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Der Entscheid des Verfassungsgerichts zum Ampel-Haushalt schlägt hohe Wellen. Zu Recht: Denn der Haushalt war Betrug an der Öffentlichkeit. Der ungebremsten Staatsverschuldung muss endlich ein Ende bereitet werden.

Der Nachtragshaushalt war Betrug an der Öffentlichkeit

Die jüngste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungswidrigkeit des 60 Milliarden umfassenden Nachtragshaushaltes aus dem Jahr 2021 ist ein Entscheid, den vermutlich viele Generationen zukünftiger Jura-Studenten als Paradebeispiel für eine erfolgreiche Normenkontrollklage behandeln werden. Aus politischer Sicht offenbaren die 62 Seiten aus Karlsruhe den Gründungsfehler, an dem die aktuelle Regierung von Anbeginn leidet. Anstatt im Sinne des Kompromisses auf Ansprüche zu verzichten, sollte jede Partei möglichst viel abbekommen vom Haushaltskuchen. Um das zu finanzieren, wurde in aller Öffentlichkeit geschummelt. Das Gericht machte nun mehr als deutlich, dass die von der Regierung dargelegten Gründe zur Umwidmung des Corona-Sondervermögens in eines zur Klimatransformation fadenscheinig waren. Politisch betrachtet ist das weder bedauernswerter Fehler noch Versehen. Es ist schlicht ein dreister Betrug an der Öffentlichkeit.

Eine kurze Geschichte der Warnung vor Staatsverschuldung

Dass der Staat sich verschuldet, ist nichts neues. Und das Ausmaß auch nicht. Die Entstehungsgeschichte des britischen Empires beispielsweise ist eng verknüpft mit der Entwicklung des englischen Staates zum kreditfähigen Gläubiger. Ebenso wenig neu ist die Kritik am Konzept der Staatsverschuldung. David Hume beispielsweise widmete den öffentlichen Finanzen ein ganzes Essay „Of Public Credit“ und kommt zum Schluss: „entweder muss die Nation den öffentlichen Kredit zerstören, oder der öffentliche Kredit wird die Nation zerstören“. Hume war klar, dass die Möglichkeit zur Staatsverschuldung zu dem Problem führen würde, das wir heute als „Moral Hazard“ kennen. Demnach gehen politische Entscheidungsträger verantwortungslos mit den öffentlichen Finanzen um, da ja stets die Möglichkeit zur Kreditaufnahme besteht, für die sie persönlich nicht haften.

Zahlreiche von der Aufklärung beeinflusste Philosophen und Intellektuelle des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts sahen das ähnlich wie Hume. Aus der Erfahrung der absoluten Monarchie mit unbeschränktem Staatshandeln waren sie strikt gegen die Aufnahme von oder zumindest für eine Begrenzung der Staatsverschuldung. Und ihre Argumente könnten kaum aktueller sein.

So war Kant der Ansicht, die strukturelle Staatsverschuldung begünstige Kriege. Adam Smith und David Ricardo beobachteten, dass der Staat mit den Kreditmitteln unrentable Arbeit erhalte. Der erfolgreiche Geschäftsmann Ricardo geißelte regelmäßig Staatsverschuldung in seinen Reden als britischer Abgeordneter. Die frühen US-Präsidenten Thomas Jefferson und James Madison schließlich waren sich einig, dass Staatsverschuldung eine große Generationenungerechtigkeit darstelle. So schrieben Jefferson and Madison: „Keine Generation darf mehr Schulden aufnehmen, als sie während der Zeit ihrer Existenz zurückzahlen kann“.

Diese Denker und Politiker stehen heute in hohem Ansehen, aber orientieren will man sich doch nicht an ihnen. Die Staatsverschuldung entwickelte sich trotz ihrer Einwände in den letzten 200 Jahren bis auf wenige Ausnahmen nahezu ungebremst.

Überschuldet wie Schlecker, betrügerisch wie Enron

Die anhaltende massive Schuldenaufnahme hat viel mit dem kriegerischen 20. Jahrhundert zu tun. Schließlich mussten Zerstörung und Wiederaufbau nach zwei Weltkriegen finanziert werden. Aber das erklärt nicht alles. Zusätzlich wuchsen expansive Sozialstaaten heran. Die Zentralbanken erhielten das Mandat dafür, die Geldschöpfung von jedweder Hinterlegung zu entkoppeln. Und der Keynesianismus normalisierte die Staatsverschuldung als zyklischen Abschnitt gesunden Staatshandelns.

Mit Folgen:

Für das kommende Jahr prognostiziert das US-Finanzministerium Verbindlichkeiten allein für die Bedienung von Zinsen in Höhe von 76 Milliarden US-Dollar. Das macht die Zinslast zum drittgrößten Posten noch vor der Gesundheitsversorgung. Aber es gibt keinen Grund für deutsche Überheblichkeit. Im Bundeshaushalt für das Jahr 2024 sind sage und schreibe 36,7 Milliarden Euro für die Bundesschuld reserviert. Ebenfalls der drittgrößte Posten nach dem Etat der Sozial- und Verteidigungsministerien. In nicht mal zwei Jahren bringt der deutsche Steuerzahler also an Zinszahlungen auf, was jetzt die Regierung in Schieflage bringt. Zahlen, die bei jedem privaten Unternehmen den Insolvenzverwalter auf den Plan rufen würden – und die Staatsanwaltschaft gleich mit wegen des Vorwurfs der Insolvenzverschleppung.

Doch auch das ist nur die Spitze des Eisbergs. Das wahre Ausmaß des öffentlichen Bankrotts wird dem Steuerzahler und Wähler noch verschwiegen. Schließlich vergibt der deutsche Staat eifrig Renten- und Pensionsansprüche, die in die Billionen gehen, an seine stetig alternde Bevölkerung – und Wählerschaft. Einer der einflussreichsten aktuellen Kritiker von Staatsverschuldung, der US-Ökonom Niall Ferguson, nennt die Art und Weise, wie westliche Staaten heute haushalten, „um es ganz offen zu sagen, betrügerisch. Es gibt keine regelmäßig veröffentlichten und genauen offiziellen Bilanzen. Riesige Verbindlichkeiten werden einfach verschwiegen. Nicht einmal auf die aktuellen Einnahmen- und Ausgabenerklärungen kann man sich verlassen. Kein seriöses Unternehmen kann auf diese Art und Weise weiterarbeiten. Das letzte Unternehmen, das derart irreführende Jahresabschlüsse veröffentlichte, war Enron.“ Man mag heute hinzufügen: Oder die insolvente Krypto-Börse FTX.

Die Schuldenbremse wäre der erste Schritt

Womit wir wieder bei Bundeskanzler Scholz und seiner Regierung wären. Denn die Schuldenbremse mit Verfassungsrang ist der erste Schritt in die richtige Richtung – und global anerkanntes Vorbild. In einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat muss der primäre Wert von Verfassungen darin bestehen, die kurzfristigen Bedürfnisse einer Bevölkerung (und ihrer Vertreter) den langfristigen Erfordernissen unterzuordnen. Und genau darum geht es bei der Schuldenbremse. Die noch ungeborenen oder unmündigen Generationen müssen vor der Gier der aktuell Entscheidenden geschützt werden. Und Politikern muss Verantwortung für die Verwaltung der öffentlichen Kassen eingeimpft werden. Wenn sie den Staat ausweiten wollen, dann müssen sie dem Wähler wenigstens die richtige und transparente Rechnung dafür präsentieren. Selbst wenn das Steuererhöhungen bedeutet. Ehrlicher wären die allemal.

Wenn nun also eine Regierung eine Notlage konstruiert, um ebenjene verfassungsrechtlich verankerte Schuldenbremse auszuhebeln, dann ist das Betrug an der Öffentlichkeit. Dass die angeführte „Notlage“ zur Umwidmung der Corona-Schulden konstruiert war, verdeutlicht die Regierungserklärung des Bundeskanzlers, in der er den Bürgern verspricht, an ihrem Alltag werde sich nichts ändern. Beides zugleich geht allerdings nicht. Entweder das Land befindet sich in einer unmittelbaren Notlage – oder die Bürger spüren die „fehlenden“ 60 Milliarden nicht.

Statt nun eifrig nach neuen Notlagen zu forschen, um die Schuldenbremse dauerhaft auszuhebeln, sollten sich die politisch Verantwortlichen ein Beispiel an jenen nehmen, die sie regieren. Jede Familie, jedes Unternehmen versucht etwas für schwierige Zeiten zurückzulegen. Warum nicht, anstatt Schulden auf magische Weise in „Vermögen“ zu verzaubern, ein echtes Sondervermögen für die Bewältigung von Notlagen aufbauen? Denn wie David Ricardo sagte: „Was in jeder privaten Familie Klugheit ist, kann in einem großen Königreich kaum Torheit sein.“

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Zuletzt hat die Entscheidung einer glamourösen und streitfreudigen Bundespolitikerin, eine Partei mit ihrem eigenen Namen zu gründen, gezeigt, wie vielfältig oder auch: wie gespalten die Linke ist. Eine Variante der Linken ist derzeit besonders dominant: die ästhetische Linke.

Die Linke war oft dort, wo es wehtat – und packte an

Als im 19. Jahrhundert im Zuge der Demokratisierung erste politische Landkarten entstanden, wurden die Freunde des Überkommenen auf der rechten Seite des Parlaments untergebracht, und diejenigen, die Veränderung suchten, auf der Linken. Mit dem Aufkommen des Sozialismus, der Arbeitern, Armen und Entrechteten Anteil am Wohlstand verschaffen wollte, wurde auch selbiger dem Lager der Veränderungsfreudigen zugerechnet. Innerhalb weniger Jahrzehnte hatte er jedoch die Linke vollständig gekapert. Die bisher dort verorteten Liberalen und Progressiven suchten sich nun ihren Platz zwischen den Stühlen, in der Mitte. Links stand jetzt vor allem für den Kampf gegen Ausbeutung.

So katastrophale und menschenverachtende Politik auch unter dem roten Banner des Sozialismus betrieben wurde – nicht nur von Stalin, Mao und Ceausescu, sondern auch von Castro, Tito und Gaddafi –, man muss doch anerkennen, dass sehr viele Sozialisten ein echtes und leidenschaftliches Interesse daran hatten, das Leben von Menschen besser zu machen und eine von ihnen als gerechter verstandene Situation herzustellen. Das taten sie häufig unter hohen persönlichen Opfern. Vielen ließen sich inspirieren vom Selbsthilfe-Gedanken, der bei den frühen Anarchisten ebenso präsent war wie bei den vielen liberalen Theoretikern und Praktikern des Genossenschaftswesens. Diese Sozialisten waren bereit, nicht nur zu reden, sondern auch zu handeln. Sie unterstützten durch Versicherungen, Gewerkschaften, Bildungsvereine und Genossenschaften Menschen dabei, aus eigener Kraft ihr Leben zu verbessern. Sie waren dort, wo es wehtat, stank und schmutzig war. Und damit beglaubigten sie auf bemerkenswerte Weise ihre Überzeugungen. Sie hatten ein Ethos und lebten ihn.

Lifestyle-Linke, die kleinen Geschwister der Konservativen

Ohne zu sehr in eine früher-war-alles-besser-Nostalgie verfallen zu wollen, muss man doch bemerken: Im Jahr 2023 ist das alles nicht mehr so klar. Natürlich gibt es noch die Anpacker-Sozialisten. Aber gerade in westlichen Ländern, wo Wirtschaftswachstum und Wohlfahrtsstaatswachstum viele Formen der Armut beinahe ausgemerzt haben, sind sie mittlerweile zu einer sehr seltenen Spezies geworden. Vor allem in politischen Strukturen werden sie zunehmend verdrängt. Eine ganz andere Spezies Linker macht sich stattdessen breit in dem Raum, der vor zweihundert Jahren für die Freunde von Fortschritt, Befähigung und individueller Freiheit vorgesehen worden war. Es beschleicht einen das Gefühl, dass ihre Leidenschaft sich weniger darauf richtet, diese Welt zu einem besseren Ort zu machen. Vielmehr wenden sie ihre Energie auf, um sich selbst in ein besonderes Licht zu rücken, sich interessant zu machen, den eigenen moralische Wert ins Schaufenster zu stellen. Zugespitzt: ihre Präferenz liegt anscheinend deutlich in Richtung der Zahl an Herzchen bei Instagram.

Mit dieser Entwicklung gleichen sich diese ästhetischen Linken auf eigenartige Weise ihren konservativen Kontrahenten an. Denn ein wesentliches Merkmal vieler Konservativer ist ein Gefühl des Wohlgefallens am Eigenen: Mit satter Selbstzufriedenheit schaut man auf die eigenen Leistungen, den eigenen Stand, die eigene Integrität. Wandel, das Neue, das Fremde stören diese Kreise, bedrohen sie und jagen dem Konservativen Angst ein. Am Ende ist er ein Ästhet, der sich behaglicher dabei fühlt, zu betrachten als zu handeln. Und er weiß sich richtig, am perfekten Punkt in der Geschichte der Menschheit. Es gibt also gar keinen vernünftigen Grund, sich zu bewegen.

Selbsterklärte Linke im Spiegel der multimedialen Öffentlichkeit

Die ästhetischen Linken sind von ganz ähnlichen Emotionen durchdrungen. Sie erfreuen sich an sich selbst und ihrer moralischen Überlegenheit. Sie wissen sich am Höhepunkt und an der Spitze der moralischen Entwicklung der Menschheit. Und wie die Konservativen schauen sie mit satter Selbstzufriedenheit auf die eigenen Leistungen, den eigenen Stand, die eigene Integrität. In ihren Markenklamotten filmen sie sich mit ihren iPhones dabei, wie sie auf der großen Klimademo Tränen vergießen um unseren Planeten. Auf TikTok teilen sie Infografiken über wachsende Ungleichheit, während sie in der Vorlesung sitzen, die sie von Arbeitern und Handwerkerinnen kostenlos zur Verfügung gestellt bekommen. Ihr Palästinensertuch ist womöglich in Xinjiang hergestellt und das Reisebudget wird von Mami und Papi übernommen. Wo sie sind, da tut es nicht weh. Da stinkt es nicht. Da ist es nicht schmutzig. Und da bewegt sich nichts.

Diese Linke blickt nicht auf andere. Sie ist satt und selbstzufrieden bei sich selbst. Genauso wenig kann jedoch eine Bewegung wie das „Bündnis Sahra Wagenknecht“ für sich beanspruchen, der Gegenentwurf zu einer vorgeblich dem „Wokeismus“ verfallenen Linken zu sein. Endlich wieder bei den Leuten, endlich wieder Kümmerer. Dass dieses Versprechen nicht zutrifft, erkennt man schon an dem Personal, das sich um die Rampenfrau mit den 800.000 Euro Nebeneinkünften im Jahr sammelt. Es wird noch viel deutlicher, wenn man genau hinhört: Solidarität wird hier nicht mehr international buchstabiert – also ohne Ansehen der Person –, sondern national. Eine solche selbstbezogene Politik hat mit dem Humanismus der Frühsozialisten oder der Gewerkschaftsfunktionärin im Ruhrgebiet der 60er Jahre kaum etwas zu tun. Solidarität ist hier nur ein Schlagwort des Klassenkampfes – oder eher nur des Wahlkampfes.

In den Suppenküchen und Pausenräumen gegen Populisten

Wahlergebnisse wie in den Niederlanden, der Schweiz, Finnland oder Frankreich können einem Angst und Bange machen. Ebenso bevorstehende Landtagswahlen in Deutschland. Wie viel wäre doch gewonnen, wenn die Linke aus ihren ästhetischen Höhen herabsteigen würde. Wenn sie nicht mehr nur auf TikTok Ungerechtigkeit beklagt, sondern glaubwürdig machen würde, dass dieser Schmerz über das Elend anderer Menschen so real ist, dass es auch ihr Handeln bestimmt. Mehr Linke in den Suppenküchen, Pausenräumen der Supermärkte, Flüchtlingsunterkünften und Problemschulen könnten einer Alternative zu den Wagenknechts und Höckes dieses Landes glaubwürdig machen. Das gilt im Übrigen auch für Liberale, deren gedankliche und moralische Ursprünge ja nah bei denen der Linken liegen. Aber damit das funktioniert, muss einem der andere Mensch eben wirklich etwas bedeuten – und nicht Mittel zum Zweck der Selbstdarstellung sein.

 

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“Rein agitatorische, wichtigtuerische Propaganda”. So kommentierte der Metro Chef Steffen Greubel kürzlich eine Studie des Zentrums für europäische Wirtschaftsforschung (ZEW), welche sich dafür stark machte, den während der Corona-Pandemie eingeführten verringerten Mehrwehrsteuersatz für Gastronomiebetriebe wieder zu normalisieren. Selbst die sonst so zerstrittene Ökonomenzunft war sich in diesem Thema relativ einig: Mit dem Ende der Pandemie erlischt auch die Begründung für die geringere Besteuerung. Der Protest der Gastro-Lobby fand jedoch Anklang: Am 14. November forderte die FDP-Bundestagsfraktion ohne nennenswerte Begründung oder Verweis auf andere Studien, die reduzierte Mehrwehrsteuer in der Gastronomie beizubehalten.

Diese Diskrepanz zwischen wissenschaftlichen Einschätzungen und politischen Entscheidungen ist auch der Inhalt eines neuen Gutachtens des paneuropäischen Netzwerks EPICENTER. Aus der Perspektive von zehn europäischen Ländern werden die nationalen Herausforderungen aktueller evidenzbasierter Politik in jeweils vier Themenblöcken betrachtet. Prometheus hat die deutsche Perspektive beigetragen. Eine evidenzbasierte Politik, die individuelle Freiheiten respektiert und aktuelle Erkenntnisse aus der Wissenschaft berücksichtigt, ist der Grundstein für ein prosperierendes Deutschland. Anhand der Bereiche der Energie-, Industrie-, Bildungs-, und Lifestylepolitik wird in dem Gutachten exemplarisch dargelegt, wie evidenzbasiert die Maßnahmen der deutschen Politik sind. Zudem werden die Maßnahmen auch nach ihrer Robustheit beurteilt. Politische Maßnahmen sind robust, wenn diese auch dann funktionieren, wenn Menschen in der Gesellschaft keine vollständigen Informationen haben und nicht immer altruistisch handeln. Robuste Politik ist somit auch schwerer von Interessengruppen beeinflussbar.

In der Energiepolitik verschleppen temporäre Subventionen des Strompreises wie der Industriestrompreis notwendige Maßnahmen für Forschung, Entwicklung und Investition in erneuerbare Energieformen. Anstatt einzelne Branchen oder Unternehmen zu fördern, gilt es, die staatlichen Investitionen in die gesamte Energieinfrastruktur zu erhöhen. Dank des technologischen Fortschritts sind staatliche Subventionen für die Stromerzeugung erneuerbarer Energien wie Solar- und Windenergie nicht mehr notwendig. Erst kürzlich wurden 12,6 Milliarden Euro geboten für das Recht, 7GW durch offshore-windparks in der Nordsee generieren. Der private Business-Case für erneuerbare Energien ist seit Langem schon positiv, weshalb staatliche Investitionen kaum noch gebraucht werden. Die Transport- und Speicherinfrastruktur hingegen muss in den kommenden Jahren stark ausgebaut werden, was auch staatliche Investitionen erfordert.

Für die Ausweitung des Stromangebots in Deutschland ist zusätzlich eine Beschleunigung zahlreicher Planungsverfahren wie bereits im Erneuerbare-Energien-Gesetz vorgesehen begrüßenswert. Der Planungs- und Genehmigungsprozess der Südlink-Trasse dauerte beispielsweise zehn Jahre, auch weil sich immer wieder Initiativen fanden, die den Bau der Trasse boykottierten. Verkürzt man den Konsultationszeitraum der Interessengruppen kann man sowohl den Interessenausgleich zwischen verschiedenen Parteien wahren als auch effizienter planen. Aus den Best-Practice-Beispielen anderer europäischer Länder mit geringerem Strompreis lässt sich ebenso ableiten, dass ein Wiedereinstieg in die Atomkraft zumindest in Betracht gezogen werden sollte.

In der Industriepolitik sollten die Maßnahmen breit gefächert sein. Anstatt einzelne Unternehmen zu bevorzugen, sollte der Wettbewerb innerhalb einer Branche mittels breiter Strukturmaßnahmen gesteigert werden. Als Klimaschutz getarnte Milliardensubventionen an Chiphersteller in Dresden und Magdeburg sind teure industriepolitische Sonderwege ohne großen Nutzen. Des Weiteren muss evaluiert werden, ob monetäre Subventionen bei Zukunftstechnologien stets der beste Weg sind. Insbesondere in Zeiten der gestiegenen Zinsen und der somit steigenden Kosten der Staatsverschuldungen haben andere Möglichkeiten der Förderung zusätzlich an Attraktivität gewonnen. Der Net Zero Industrial Act der EU zeigt beispielsweise, dass auch der Zugang zu beschleunigten bürokratischen Entscheidungsverfahren oder verbesserte Abschreibungsregeln als industriepolitische Maßnahmen fungieren können.

In der Bildungspolitik sollte man von der Idee eines zentralstaatlich gesteuerten Bildungssystems abrücken. Das mittelmäßige Abschneiden Deutschlands in vielen internationalen Vergleichen demonstriert den Handlungsbedarf. In einer evidenzbasierten Schulpolitik bietet der Staat die Rahmenfinanzierung, belässt aber die didaktischen, pädagogischen und inhaltlichen Entscheidungen bei der Schule. Ein praktisches Model der Implementierung bietet beispielsweise Schweden, wo die Eltern mittels Bildungsgutscheinen über die Schulwahl ihrer Kinder entscheiden können.

In Fragen der Lifestyle-Regulierungen sollte man sich bei der Besteuerung von Alkohol der effizienten Prävention schädlichen Alkoholkonsums widmen, während man fiskalische Betrachtungen nicht außer Acht lässt. Ein Steuersystem, welches alkoholische Produkte auf Basis der Kaufpräferenzen von Konsumenten mit schädlichen Konsumverhalten besteuert, wird dem Ziel der Prävention von schädlichem Alkoholkonsum besser gerecht als eine pauschale Mengensteuer. Zusätzlich sollte sich die Besteuerung von neuartigen Tabakprodukten stärker an der tatsächlichen Schädlichkeit dieser Produkte orientieren.

Auf Basis dieser Betrachtungen ist zu konstatieren, dass Deutschland in vielen Bereichen politische Vorschläge nicht auf Basis empirischer Evidenz trifft. Die hier skizzierten Maßnahmen sind nur einige exemplarisch genannte Vorschläge hin zu einer evidenzbasierteren Politik. Grundsätzlich bleibt somit zu hoffen, dass die zukünftigen politischen Debatten sowohl die Erkenntnisse aktueller empirischer Forschung als auch die robuste Ausgestaltung dieser in politischen Maßnahmen stärker zur Kenntnis nehmen.

Lesen Sie das gesamte Gutachten hier.

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Der demokratische Staat bevorteilt kleine Interessengruppen. Deshalb sollten gerade diejenigen, denen die Armen am Herzen liegen, eine größere Staatsskepsis an den Tag legen.

Es ist ein schmaler Grat zwischen gesunder Staatsskepsis und abgedrehtem Außenseitertum. „Steuern sind Diebstahl!“ zitieren radikale Libertäre gern den Vordenker der anarchokapitalistischen Bewegung Murray Rothbard. Doch wie weit bringt sie die häufig überheblich vorgetragene Abwertung aller Staatlichkeit? Im Wettbewerb der Ideen erzeugen „Ancaps“ im besten Fall nachsichtiges Achselzucken. Dabei wäre eine maßvolle Staatsskepsis gerade das Gebot der Stunde. Und sie sollte endlich einmal nicht von den üblichen Verdächtigen vorgetragen werden. Viel mehr als der Feind des Porschefahrers ist der Staat nämlich ein Verräter an den Armen einer Gesellschaft. Sie lässt der Staat links liegen und gibt sich dabei noch den Anschein der sozialen Gerechtigkeit. Gerade die Linke, die sich traditionell als Vertreterin der Benachteiligten sieht, sollte deshalb aufhören, mit dem Staat zu kuscheln, und zurückkehren zu ihren anarchischen Wurzeln. Getreu dem Arbeiterkampflied „Die Internationale“ von 1871: „Es rettet uns kein höh’res Wesen, kein Gott, kein Kaiser noch Tribun“.

Nicht Robin Hood, nicht Stationary Bandit …

Linke glauben gerne, der moderne Staat wäre eine Art Robin Hood. Eine gerechte Umverteilungsmaschinerie, die den Reichen nimmt, um den Armen zu geben. Ein von Gutmeinenden in die rechte Richtung gesteuerter sanfter Leviathan. Es ist vermutlich der klügste Schachzug von Konservativen seit Bismarck, sie in diesem Glauben zu bestärken. Um den wahren Charakter des Staates zu erkunden, lohnt ein Blick in das umfangreiche Werk des Amerikanischen Ökonomen und Sozialwissenschaftlers Mancur Olson.

Auf der Suche nach einer schematischen Begründung für die Entstehung von Staaten, beschreib Olson die Phänomene von „roving and stationary bandits“, also umherziehenden und sesshaften Räubern. In einer anarchischen Welt, in der das Recht des Stärkeren gilt, zögen roving bandits durchs Land , um aus der wehrlosen Bevölkerung so viel wie möglich an Gütern zu extrahieren. Dieser Naturzustand halte so lange an, bis ein roving bandit sesshaft und zu einem stationary bandit werde. Als solcher, hätte er nicht nur ein egoistisches Motiv, „seine“ Bevölkerung am Leben zu lassen und vor anderen roving bandits zu schützen. Er stelle gar elementare öffentliche Güter bereit, um die Produktivität und damit das Steueraufkommen seiner Bevölkerung zu steigern. Auf diese Weise werde der Weg in die Zivilisation geebnet.

Alles Räuber? Also sind Steuern doch Diebstahl?

In von Autokraten und Despoten, sprich stationary bandits, regierten Ländern ist Diebstahl an der Bevölkerung tatsächlich eine treffende Beschreibung der Staatsordnung. Man führe sich nur den aberwitzigen Reichtum der Putins und Kim Jong Uns dieser Welt vor Augen. Doch glücklicherweise leben wir in einer gefestigten und von den Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung geleiteten Demokratie. Eine Staatsordnung, die, wenn sie nicht nur zum Schein besteht, Eigentumsrechte effektiv schützt und Bereicherung im Amt nahezu ausschließt. Olson sieht deshalb den demokratischen Staat nicht nur aufgrund seiner bürgerrechtlichen Vorteile jedem autokratischen System gegenüber überlegen, sondern auch aus wirtschaftlicher Sicht. Diese Fragen wurden auch nach seinem frühen Ableben im Jahr 1998 weiter akademisch diskutiert, zum Beispiel in den eindrucksvollen Forschungen des Ökonomen Daron Acemoglu.

… sondern Spielball kleiner Interessengruppen

Wie lässt sich dann also gesunde Staatsskepsis begründen – oder gar als Gebot der Stunde fordern? Werfen wir einen Blick in Olsons Hauptwerk: In „Die Logik des kollektiven Handelns“ zeigt er, warum kleine Interessengruppen größeren an Wirkungsmacht deutlich überlegen sind. Je größer die Interessengruppe, desto größer ist auch der Anreiz zum Trittbrettfahren, will heißen, dass das Individuum nichts beiträgt, aber gleichzeitig mit abkassiert. Zudem sind Trittbrettfahrer in großen Gruppen weitaus weniger sichtbar, größere Gruppen haben höhere Organisationskosten als kleine und erzeugen für den einzelnen weniger Mehrwert. Olson stellt deshalb fest, dass in einer Demokratie nicht die Tyrannei der Mehrheit die große Gefahr sei, sondern diejenige der gut organisierten Partikularinteressen.

Und das kann Anlass geben für eine gesunde Staatsskepsis in Deutschland. Nicht weil der Staat etwa von Natur aus böse sei oder seine Bürger ausraube. Nein: das Problem ist, dass das stetig größer werdende demokratische Staatswessen kleinsten Interessengruppen überbordende Macht gibt.

Der Staat ist nicht der Freund Armen, sondern der Wunderlichen

„Die Armen“ sind deshalb in einer besonders schlechten Position in einem ausufernden demokratischen Staatswesen. Wenn Deutschland auch ein reiches Land ist, gibt es trotzdem ein erhebliches Maß an Menschen in prekären Situationen. Ganz zu schweigen von den fehlenden Ressourcen ist das Trittbrettfahrer- und das Organisationsproblem gigantisch. Ganz anders bei den Kleinen und Wunderlichen. Da ist beispielsweise der Bauernverband, der bisher erfolgreich das Freihandelsabkommen zwischen der EU und Lateinamerika ausbremst und damit den Import von günstigerem Fleisch verhindert. Oder der Apothekerverband, der mit Zähnen und Klauen die Preisbindung für verschreibungspflichtige Medikamente verteidigt, und damit den Verbraucher vor „ruinösem Wettbewerb“ schützt. Der „Verband klassischer Homöopathen Deutschlands“ hat es sogar zuwege gebracht, dass komplett wirkunglsose kleine Zuckerkügelchen von den Krankenkassen als Arzneimittel bezahlt werden – auf Kosten der Sozialversicherungszahler. Diese Liste lässt sich beliebig weiterführen: Der Aufstand der Taxis gegen den günstigen Fahrdienstleister Uber, die als „Industriepolitik“ getarnte Milliardensubventionierung großer Konzerne, die schleichende Enteignung der Kleinsparer durch die Inflations- und Schuldenpolitik … Fast immer schützen effektive Kleingruppen ihre Interessen auf Kosten derer, die es sich am wenigsten leisten können.

Das einzige wirkungsvolle Mittel gegen die Tyrannei der Wunderlichen ist es, Staatshandeln substantiell einzuschränken. Es braucht das Bewusstsein, dass jede Regulierung auch einen Profiteur hat und dass dieser, anders als öffentlich dargestellt, in der Regel nicht „der Verbraucher“ oder „Otto Normalbürger“ ist. Der Staat und sein Handeln verdienen unsere Skepsis. Nicht weil wir ihn ablehnen, sondern weil er einigen wenigen zu viel Macht gibt.

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Immobilienblasen, Kreditflut, Überhitzung und ein paar externe Schocks. Der „Gründerkrach“ 1873 führte zu einer längeren Phase der Stagnation. Viel dramatischer als die wirtschaftlichen waren aber die politischen Folgen. Die Parallelen zu heute sind fast gespenstisch.

Morgen ließ nicht mehr hoffen

Am „Schwarzen Freitag“, dem 9. Mai 1873 kam die gewaltige Wiener Börse ins Rutschen: 120 von 141 österreichischen Banken gingen an diesem Tag Pleite. Die Schockwellen überquerten den Atlantik, wo Ende September die New Yorker Börse für über eine Woche schließen musste. Und als im Oktober 1873, also ziemlich genau vor 150 Jahren, die Quistorp’sche Vereinsbank in Berlin Insolvenz anmelden musste, wurde es auch für deutsche Anleger und Unternehmen sehr ungemütlich. Das gigantische Wirtschaftswachstum wurde massiv ausgebremst, das durch die Gründung des Norddeutschen Bundes 1867 und des Deutschen Reiches 1871 in Gang gebracht worden war; durch eine liberale Zollpolitik und laissez-faire-Kapitalismus; durch eine globale Boomphase – und auch durch den Zustrom der gigantischen französischen „Reparationen“ von 1.450 Tonnen Feingold.

Auf den Gründerkrach folgten Jahre der Stagnation. Nicht nur wirtschaftlich, sondern auch mental. Wie der Historiker Lothar Gall in seinem Buch „Bismarck. Der weiße Revolutionär“ beschreibt, „begannen jene, die etwas zu verlieren hatten, am Bestehenden, an dem festzuhalten, was vielen gestern noch als eine bloße, rasch zu durchschreitende Durchgangsstation auf dem Weg in eine glänzende Zukunft gegolten hatte.“ Tatsächlich endete eine Epoche freudiger Erregung auf das Morgen. Es endete eine Epoche, in der über mehrere Jahrzehnte hinweg ganz Europa ein wachsendes Freihandelsregime gesehen hatte. Und es endete eine Epoche, in der das freie Spiel der Individuen das bestimmende Paradigma war.

Deutschtümelnde Lobbyisten

Sowohl die maßgeblichen Politiker als auch die Bevölkerung reagierten wie es oft in Krisenzeiten passiert: indem sie sich den sicheren, beherrsch- und überschaubaren Lösungen zuwandten anstatt mutige Reformen in den Blick zu nehmen. So kam es bald zu einer umfassenden Wende in der Handelspolitik. Die heimische Wirtschaft sollte gestärkt werden und unabhängig gemacht von den Einflüssen fremder Akteure wie global tätigen Spekulanten und Börsen. Das führte zwar zu höheren Preisen: so lag etwa der Preis für Getreideprodukte um 1900 bei 130 Prozent des Weltmarktpreises. Doch diese Entwicklung wurde durch die richtigen Narrative bei Weitem überdeckt. Gemeinsam mit der Entdeckung des Deutschtums hielten Bilder von Ähren sammelnden Germanen Einzug in die öffentliche Wahrnehmungsarena. In Dichtung und Lied wurde die Bilderwelt der Romantik aufgewärmt und poliert, und Natur, Heimaterde und gesunde Volkeskraft bestimmten das Selbstverständnis. „Aus Deiner Region“ trug damals nicht Birkenstock, sondern Pickelhaube, erzeugte aber ähnliches Wohlempfinden.

Wie so häufig waren diese Erzählungen die ideale Deckung für knallharten Lobbyismus. Es war ein perfektes Match. Industriemagnaten und ostelbische Junker schwangen sich auf die Antiglobalisierungswellen. Nicht nur die neu eingeführten Schutzzölle kamen ihnen zugute. Vereinigungen wie der Centralverband Deutscher Industrieller lobbyierten für einen bunten Strauß interventionistischer Gefälligkeiten. Ins Gewand der neuen deutschen Größe gehüllt präsentierte man die partikulare Interessenpolitik jetzt als Wohltat für Volk und Vaterland, als Booster nationaler Schlagkraft. Zusammenstehen war jetzt mehr angesagt als Wettbewerb; Kongruenz statt Konkurrenz. So begann die Hochphase von Kartellbildung und Korporatismus im Kaiserreich, die zu einer toxischen Mischung werden sollte, die entsetzlichen Entwicklungen den Boden bereitete.

Die Sündenböcke: Juden, Sozialisten und Liberale

Der schmerzhafte Crash konnte in der Situation selbst nur von wenigen als die erwartbare Konsequenz einer Überhitzung begriffen werden. Frust und oft auch Verzweiflung der unmittelbar Betroffenen suchte sich Sündenböcke. Am härtesten traf es „die Juden“. Antijudaistische Stereotypen vieler Jahrhunderte wurden zunehmend zu antisemitischer Hetze verschärft. „Die Juden sind unser Unglück“ schillerte in den verschiedensten Farben: Spekulanten, heimatlose Globalisten und finstere Gesellen mit undurchschaubaren Absichten. Aber auch die „Sozialisten“ bekamen ihr Fett ab mit der nach ihnen benannten Gesetzgebung. Auch wenn die wohl kaum an der Entstehung von Kreditblasen beteiligt waren, nutzten Bismarck und seine Verbündeten die Gunst der Stunde, dass viele im Land Angst und Wut zum Kanalisieren vorrätig hatten.

Schließlich kam auch der Liberalismus in Deutschland in jenen Jahren so vor die Hunde, dass er sich bis heute noch nicht wieder wirklich erholt hat. In der Zeit nach dem Scheitern der Revolution von 1848 hatte sich nämlich in Deutschland eine intellektuell höchst fruchtbare und lebendige liberale Szene gebildet. Publizisten wie Max Stirner und Julius Faucher trugen bei zur Entstehung des Individualanarchismus und erreichten mit ihren Zeitschriften ein breites Publikum. Unternehmer nutzten den freien Markt nicht nur, sie verstanden und begrüßten ihn. Visionäre Köpfe wie Hermann Schulze-Delitzsch und Franz Duncker machten durch Genossenschaften und freie Gewerkschaften Selbstorganisation zum Standard gesellschaftlicher Problemlösung. Und eine muntere Truppe von glühenden Anhängern des Freihandels mischte sowohl die volkswirtschaftliche als auch die parteipolitische Szene gehörig auf.

Die Leidenschaft für die Freiheit hatte keinen Platz mehr

Die nach dem Gründerkrach um sich greifende gesellschaftliche Panik ebenso wie die Verlockungen der Macht rissen diese liberale Bewegung in viele Stücke auseinander. Manchesterliberalismus wurde zum Kampfbegriff. Liberale Parteien zerstritten sich bitterlich und spalteten sich in regelmäßigen Abständen. Unter Führung von Bismarck wurden Organisationen der eigenständigen und kollaborativen Selbsthilfe, die von liberalen und sozialdemokratischen Aktivisten über lange Zeit aufgebaut worden waren, verstaatlicht. An die Stelle des unternehmerischen Ethos in jeder gesellschaftlichen Schicht trat eine nervöse Überideologisierung, die sich an antisemitischen und anderen Verschwörungstheorien weidete, und Etatismus, Nationalismus und Militarismus in die Köpfe und Herzen einziehen ließ. Das liberale Argument und die Leidenschaft für die Freiheit hatten keinen Platz mehr in diesem Deutschland.

Der Gründerkrach und seine politischen Folgen sind eine bleibende Mahnung an Liberale in Deutschland, ganz besonders in zweierlei Hinsicht: Erstens zeigt diese Episode, wie ungeheuer wichtig es ist, intellektuell vorbereitet zu sein für Krisenzeiten. Man muss in der Lage sein, eine Krise zu erklären und Auswege aufzuzeigen, sonst überlässt man den Verschwörungstheoretikern und den rechten oder linken Ideologen dieses Feld. Und man muss zweitens Kurs halten. Denn die Spaltung der Liberalen und damit ihre Marginalisierung im öffentlichen Raum hatte auch damit zu tun, dass viele dachten, durch Zugeständnisse an die Konservativen und Bismarck etwas von dem retten zu können, was ihnen so lieb war. Womöglich wäre ihnen das eher gelungen, wenn sie für ihre Ideale standfest eingestanden wären. Stattdessen machten sich viele zu Steigbügelhaltern einer zutiefst illiberalen Politik, die katastrophale Folgen zeitigte. Das muss uns eine eindringliche Warnung sein.

Zur vertieften Lektüre empfehlen sich von Fritz Stern „Das Scheitern illiberaler Politik. Studien zur politischen Kultur Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert“, von Lothar Gall „Bismarck. Der weiße Revolutionär“, von Sebastian Haffner „Von Bismarck zu Hitler“ sowie von Ralph Raico „Die Partei der Freiheit. Studien zur Geschichte des deutschen Liberalismus“.