4 % – wiederum nah am europäischen Mittelfeld. Eine Studie der Universität von Hertfordshire gab 2016 sogar einen Anteil von 14 % der deutschen Erwerbsbevölkerung an.

Plattformarbeit stellt dabei überwiegend einen Nebenverdienst dar. So beziffert der „Crowdworking Monitor“ den Anteil der „hauptberuflichen“ digitalen Plattformarbeiter auf 28 % – der Rest bezieht sein Einkommen überwiegend aus einem klassischen Arbeitsverhältnis. Unter den in einer Bertelsmann-Studie 2018 befragten Plattformarbeitern ordneten sogar nur 10 % ihre Plattformarbeit als Haupterwerbstätigkeit ein.

Plattformarbeit: Überwiegend lukrativer Nebenverdienst

Die Gig-Ökonomie ist noch klein, doch sie wächst. Vielen Beobachtern bereitet das Sorgen. Sie assoziieren die Gig-Ökonomie mit Lohndumping, Verlagerung von Risiken von Arbeitgebern auf Arbeitnehmer und der Erosion klassischer sozialer Absicherungssysteme und Tarifverträge. Uber, Lieferando und Co., so die Kritik, würden aufgrund ihres formalen Vermittlerstatus durch das Raster lang etablierter Sozial-, Gewerkschafts- und Arbeitsschutzregulierungen fallen; gleichzeitig könnten diese Unternehmen ihre auf Netzwerkeffekten basierende Marktmacht ausnutzen, um den formal selbständigen Plattformarbeitern schlechte Arbeitsbedingungen zu diktieren. Langfristig, so die Befürchtung, würden tarifgeschützte Arbeitsplätze in unregulierte Scheinselbständigkeitsverhältnisse umgewandelt – ein Prozess, der im Bereich von niedrigqualifizierten haushaltsnahen sowie Logistik- und Transport-Dienstleistungen schon weit vorangeschritten sei.

Systematische Erhebungen legen jedoch nahe, dass nur eine Minderheit der in der Gig-Ökonomie Tätigen unter prekären Arbeitsverhältnissen leidet. Die Bertelsmann-Umfrage von 2018 zeigt, dass in Deutschland neben Airnbnb (Platz 1) und Lieferando (Platz 2) vor allem auf Consulting-, Recherche- und Programmier-Tätigkeiten spezialisierte Anbieter wie „Freelancer“ (Platz 3), „Clickworker“ (Platz 4), „Testbirds“ (Platz 5) und „Amazon M Turk“ (Platz 6) einen großen Teil der digitalen Plattformarbeit vermitteln. Die dort tätigen Plattformarbeiter verdienen weitaus mehr als der Durchschnitt der nicht-freiberuflich tätigen Bevölkerung. Umfragen legen nahe, dass sie ihre Arbeitsbedingungen überwiegend positiv einschätzen. Im „Crowdworking Monitor“ gaben nur 5 % der in Deutschland Befragten an, aus Mangel an Alternativen an der Plattformökonomie teilzunehmen. Im Offlinebereich ist der Anteil der „unfreiwillig Selbständigen“ höher. So gaben in der McKinsey-Studie von 2016 31 % der Offline-Selbständigen in den USA an, ein festes Angestelltenverhältnis vorzuziehen – unter den hauptberuflichen Online-Selbständigen waren es nur 13 %.

Niedrigqualifizierte Jobs: Zusätzliches Angebot

Die Gig-Ökonomie ist eine Quelle lukrativer Nebenverdienste für Hochqualifizierte. Die Erfahrungen niedrigqualifizierter Plattformarbeiter sind jedoch weniger rosig. Eine Auswertung von Interviews in Großbritannien zeigt, dass digitale Plattformarbeiter, denen gering entlohnte Tätigkeiten als Haupteinkommensquelle dienen, unzufriedener sind als jene, die vergleichbare Tätigkeiten in einem festen Arbeitsverhältnis ausführen. Auch in Deutschland werden die Arbeitsbedingungen von niedrigqualifizierten Plattformarbeitern kritisch eingeschätzt. Die im hochqualifizierten Bereich geschätzte Flexibilität der Gig-Ökonomie hinsichtlich Arbeitszeiten, -pensum und -tempo wird von niedrigqualifizierten Plattformarbeitern eher nachteilig gesehen – dort sehnt man sich nach festen Arbeitszeiten und Stunden- statt Stücklöhnen.

Fraglich ist jedoch, inwiefern unattraktive Arbeitsbedingungen für Fahrer, Lieferboten und Haushaltshilfen auf deren Vermittlung via Uber, Lieferando und TaskRabbit zurückzuführen sind. Stellen wir uns vor, dass die Plattformen aufgrund eines Verbots schließen müssten – würden anschließend im gleichen Ausmaß normale Arbeitsverhältnisse zu attraktiveren Bedingungen entstehen? Wenngleich keine systematischen Untersuchungen zu diesem Szenario existieren, wirkt eine Bejahung angesichts der meist hohen Substituierbarkeit der betroffenen Tätigkeiten und der bestehenden Arbeitsmarktbarrieren wie dem Mindestlohn optimistisch. Im Gegenteil ist es wahrscheinlich, dass die Gig-Ökonomie dort zusätzliche Arbeitsgelegenheiten schafft, wo die in konventionellen Arbeitsverhältnissen anfallenden impliziten Lohnkosten durch das Arbeitgeberrisiko und Sozialbeiträge eine Beschäftigung nicht mehr profitabel machen.

Beispiel Uber: Plattform nicht zum Arbeitgeber machen

Der Fahrdienstvermittler Uber ist die vielleicht bekannteste – und akademisch am besten erforschteste – digitale Plattform im niedrigqualifizierten Bereich. Sowohl durch die Umgehung effizienzhemmender Regulierung wie der Tarif- und Konzessionspflicht, als auch durch Einsatz innovativer Algorithmen kann Uber Fahrten zu deutlich geringeren Preisen vermitteln als traditionelle Taxi-Unternehmen. Die durch Ubers Effizienzvorteile gegenüber dem traditionellen, stark regulierten Taxi-Markt entstehenden Vorteile für Konsumenten – gerade jene mit geringem Budget – sind klar dokumentiert, auch für Deutschland.

Ebenso dokumentiert ist allerdings, dass Uber-Fahrer im Schnitt pro Stude weitaus weniger verdienen als ihre konzessionierten Kollegen im Taxi und auf viele nicht-monetäre Vergütungsbestandteile verzichten müssen. Entsprechend werden die Arbeitsbedingungen von Uber-Fahrern oft als abschreckendes Beispiel für die Gefahren der digitalen Plattformökonomie gehandelt. Das gilt auch für Deutschland: Uber erhielt unter zehn untersuchten Plattformen im niedrigqualifizierten Bereich in der Fairwork-Studie 2020 hinsichtlich der Arbeitsbedingungen die schlechteste Bewertung. Nicht zuletzt auf Druck der Taxi-Lobby reagiert die Politik bisher hauptsächlich mit Regulierungsansätzen, die Uber zu einem konventionellen Arbeitgeber und Uber-Fahrer zu konventionellen Arbeitnehmern machen sollen.

Systematische Untersuchungen zeigen jedoch, dass viele Uber-Fahrer – durchaus repräsentativ für andere digitale Plattformen – Fahr-Gigs überwiegend als Nebenverdienstmöglichkeit verstehen, die durch die Plattform gebotene Flexibilität schätzen und eine weitere Regulierung überwiegend nicht befürworten. Diese Wünsche sollte die Politik respektieren und sich auf die Schaffung zusätzlicher freiwilliger Absicherungs- und Vorsorgemöglichkeiten für Plattformarbeiter konzentrieren. In Deutschland könnte dies etwa durch ein analog zur bewährten Künstlersozialkasse strukturiertes Modell geschehen. Plattformarbeiter würden entsprechend Ansprüche gegenüber den etablierten Sozialversicherungsträgern erwerben, ohne dass die Betreiber digitaler Plattformen formal zu deren Arbeitgebern werden. Angesichts der abnehmenden Attraktivität der gesetzlichen Rentenversicherung sollte auf eine Versicherungspflicht verzichtet werden.

Erstmals erschienen bei IREF.

Photo: Ken Mathiasen from Unsplash (CC 0)

Von Dr. Benedikt Koehler, Historiker in London.

Mit den steigenden Covid-Infektionsraten in Indien ist in Großbritannien und womöglich bald auch anderswo der Fortschritt eines Politikmixes, der monatelang so gut funktioniert hat, nun in Gefahr. Im Lichte der veränderten Umstände muss sich die britische Politik möglicherweise weiterentwickeln.

Vorschläge aus den USA, die Patente auf Impfstoffe zu lockern, zeigen, dass die politischen Entscheidungsträger dort den Eindruck haben, dass nationale Alleingänge beim Impfen nicht mehr weiterführen. Auf der Suche nach einer besseren Strategie könnten sich die USA an der Erfolgsbilanz eines Akteurs orientieren, der in der Vergangenheit dafür kritisiert wurde, eher hinterherzuhinken als voranzugehen: der Europäischen Union.

Die Impfkampagnen in den USA und in der EU zeitigten gegensätzliche Schlagzeilen. Die Impfungen begannen in den USA am 14. Dezember, in der EU am 27. Dezember. Gemessen an der Bevölkerungszahl liegt die Impfrate in den USA bei 82 Prozent, in der EU bei 44 Prozent. Noch auffälliger ist der Unterschied in der Art und Weise, wie die USA und die EU Prioritäten bei der Impfverteilung setzen.

Gemessen an den Schlagzeilen scheint diese Strategie für die USA gut funktioniert zu haben.

Die „America First“-Politik der USA beruft sich auf ein Gesetz aus Kriegszeiten, den Defense Production Act, der den Export von Impfstoffen verbietet. Dies kommt einer Rationierung gleich. Während ein solches Verbot die Impfkampagne für Amerikaner beschleunigt, verlangsamt diese Politik den Impffortschritt überall sonst.

In einem Markt mit rationiertem Angebot steigt der Druck auf Impfkampagnen mit der Bevölkerungsgröße. Ein Land von der Größe Israels zu impfen ist einfacher als Indien zu impfen. Die EU hat eine fast anderthalb Mal so große Bevölkerung wie die USA – 450 Millionen gegenüber 330 Millionen. Die Rationierung in den USA hat die Impfkampagne in der EU also sehr viel schwieriger gemacht.

Doch der US-Ansatz hätte in der EU nie funktioniert, selbst wenn sie es gewollt hätte. In einer Zusammenschluss aus 27 Staaten wäre es unpraktisch, die Impfstoffabgabe innerhalb der nationalen Grenzen zu halten. Dennoch hat der euorpäische Ansatz Vorteile gebracht, die den USA entgangen sind. Die in der EU ansässigen Hersteller waren von Anfang an nicht gezwungen, einen bestimmten nationalen Markt zu bevorzugen. Dies gab ihnen die Freiheit, die Produktion für die Anforderungen vieler Länder zu optimieren.

Die Skalierung führte zunächst zu Verzögerungen. Doch das hat sich ausgezahlt, denn die amerikanische Strategie, die Impfstoffproduktion auf den nationalen Bedarf auszurichten, eröffnete den Produzenten in der EU globale Marktchancen.

Seit Januar haben die EU-Hersteller etwa 200 Millionen Dosen in 45 Länder exportiert. Japan war der größte Nutznießer (89 Millionen Dosen), und Kanada, der Nachbar der USA, der drittgrößte (18 Millionen Dosen). Auf der Liste der fünf größten Nutznießer stehen auch die EU-Nachbarn Schweiz (9 Millionen Dosen) und Großbritannien (20 Millionen Dosen).

Es ist müßig, nachzurechnen, ob die EU unter den Bedingungen einer analogen „Europe First“-Politik den Impferfolg der USA inzwischen übertroffen hätte. Die Impfkampagnen haben sich Metriken unterworfen, die geeignet sind, sportliche Ereignisse zu messen (Wie viele? Wie schnell? Wer gewinnt? Wer verliert?). Diese Metriken reichen aber nicht aus, um den langfristigen Erfolg darzustellen.

Wir wissen inzwischen, dass bei einer Pandemie das Erzgebirge sehr nah an das Himmalaya heranrückt und Wuhan und Wunsiedel fast Nachbarn sind. Die Konzentration auf nationale Prioritäten hat Beobachter blind gemacht für die Tatsache, dass das Virus keine Grenzen respektiert. Die Ausbreitung von Covid war global, aber die Eindämmungsmaßnahmen waren zum größten Teil national. Je länger die Pandemie anhält und je weiter sie sich ausbreitet, desto engstirniger erscheint dieser Ansatz.

Impfstoffexporte in Länder außerhalb der EU übertreffen die Lieferungen in Länder innerhalb der EU. In jedem Land, das bei der Impfstrategie nationale Prioritäten setzt, wäre ein solches Verhältnis undenkbar. Die globale Reichweite des Impfstoffhandels der EU hat dem „Yes, we can“ neues Leben eingehaucht. Indem sie den weltweiten Handel im Bereich der Impfstoffe einigermaßen intakt gehalten hat, hat die EU vielleicht mehr richtig gemacht als es derzeit noch scheint.

Erstmals erschienen bei The Article.

Photo: Mika Baumeister from Unsplash (CC 0)

Von Robert Benkens, Lehrer für Deutsch und Politik-Wirtschaft an der Liebfrauenschule Oldenburg.

„Die Zivilisation wird innerhalb von 15 oder 30 Jahren enden, wenn nicht sofort Maßnahmen gegen die Probleme der Menschheit ergriffen werden“, schrieb 1970 der Biologe und Nobelpreisträger George Wald von der Harvard University. Ähnlich klangen Paul Ehrlich in seinem Buch „Die Bevölkerungsbombe“ von 1968 oder Dennis Meadows, der 1972 über „Die Grenzen des Wachstums“ schrieb. Die ARD bringt Öko-Science-Fiction zur besten Sendezeit. Extinction Rebellion glaubt, dass bald sechs Milliarden Menschen an Hunger zugrunde gehen werden.

Und nun die Fakten. Im Jahre 1820 lebten 94 Prozent der Menschheit in Armut, heute sind es acht Prozent. Allein in den letzten 30 Jahren hat sich die Zahl halbiert. Mit mehr Wohlstand sanken die Geburtenraten, Menschen zogen in die Städte, die nur ein Prozent der Landfläche ausmachen. Sie konnten Geld in Bildung, Sanitäranlagen und Medizin investieren. 1820 konnten zwölf von 100 Menschen lesen, heute sind es 85.

Der Anteil derer, die Zugang zu sauberem Wasser haben, ist in den vergangenen 30 Jahren von 58 Prozent auf rund 75 Prozent gestiegen, gleichzeitig sterben immer weniger Menschen an Luftverschmutzung. Die Kindersterblichkeit ist von erschreckend hohen 43 Prozent auf vier Prozent gefallen, die Lebenserwartung hat sich innerhalb von 100 Jahren in Deutschland nahezu verdoppelt. Die Erde wird grüner, die Blattfläche hat um fünf Prozent zugenommen, was allen Amazonas-Wäldern entspricht. Auch Hunger, Kinderarbeit und die Zahl der Opfer von Kriegen und Naturkatastrophen sind deutlich gesunken. Und das alles bei einem rasanten Anstieg der Weltbevölkerung.

Alle kennen Greenpeace – aber keiner Human Progress

Warum stehen diese Trends nicht im Mittelpunkt der Lehrpläne und Medienberichte? Alle kennen Greenpeace – aber keiner Onlineplattformen wie Human Progress oder Wikiprogress. Wenn Jugendliche denken, die Welt werde immer schlechter, verfallen sie in Resignation oder glauben, dass „unser Wirtschaftsmodell“ überwunden werden müsse. Zitat Greta Thunberg: „Wie könnt Ihr es wagen zu glauben, dass man das lösen kann, indem man so weitermacht wie bislang – und mit ein paar technischen Lösungsansätzen?“

Dieses Postwachstumsdenken steht für ein gesellschaftliches Klima, in dem der Aufstieg des Westens als ein Verhängnis empfunden wird. Dabei hat die westliche Zivilisation ein Maß an Wohlstand und Freiheit in der Welt begründet, das seinesgleichen sucht – während in den meisten nicht-westlichen Gesellschaften Armut und Unterdrückung herrschen. Erst der Übergang von regionaler Selbstversorgung zu globaler Arbeitsteilung, von der Plan- zur Marktwirtschaft sowie der Ausbruch aus Energiearmut und Nullwachstum haben die produktiven Grundlagen für Freizeit und Kultur, steigende Löhne, Arbeits- und Umweltstandards gelegt und zivilisatorische Errungenschaften wie öffentliche Sozial-, Bildungs- und Gesundheitswesen finanzierbar gemacht. Davor lebten die Menschen keineswegs „im Einklang mit der Natur“, sie starben im Einklang mit ihr – wie der schwedische Forscher Hans Rosling einst bemerkte.

Heute wollen viele Intellektuelle jedoch das Wachstum herunterfahren. Dabei hat die Corona-Krise uns eine leise Ahnung davon vermittelt, was das heißt: Allein der erste Shutdown hat laut Weltbank 150 Millionen Menschen zurück in die Armut gestürzt. Auch im Kampf gegen Malaria oder Tuberkulose gab es Rückschläge.

Klimaschutz muss man sich leisten können

Zweifellos führt Wirtschaftswachstum oft zu Raubbau an der Natur. Aber es befreit auch aus ihren Zwängen und legt Grundlagen für ihre Erholung. Wenn Menschen ein gewisses Wohlstandsniveau erreichen, haben sie genügend Zeit und Geld, sich um ihre Umwelt zu kümmern. Klimaschutz muss man sich leisten können. Menschen in unterentwickelten Ländern leben in und von der Natur und damit in ständiger Konkurrenz zu ihr. Statt auf Kunstdünger, Pflanzenschutz, Traktoren oder Gas müssen sie auf Brandrodungen und Holz zurückgreifen, um ihre Äcker zu bestellen, Häuser und Feuerstellen zu heizen. Das führt zu massivem Druck auf Wälder und Wildtiere, während Wälder im Westen, aber auch in China und Indien dank flächeneffizienter Landwirtschaft und strengem Naturschutz wieder wachsen.

Der MIT-Ökonom Andrew McAfee schreibt in „More from Less“ eindrucksvoll, wie wirtschaftlicher Fortschritt Umweltschutz ermöglicht. Statt aber Unternehmer- und Forschergeist für bahnbrechende Technologien wie Clean Meat, Carbon Capture, Aqua oder Vertical Farming zu wecken, wird Schülerinnen und Schülern nicht nur am „Earth Overshoot Day“ erklärt, dass wir drei Erden bräuchten, würden alle so leben wie sie. Auf Grundlage einseitiger Modelle werden wie schon bei früheren Untergangsprognosen aktuelle Probleme in die Zukunft extrapoliert, ohne das Entdeckungspotenzial des Menschen zu berücksichtigen.

WELT-Autor Axel Bojanowski spricht von der „Noble Cause Corruption“ – Journalisten würden nur über Trends berichten, die in ihr Weltbild passen. Exemplarisch: Obwohl Medien von „beispiellosen Bränden“ schrieben, waren die Brände in Kalifornien vor der Ankunft der Europäer um ein Zigfaches größer. In Australien wüteten noch in den 1960er- und 1970er-Jahren Brände, die um das Sechsfache größer waren, und insgesamt ist die verbrannte Fläche weltweit laut Nasa seit 2000 sogar um 25 Prozent gesunken.

Es geht um Verhältnismäßigkeit

Das heißt ausdrücklich nicht, dass wir uns zurücklehnen können. Aber ähnlich wie bei Corona geht es um die Verhältnismäßigkeit. Ein „Business as usual“ könnte große Schäden anrichten, aber ein globaler Shutdown würde sofort einen Rückfall in die Armut bedeuten. Wenn man für technologische Lösungen eintritt, drückt man sich nicht um die Klimafrage, sondern schafft Grundlagen für eine realistische Lösung. Stattdessen zu lehren, der Klimawandel sei das Ende der Menschheit, und nur die erneuerbaren Energien, Wachstumsverzicht und regionaler Öko-Landbau könnten uns davor retten, ist grob verkürzt.

Wenn Schüler lernen, dass der Klimawandel ein Problem ist, dass Durchschnittstemperaturen und Meeresspiegel steigen, sollte ergänzt werden, dass laut Weltklimarat IPCC keine signifikanten Steigerungen bei Wirbelstürmen oder Dürren zu verzeichnen sind, dass die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen bis 2050 mit weiter steigenden Ernten rechnet und die Zahl der Opfer von Extremwetter um über 90 Prozent gesunken ist.

Wenn Schüler sehen, wie übermäßiger Fleischkonsum Regenwälder bedroht und sie deshalb auf Öko-Landbau setzen, sollten sie auch wissen, dass dieser wegen der Ertragsverluste nie die Weltbevölkerung ernähren könnte und dass er aufgrund des höheren Flächenverbrauchs eine schwächere Ökobilanz bei Artenvielfalt, Wasserverschmutzung und Emissionen hat. Schließlich gibt es dank Biotechnologie Lösungen für Probleme der intensiven Landwirtschaft, da sie den Bedarf an Fläche, Dünger und Pestiziden weiter reduzieren kann.

Schüler sollten erfahren können, dass Deutschland wie kein zweites Land Milliarden in Solar- und Windanlagen pumpt, aber dennoch zu den größten CO2-Emittenten gehört, während Großbritannien mit dem verpönten Fracking viel größere Reduktionserfolge verzeichnet, ebenso Frankreich mit einer Energiequelle, aus der Deutschland aussteigt, obwohl diese laut der Plattform „Our World in Data“ zu den sichersten Arten der Energieerzeugung gehört.

Wenn uns in Dokumentationen miserable Arbeitsbedingungen in vielen Sweatshops Bangladeschs eindrücklich vor Augen geführt werden, um Handlungsdruck auf Konzerne zu erzeugen, sollte auch aufgezeigt werden, dass die Armut in diesen Ländern deutlich zurückgegangen ist, während die Lebenserwartung stieg und sich die Bildungsmöglichkeiten verbesserten.

Seit Jahrzehnten ist es fünf vor zwölf

Wenn junge Aktivisten für den Schutz von Klima und Umwelt auf die Straße gehen und dabei „Burn Capitalism, Not Coal!“ skandieren, könnten sie im Unterricht aufgeklärt werden, dass die Menschen in der DDR nicht nur ärmer und unfreier waren, sondern dass auch die Emissionen deutlich höher waren und Flüsse und Luft verdreckten, während all dies in der kapitalistischen Bundesrepublik immer besser wurde.

„Die Welt wird in zwölf Jahren untergehen, wenn wir den Klimawandel nicht angehen“, sagte die Abgeordnete im US-Kongress Alexandria Ocasio-Cortez vor zwei Jahren. Seit Jahrzehnten ist es fünf vor zwölf – egal ob bei der „Überbevölkerung“, dem „Ressourcenende“, der „Massenverarmung“ oder dem „Waldsterben“. Viele Prognosen haben sich dabei als falsch oder übertrieben herausgestellt. Dabei ist nicht das Aufzeigen sozialer oder ökologischer Missstände das Problem, es ist die moralisierende Belehrung, dass wir zur Lösung „zurück zur Natur“ müssten und weg vom „Fortschrittsglauben“. Solche Verzichtsappelle werden angesichts von Milliarden Menschen, die auch ein gutes Leben wollen, wenig bewirken.

Im Gegenteil: Der wirtschaftliche Fortschritt ermöglicht ihnen nicht nur ein längeres und besseres Leben, sondern auch, dass der Wald zurückkommt, Gewässer und Luft sauberer werden und Emissionen wieder sinken – weil die Menschen Zeit haben, sich um die Natur zu sorgen und Kapital in die Entwicklung einer effizienten Land- und Energiewirtschaft zu investieren, in klimaschonende Innovationen, Anpassung an den Klimawandel oder auch in Pandemiebekämpfung. Bis für Pocken und Polio Impfungen gefunden wurden, dauerte es 3300 Jahre, bei Röteln waren es 350 Jahre, bei Ebola fünf, und bei Corona dauerte es weniger als ein Jahr. Es ist Zeit für rationalen Optimismus – nicht nur in den Schulen.

Erstmals erschienen in der Welt.