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Wenn man Deutschland von außen betrachtet, dann beschleicht einen das Gefühl, dass wir im Vergleich zu anderen nicht so richtig vorankommen oder sogar zurückfallen. Brücken sind marode, die digitale Infrastruktur kommt nur schleppend voran und die Innovationskraft lässt nach.  Generell hat man den Eindruck, wir leben von der Substanz. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hat dies in dieser Woche zum Thema gemacht, und über den Grad der Modernität des Kapitalstocks im Vergleich zu anderen Ländern berichtet. Je moderner der Kapitalstock, desto höher die Wertschöpfung je Beschäftigtem. Deutschland schneidet dabei schlecht ab. Im Vergleich mit vielen anderen entwickelten Volkswirtschaften habe Deutschlands Kapitalstock in den vergangenen 20 Jahren erheblich an Qualität eingebüßt, zitiert die FAZ aus einer Studie des Verbandes Forschender Arzneimittelhersteller.

Hier schließt sich die Frage an: was macht ein Land oder eine Volkswirtschaft ökonomisch erfolgreich? Und was sind eigentlich die Erfolgsfaktoren für den Aufstieg? Rainer Zitelmann hat dies in seinem neuen Buch „Der Aufstieg des Drachen und des weißen Adlers“ am Beispiel von Polen und Vietnam untersucht. Beide Länder haben eine kommunistische Vergangenheit. Polen ist nach dem Fall des Eisernen Vorhangs Teil der Europäischen Union geworden, ist inzwischen demokratisch verfasst und marktwirtschaftlich ausgerichtet. Vietnam ist nach außen hin ein sozialistischer Staat, in dem politisch Andersdenkende rigoros verfolgt werden. Es herrscht keine Meinungs- und Pressefreiheit. Verglichen mit China ist die ökonomische Freiheit jedoch groß.

Interessant ist zu erfahren, welche Unterschiede in der Mentalität zwischen Polen und Deutschland, aber auch zwischen Deutschland und Vietnam existieren. 1989 war Polen eines der ärmsten Länder Europas, heruntergewirtschaftet durch jahrzehntelange sozialistische Planwirtschaft. Der ökonomische Aufstieg Polens begann in den 1990er Jahren mit radikalen und schnellen marktwirtschaftlichen Reformen, die eng mit dem Namen des polnischen Ökonomen Leszek Balcerowicz verbunden sind. An verschiedenen Stellen, unter anderem als Finanzminister und Notenbankpräsident, war er der polnische „Ludwig Erhard“, der diese Reformen einleitete und umsetzte. Dazu gehörten eine stabilitätsorientierte Geldpolitik und eine marktwirtschaftliche Wirtschaftspolitik. Im Erhardschen Sinne hatte dies „Wohlstand für alle“ zur Folge. 1989 lag das durchschnittliche Einkommen der Polen im Vergleich zur EU-15 bei weniger als einem Drittel und stieg auf knapp zwei Drittel im Jahr 2015. Wahrscheinlich prägte dieser Aufstieg aus bitterster Armut zu Wohlstand das Bild vieler Polen von der Marktwirtschaft und dem Kapitalismus. Es ist viel positiver als das unsere. Zitelmann erwähnt in seinem Buch eine Allensbach-Umfrage der größten Unterschiede zwischen Polen und Deutschen. Polen haben eine viel positivere Beziehung zu Reichtum und Wohlstand. Während in Deutschland Reichtum überwiegend mit Egoismus, Überheblichkeit und Gier verbunden wird, assoziieren Polen ihn viel weniger mit diesen negativen Begriffen. Polen verbinden Reichtum eher mit Wagemut, Einfallsreichtum und Fleiß, also mit positiv besetzten Attributen.

Ähnlich ist es mit Vietnam. Dort hat der Kapitalismus einen guten Ruf. Man verbindet ihn mit wirtschaftlicher Freiheit, Wohlstand und Leistung. Ich war selbst im Frühjahr in Vietnam und konnte mir vom Aufstiegswillen der Menschen selbst ein Bild machen. Wer einmal in Saigon war und die Tausende von Menschen auf ihren Rollern morgens zur Arbeit fahren sieht, bekommt schnell ein Gefühl dafür, dass der Drang zum wirtschaftlichen Aufstieg und Wohlstand unaufhaltsam ist. Die Grundlage dafür ist eine Kultur der Leistungsbereitschaft und des individuellen Vorankommens.

Zumindest was die ökonomische Entwicklung betrifft, ist es fast schon ein Gegenmodell zu Deutschland. Bei uns dominieren die Bedenkenträger, die zentralplanerischen Ingenieure und die Befürworter des allumfassenden Sozialstaates, der dem Einzelnen sämtliche Entscheidungen des Lebens abnehmen will. Am Ende führt dieser Mentalitätsunterschied zu ökonomischen Ergebnissen, die für uns nicht rosig aussehen: Während wir von der Substanz der Nachkriegsgeneration zehren, steigen andere Gesellschaften auf und kommen voran. Der ökonomische Substanzverzehr ist eine Mahnung und Auftrag zugleich, ökonomische Reformen in Deutschland wieder in den Blick zu nehmen. Dies fängt bei A wie Arbeitsrecht an, das historisch auf den Schutz der Arbeitnehmer zielte, aber inzwischen zum Anbietermarkt verkehrt ist. Und es endet bei Z wie Zentralismus, der subsidiäre Entscheidungen erschwert und individuelle Freiheit untergräbt. Staaten und Volkswirtschaften mit einem hohen Grad an Dezentralität der Entscheidungen, sei es im staatlichen Aufbau oder beim Grad der individuellen Freiheit sind zentralen Planungsbehörden überlegen. Dafür sind Länder wie Polen und Vietnam hervorragendes Anschauungsmaterial.

Zitelmanns Buch verdeutlicht, warum es einen Mentalitätswandel in Deutschland braucht, damit wir nicht absteigen. Zitelmann ist als Historiker auch ein exzellenter Kenner des Ökonomen und Moralphilosophen Adam Smith. Der Geburtstag von Adam Smith jährt sich in diesem Monat zum 300. Mal. Schön ist, dass seine Erkenntnisse zeitlos sind: „In der Regel gilt: jeder Erwerbszweig und jede Arbeitsteilung, die für die Allgemeinheit vorteilhaft sind, werden es immer umso mehr sein, je freier und umfassender der Wettbewerb ist.“

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Der Umgang der US-Börsenaufsicht SEC mit der Kryptobörse „Coinbase“ mutet an wie eine Passage aus Franz Kafkas Prozess. Regulierung wird zum Selbstzweck, der Angeklagte zum Ausgelieferten des Systems.

Wenn Bürokratie zum Selbstzweck wird

Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, daß er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen. »Es ist möglich«, sagt der Türhüter, »jetzt aber nicht.«

Die Türhüterparabel von Franz Kafka, die der Autor dem Angeklagten K. im bekannten Roman „Der Prozess“ vorträgt, steht sinnbildlich für eine ihrer ursprünglichen Aufgabe entfremdeten Verwaltung. Wie auch im Prozess steht ein ohnmächtiger und zugleich gutwilliger Bürger einem undurchsichtigen Rechtssystem gegenüber, das Regeln und deren Durchsetzung zum bloßen Selbstzweck macht. Und so stirbt „der Mann vom Lande“ am Ende der Parabel unverrichteter Dinge vor der Tür zum Gesetz, die sich daraufhin für immer schließt. Das Gleichnis ist eine Erzählung, die tiefes Unbehagen hervorruft bei dem Gefühl, einer allmächtigen Autorität auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zu sein. Und sie wirkt wie eine Blaupause für den Kampf der US-Institutionen gegen die Kryptowirtschaft.

Die Blockchainwirtschaft kommt im Mainstream an

Diese Woche war wieder Bitcoin Pizza Day. Am 22. Mai 2010 wurde Bitcoin das erste Mal genutzt, um ein Produkt außerhalb der Blockchain zu kaufen. Eine Pizza für 10.000 Bitcoin. 13 Jahre später wäre diese Transaktion eine viertel Milliarde Euro wert. Bitcoin, Ether und Co. kommen immer mehr im Mainstream an und es hat sich eine Milliardenwirtschaft für digitale Wirtschaftsgüter entwickelt. Unter den vielen Unternehmen der noch jungen Blockchain-Wirtschaft fällt Coinbase als Akteur auf, der besonders um Zuverlässigkeit und Ernsthaftigkeit bemüht ist. Die größte US-Kryptobörse ist im traditionell knallhart regulierten Staat New York niedergelassen und seit 2021 an der Technologiebörse NASDAQ notiert. Das erfordert einen Grad an Compliance und Transparenz wie ihn auch die traditionellen amerikanischen Finanzinstitutionen an den Tag legen müssen. Dadurch wird Coinbase zum Gegenentwurf zur im letzten Oktober implodierten Kryptobörse „FTX“ der einstmaligen Lichtgestalt Sam Bankman-Fried. In dessen milliardenteurem Scherbenhaufen fanden Ermittler und Staatsanwälte über die letzten Monate ein wahres Sodom und Gomorrha. Man sollte meinen, die US-Regulierer, allen voran die Börsenaufsichtsbehörde SEC, würden sich glücklich schätzen ob eines so transparenten und um Compliance bemühten Unternehmens. Doch das Gegenteil ist der Fall. Die SEC hat Coinbase den Krieg erklärt und das in bester Kafka-Manier.

Godzilla gegen King Kong: Kampf der US-Regulierer

Die Europäischen Union hat mit der MiCA-Verordnung gerade einen großen Schritt in Richtung Rechtssicherheit für die Blockchain-Wirtschaft getan. Der Rechtsrahmen regelt Handel und Nutzung von Blockchain-basierten Werten und Genehmigungen für Krypto-Dienstleister. Ganz anders sieht das in den USA aus. Nicht nur, dass hier ein einheitlicher Rechtsrahmen für Krypto-Dienstleister in den Sternen steht. Die größten Finanzmarktregulierer des Landes, die Börsenaufsicht SEC und die Commodity Futures Trading Commission (CFTC), die die Rohstoffmärkte überwacht, streiten sich auch noch um Zuständigkeiten. Ein Kampf wie Godzilla gegen King Kong.

Im Mittelpunkt steht die Frage, ob Krypto-Werte, wie sie auf den Plattformen von Coinbase gehandelt werden können, Securities (Wertpapiere) oder Commodities (Handelswaren wie Rohstoffe) sind. Das ist nicht nur eine Frage der Zuständigkeit, sondern auch über die Regulierungsdichte. Der Wertpapierhandel in den USA ist der wohl am dichtesten regulierte Finanzmarkt der Welt und erfordert extremen Aufwand. Die SEC in Gestalt ihres Vorsitzenden Gary Gensler ist sich allerdings selbst nicht so sicher welche Kryptowerte sie als Wertpapiere klassifizieren kann. So stand dieser kürzlich den amerikanischen Abgeordneten in einer Ausschussanhörung mehr Rede als Antwort und wich auf zentrale Fragen immer wieder aus. Auch auf Nachfrage konnte Gensler nicht eindeutig sagen, ob die nach Marktkapitalisierung weltweit zweigrößte Kryptowährung Ethereum laut Einschätzung der SEC ein Wertpapier sei und damit unter ihre Jurisdiktion falle. Als Antwort gab es für die Abgeordnete, deren verfassungsgemäße Aufgabe es ist, die SEC zu kontrollieren, lediglich ein ausweichendes „Das kommt auf die Umstände an“. Doch nun wird es kafkaesk im eigentlichen Sinne.

Kein Einlass ins Gesetz

Denn anstatt in diesem regulatorischen Durcheinander die Füße still zu halten bis Regeln und Zuständigkeit vom Gesetzgeber geklärt werden, geht Genslers SEC aufs Ganze und verklagt jedes Krypto-Unternehmen, das nicht bei Drei auf den Bäumen ist. So verlangt die SEC z.B. von Coinbase nicht nur, dass das Unternehmen eine Wertpapierhandelslizenz beantragt. Im März flatterte bei Coinbase auch noch eine so genannte „Wells Notice“ ein. Die formale Ankündigung einer Anklage wegen des unrechtmäßigen Handels mit Wertpapieren. Diese soll den betreffenden Unternehmen die Möglichkeit geben, eine Antwort an die SEC vorzubereiten. Doch sieht sich die SEC außer Stande, Coinbase mitzuteilen, welche der 250 dort gehandelten Kryptowährungen sie denn als Wertpapier ansieht. Man könnte behaupten, die SEC wisse das selbst noch nicht so genau.

Das ist nicht die einzige Parallele zu Kafkas Dystopie. Denn bereits im Juli letzten Jahres, zu einer Zeit als der Serienbetrüger Sam Bank Fried noch Termine mit Gensler und Biden absolvierte, schickte Coinbase der SEC eine tatsächliche Bitte um „Einlass“ ins Gesetz. Auf 32 Seiten bat Coinbase die SEC um eindeutige Regeln für den Handel mit Kryptowährungen und formulierte sogar vierzig konkrete Fragen, deren Klärung Coinbase die Beantragung der SEC-Lizenz ermöglichen könnten. Die Antwort: Stille. Ganz wie das „Es ist möglich, jetzt aber nicht“ des Türhüters. Im Mai dieses Jahres versuchte Coinbase dann, die SEC vor Gericht dazu zu zwingen, auf die Bitte um Regulierung zu antworten. Darauf erwiderte die SEC, dass Regulierung ihre Zeit dauere (Jahre), es keine Eile gäbe, und in der Zwischenzeit die bestehende Regulierung durchgesetzt würde. Unklar bleibt was genau damit gemeint ist.

Die SEC handelt genau wie die pervertierte Bürokratie im „Prozess“ nur noch zum Selbstzweck und auf Basis von Regeln, die sie nur selbst ahnt, und die sie den Angeklagten selbst auf Nachfrage nicht mitteilt. Dabei hat sie aber auch noch große Teile von Politik und Öffentlichkeit auf ihrer Seite, weil sie und andere vermeintliche Verbraucherschutz-Institutionen über Jahre hinweg erfolgreich den Mythos vom Kriminellen-Geld und Schneeballsystem Krypto verbreitet haben.

Blockchain könnte für den Staat eine riesige Chance sein

Was die SEC und die hinter ihr stehenden politischen Akteure übersehen: Eine sinnvoll regulierte Blockchain-Wirtschaft wäre eine kolossale Chance für den Staat. Einerseits lechzen Finanzunternehmen der Kryptowirtschaft geradezu nach Regulierung. Denn nur die würde es ermöglichen, Zugang zum Billionenmarkt der Renten- und Indexfonds zu erhalten. Die astronomische Menge an Kapital, die auf diesen Märkten für Investitionen in Bitcoin und Co. bereitstünde, setzt einen unschlagbaren Anreiz, sich den Regeln des Staates zu fügen. Aber Blockchain ist noch viel mehr als Krypto. Es ist das Versprechen auf minimale Transaktionskosten und maximale Transparenz. Die Blockchain könnte dabei helfen, die taumelnden demokratischen Institutionen des Westens wiederzubeleben z.B. mit einfachen und unfälschbaren Wahlen. Sie könnte Verwaltungen bürgerfreundlich machen, Gerichte entlasten und das globale Geldsystem um eine verlässliche Alternative erweitern. Doch dazu braucht diese faszinierende Technologie Einlass ins Gesetz.

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Es liegt mal wieder Streikstimmung in der Luft. Sehr viele Menschen in unserem Land können aber nicht einfach mal streiken: Von der Polizistin über den selbständigen Installateur bis zur Betreuerin im Heim für minderjährige Geflüchtete. Ausbaden müssen sie die Streiks aber häufig schon.

Gewerkschaftsfürsten bei der Landshuter Fürstenhochzeit

Das Instrument des Streiks ist altehrwürdig. Jahrzehnte lang war es ein Mittel, um die strategische Schwäche von Arbeitnehmern gegenüber ihren Arbeitgebern von Zeit zu Zeit auszugleichen. Seitdem hat sich das Machtgewicht natürlich erheblich verschoben. Das Arbeitsschutzregime in westlichen Ländern zielt ja gerade darauf ab, da Augenhöhe herzustellen. Und doch wird der „Arbeitskampf“ gerne regelmäßig ausgerufen, um Löhne zu erhöhen, Arbeitszeiten zu reduzieren und andere Vorteile für die Arbeiter herauszuschlagen. Unter Aufwendung des vollen Arsenals frühkapitalistischer Klassenkampfrhetorik laufen Gewerkschaftsfürsten Sturm gegen die Ungerechtigkeiten der reichen Bonzen und Shareholder. Manchmal fühlt man sich geradezu erinnert an die aufwendigen Nachstellungen historischer Schlachten. Dabei geht es oft nicht darum, unhaltbare prekäre Zustände zu beenden, sondern um ganz normale Verhandlungen über Arbeitsbedingungen.

Als kürzlich die Eisenbahnergewerkschaft EVG einen Großstreik ankündigte, waren Gehaltsanpassungen für alle Gehaltsgruppen auf dem Tisch. Dass Mindestlohnbezieher in Zeiten einer munter trabenden Inflation wahrlich guten Grund haben, möglichst bald ihr Einkommen zu erhöhen, steht absolut außer Zweifel. Ob aber die Not für alle Mitarbeiter so drängend ist, dass ein Streik unausweichlich ist? Das deutsche Medianentgelt lag zuletzt bei etwas über 42.000 Euro brutto. Lokführer verdienen zwischen 44.000 und 52.500, Zugbegleiter zwischen 37.000 und 50.000. Womöglich ließen sich in solchen Lohngefilden auch zivilisiertere Formen der Verhandlung finden als Tage lang das Land lahmzulegen. Aber dann entgeht den Gewerkschaftsfürsten natürlich eine bedeutsame Gelegenheit zur Profilierung.

Streik ist Gewalt – oft gegenüber Unbeteiligten

Es ist schon überraschend, wie die Gewaltanwendung, die ein Streik notwendigerweise beinhaltet, in der Regel achselzuckend hingenommen wird. Denn unter dem Streik leiden nicht die „Schurken“ in den Vorstandsetagen, die keine faire Entlohnung rausrücken wollen. Und die Shareholder der Bahn? Nun ja, sie ist in Bundesbesitz, insofern könnte man natürlich schon sagen, dass die Shareholder betroffen sind … Nein, der Streik verhagelt nicht einem schmerbäuchigen Industriellen seine Geschäfte, wie das im Jahr 1873 war. Der Streik belastet Menschen, die ihre kranke Großmutter besuchen wollen; die ein Bewerbungsgespräch haben oder ihr frisch entwickeltes Projekt erstmals Investoren vorstellen wollen. Er belastet Menschen, die aus ökonomischen oder auch aus ökologischen Gründen auf ein Auto verzichten. Er belastet die Lieferketten von Medikamenten und Hilfsgütern für die Ukraine.

Es ist schon überraschend, wie als selbstverständlich hingenommen wird, dass Gewerkschaften immer wieder zu dem extremen Mittel des Streiks greifen, wenn man bedenkt, wie viele Menschen in unserem Land sehr viel mehr Kreativität an den Tag legen müssen, um ihr Einkommen oder ihre Arbeitsumstände zu verbessen. Da sind zunächst einmal viele Beamte, die aus gutem Grund kein Streikrecht haben, aber aus eigenem Arbeitsethos auch nicht das Gefühl haben, das anderen zumuten zu können, weil das Gemeinwesen auf sie angewiesen ist. Dann sind da Menschen, die zwar streiken könnten, aber die ihnen anvertrauten Aufgaben und vor allem Menschen nicht im Stich lassen wollen, weil sie im Altenheim arbeiten oder in der ambulanten psychologischen Beratung in Problembezirken.

Respekt bitte!

Und schließlich sind da noch die vielen Selbständigen im Land: Gartenbauer; Musiklehrerinnen; Kioskbesitzer; Leute, die einen Second-Hand-Laden betreiben; Hausärztinnen; Kinderbuchautoren; Landwirte; Gastwirte; Dachdecker; und der Betreiber des Dönerladens, wo man morgens nach dem Feiern noch einkehren kann. Die können nirgendwo ein höheres Einkommen erzwingen. Die können nicht streiken, um ihr Portemonnaie zu füllen. Ganz im Gegenteil: sie müssen dafür noch mehr arbeiten! Und nicht zuletzt sie werden besonders in Mitleidenschaft gezogen, wenn gestreikt wird. Sie müssen nicht nur die Last tragen, das eigene Einkommen zu steigern, um ihre Familie zu versorgen und mit der Inflation mitzuhalten. Sie werden auch noch gezwungen, die Last der anderen mit zu stemmen.

In den vielerlei Gerechtigkeitsdebatten, die in deutschen Feuilletons und Talk Shows geführt werden, kommen solche Aspekte eigenartigerweise nie vor. Ganz zu schweigen davon, dass die unglaubliche Leistung gewürdigt würde, die solche Menschen für unsere Gesellschaft erbringen: Indem sie Vielfalt ermöglichen, Leben bereichern und verbessern und uns mitunter den Allerwertesten retten, wenn der Keller unter Wasser steht. Unser Land braucht dringend mehr Wertschätzung für die Menschen, die nicht einfach die Arbeit niederlegen können oder wollen. Oder in den Worten des Kanzlers: Respekt. Denken Sie beim nächsten Mal doch daran, wenn Sie die Klavierstunden für Ihre Tochter vereinbaren, den Handwerksnotdienst rufen oder im Blumenladen nebenan noch ein paar Tulpen kaufen.

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„Wieso bist du liberal?“ Ich habe aufgehört zu zählen, wie oft mir diese Frage gestellt wurde. Die Antwort scheint auf den ersten Blick sehr einfach und kommt wie aus der Pistole geschossen: „Weil ich Freiheit liebe.“ Aber eine differenzierte Betrachtung dieser wichtigen Frage sieht anders aus. Denn je besser man den Liberalismus versteht, desto besser versteht man auch seine Schwachstellen.

Ein wesentliches Merkmal des Menschen ist, dass er Dinge aufbauen und sie anschließend erhalten will. Dies gilt für greifbare Dinge, wie beispielsweise das gutbürgerliche Vorstadthaus mit Garten, es gilt aber auch für Abstraktes wie zwischenmenschliche Beziehungen oder sogar Meinungen. Liberalen scheint, überspitzt gesagt, ebendieser Drang zum Erhalt von Dingen ein wenig abhanden gekommen zu sein, denn gelebter Liberalismus führt fortlaufend zu Veränderung. Mit Veränderung einher geht der unvermeidbare Schmerz über den Verlust des Gewohnten und auch das Risiko, dass Fehler passieren. Diese Aspekte der Veränderung sind beängstigend, sie widersprechen der beschriebenen Natur des Menschen und destabilisieren Gesellschaften kurzfristig.

Liberale machen also Radau, sie wollen, dass Neues entsteht, nur um es im Zweifelsfall wieder wegzuwerfen, und können dabei nicht einmal garantieren, dass dieses Vorgehen die Lebensumstände der Menschen verbessern wird. Es wäre ein Leichtes, aufgrund dessen anzunehmen, dass hier Fortschritt nur um des Fortschritt Willens erzwungen wird. Doch das ist nicht der Fall! Was Liberale wirklich antreibt, ist ein unbedingter Optimismus, das große Vertrauen darauf, dass mit mehr Freiheit die Welt verrückter, bunter und damit auch bezaubernder wird. Dieses Vertrauen übertragen wir auf jeden Bereich: Wir vertrauen auf den freien Menschen und feiern die Eigenverantwortung. Wir vertrauen auf den freien Markt und feiern die wachsenden Graphen. Wir vertrauen auf die freie Wissenschaft und feiern heute schon die Innovation von morgen. Während allen, die dieses Vertrauen in die Zukunft haben, jede Form des Konservatismus oft absurd erscheint, erscheinen sie selbst wiederum absurd für alle, die menschlicherweise an dem klammern, was sie in der Gegenwart sind und haben.

Und hier kommen wir zum Grundproblem des Liberalismus – wir können nichts versprechen. Wir bringen einen schlechten Deal für alle, die gern ein wenig Sicherheit hätten. Es gibt im Liberalismus kein Dogma. Es kann nie ein liberales Glaubensbekenntnis geben, dass für alle Ewigkeit Gültigkeit besitzt. Oder?

Im politischen Liberalismus wird gern versucht, diese Tatsache zu vertuschen, indem Wahlprogramme geschrieben und Versprechungen gemacht werden, die in einer Koalition zum Großteil sowieso nicht gehalten werden können. Doch während der politische Liberalismus allerlei Verrenkungen unternimmt, um ein konsistentes Bild in der Öffentlichkeit zu erzeugen, welches in der Konfrontation mit neuen Herausforderungen sofort wieder zerfällt, ist die Konkurrenz, klar im Vorteil. Konservatismus als Ideologie ist dem Liberalismus um Längen voraus, wenn es darum geht, das Vertrauen der Menschen zu gewinnen. Auf ihm beruhen erfolgreiche Volksparteien mit Mehrheiten, von denen Liberale nur träumen können. Dieser Effekt wird dadurch verstärkt, dass in Deutschland viele Menschen leben, die viel zu verlieren haben. Ältere, Wohlhabende, Menschen, die sich keine Gedanken um ihre Grundrechte machen müssen. Für diese Gruppen ist der Liberalismus mit seinen kühnen Versuchen, alles anders zu machen, eher ein Störenfried.

Wieso bin ich also liberal? Ja, ich bin Optimist. Und ja, ich glaube, dass mehr Freiheit langfristig auch immer zu mehr Glück führen wird. Doch möchte nicht auch ich zumindest ein wenig konkrete Sicherheit von der Ideologie geboten bekommen, der meine Werte unterliegen?

Diese Sicherheit, nach der sich zugegebenermaßen auch Liberale sehnen, denn auch sie sind nur Menschen – diese Sicherheit gibt es! Sie lässt sich in der Geschichte finden, in jedem gewagten Protest gegen Unterdrückung und Unrecht. Sie lässt sich in der Gegenwart finden, von der Debatte um Technologieoffenheit bis zur Unterstützung der Ukraine. Und sie wird sich auch in Zukunft finden lassen, denn komme, was wolle: für die Freiheit werden sich Liberale immer einsetzen. Ungeachtet der Verluste, die damit einhergehen.

Diese Perspektive kann der Liberalismus geben und das ist es, was wir den Konservativen voraus haben. Sie werden auf Lebzeit versuchen, Bestehendes zu erhalten, wie auch immer das Bestehende aussieht. Auch diskriminierende Strukturen und Vorurteile können aus diesem Ansatz heraus als erhaltenswert gelten. Liberale hingegen werden immer Veränderung suchen. Doch der Gegenstand unserer Ideologie, die Freiheit, bleibt seit Jahrhunderten unangetastet. Umso wichtiger ist es, dass wir anfangen, dieses großartige Versprechen des Liberalismus in den Vordergrund zu rücken und diese Sicherheit nicht zunichte machen, indem wir widersprüchlich zu ihr handeln.

Das liberale Glaubensbekenntnis existiert. Es lautet: Für die Freiheit wollen wir kämpfen. Immer. Und besonders dann, wenn es darauf ankommt.

Photo: Mike Winkelmann from Wikimedia Commons (CC BY 4.0)

Die Zukunft ist ungewiss. Dies ist so banal, dass es schon wieder reizt, darüber nachzudenken. Denn im politischen Prozess ist diese Banalität längst nicht so offensichtlich. Hier glaubt man, die Zukunft vorhersagen und bestimmen zu können. Im nun geplanten Gebäudeenergiegesetz von Robert Habeck wird beispielsweise alles auf die Wärmepumpe gesetzt. Im Netzentwicklungsplan geht man davon aus, dass es in Deutschland im Jahr 2045 16,3 Millionen Wärmepumpen geben wird. Zum Vergleich: 2021 gab es 1,2 Millionen. Diese verbrauchen dann 67 bis 90 Terrawattstunden Strom. Ob das alles eintritt, weiß ich auch nicht. Immerhin dauert es noch 22 Jahre, bis das Ziel erreicht werden soll.

Solche Planungsziele und Prognosen gibt es vielfach. Die Bundesbauministerin Klara Geywitz hat beispielsweise das Ziel ausgegeben 400.000 neue Wohnung in Deutschland zu bauen. Sie wird diese nicht persönlich bauen, sondern braucht andere dafür – Häuslebauer, Wohnungsbaugesellschaften, Bauträger.  Auch dieses Ziel ist wünschenswert, ob es realistisch ist, bleibt abzuwarten. Zweifel sind sicherlich angebracht. Denn auf einige Faktoren hat die Regierung direkten, auf andere gar keinen oder nur einen mittelbaren Einfluss. Oft widersprechen sich die Ziele sogar. Werden die Baukosten durch staatliche Auflagen der Heizungstechnik, der Dämmung oder durch bürokratische Hürden höher, dann werden auch nicht so viele neue Wohnungen gebaut. Steigen die Zinsen, deren Entwicklung die Notenbanken beeinflussen und die Regierung nur mittelbar über ihre Fiskalpolitik verändern kann, dann konterkariert dies ebenfalls die Entwicklung der Neubauten in Deutschland. Auf die lange Zeit unterbrochenen Lieferketten hatte die Regierung fast gar keinen Einfluss. Und dennoch werden diese Ziele selbstbewusst versprochen.

Friedrich August von Hayek hat in seiner Rede aus Anlass der Verleihung des Nobel-Gedächtnispreises in Wirtschaftswissenschaften 1974 in Stockholm über „die Anmaßung von Wissen“ gesprochen. Diese Rede ist heute noch sehr lesenswert, weil die Grundthese zur Bescheidenheit mahnt. Hayeks Rede ist eine Abrechnung mit der vorherrschenden ökonomischen Theorie, die auf mathematische Modelle beruht und deren „Ergebnisse“ und „Wahrheiten“ von Politiker anschließend übernommen werden. Gerade hier setzt Hayeks Kritik an. Da die Wirtschaftswissenschaften zu den Sozialwissenschaften zähle und eben keine exakte Naturwissenschaft sei, habe man es hier mit „Strukturen inhärenter Komplexität zu tun, d.h. mit Strukturen, deren wesentliche Eigenschaften nur durch Modelle mit einer verhältnismäßig großen Anzahl von Variablen dargestellt werden können.“ Da nicht alle Informationen von einem Menschen, einer Gruppe oder einer Regierung vorliegen können und dieses Wissen auch nicht vorhanden sein kann, können auch nicht die Abweichungen gemessen werden. In meinen Worten: sie sind immer falsch.

Das ist der Grund, warum ich gegenüber Langfristzielen und vermeintlich gesicherten Prognosen von Ökonomen grundsätzlich skeptisch bin. Das Gefährliche an ihnen ist, dass sie Regierungen und Parteien als Vorlage für ihre politische Agenda dienen. Sie sind oft die Basis für Eingriffe in die Vertragsfreiheit und das Eigentum. Diese „Wirtschaftsingenieure“ glauben, sie könnten eine Gesellschaft oder ein Wirtschaftssystem formen, an dieser oder jener Schraube drehen, damit dann später das richtige Ergebnis herauskommt. Dieser Trugschluss ist fatal, weil er eine „Anmaßung von Wissen“ bedeutet. Dieses Wissen hat Niemand – kein Bundeswirtschaftsminister und keine Bundesbauministerin. Es hat Niemand. Die Marktwirtschaft, oder besser der Kapitalismus, ist das Entdeckungsverfahren, das diese Komplexität ordnet und zu einem effizienten Ergebnis führt. Das geschieht eben nicht durch einen großen Plan einer Regierung, sondern es sind die einzelnen Pläne der Marktteilnehmer, die durch einen dauernden Prozess von Versuch und Irrtum zum „richtigen“ Ergebnis führen.

Wir verkennen oft, dass die Folgen von planwirtschaftlicher Politik meist im Heute nicht überprüfbar sind, sondern erst in vielen Jahren oder Jahrzehnten. Dann müssen diejenigen, die diese Ziele aufgestellt, Gesetze und Verordnungen darauf ausgerichtet, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbau organisiert und angestoßen haben, dafür nicht mehr geradestehen. Sie sind bestenfalls vergessen. Die Grundlage unseres Zusammenlebens und Wirtschaftens haben sie jedoch maßgeblich beeinflusst.

Was Friedrich August von Hayek uns lehrt, ist Demut: „Wenn der Mensch in seinem Bemühen, die Gesellschaftsordnung zu verbessern, nicht mehr Schaden stiften soll als Nutzen, wird er lernen müssen, dass er nicht volles Wissen erwerben kann, das die Beherrschung des Geschehens möglich machen würde.“