Photo: Tony Bowden from Flickr (CC BY-SA 2.0)

Von Norbert F. Tofall, Senior Research Analyst des Flossbach von Storch Research Institute.

Angesichts hoher Inflationsraten sind die hohen Gehaltsforderungen der Gewerkschaften verständlich. Der von den Zentralbanken in den letzten Jahren erzeugte Geldüberhang hat sich infolge der Corona-Krise und durch die weltweiten Folgen des Ukraine-Krieges bis zu den Konsumenten durchgefressen. Erzeugte bis zur Corona-Krise die Null- und Niedrigzinspolitik der Zentralbanken und ihre Anleihekaufprogramme Vermögenspreisinflation und damit Scheinwohlstand, trifft nun der dadurch erzeugte Geldüberhang den Verbraucher in Form von Konsumgüterpreisinflation, zumal die Zentralbanken ein rechtzeitiges Gegensteuern versäumt haben. Ob und wann die Zentralbanken durch Zinserhöhungen und eine Beendigung der Anleihekaufprogramme die Inflation in den Griff bekommen werden, ist offen.

Im Euro-Raum kommt erschwerend hinzu, dass die Schuldentragfähigkeit einiger Euro-Mitglieder und insbesondere die von Italien durch die Zinserhöhungen erheblich belastet werden und dadurch der Zusammenhalt der Eurozone erneut unter Druck gerät. Die Europäische Zentralbank hat für diesen Fall zwar ein neues Anleihekaufprogramm namens Transmission Protection Instrument (TPI) zu ihren geldpolitischen Instrumenten hinzugefügt, um im Bedarfsfall italienische und andere Staatsanleihen ankaufen zu können; eine Nutzung des TPI würde jedoch die Inflationsbekämpfung konterkarieren oder zumindest verlangsamen.

Angesichts dieser makroökonomischen Lage und der Ungewissheit, wann der Kampf gegen die Inflation gewonnen wird, dürften Lohnzurückhaltungsappelle an die Gewerkschaften ungehört verklingen. Eine verstärkte Lohn-Preis-Spirale droht. Die eigentlichen Verursacher der Lohn-Preis-Spirale sind jedoch nicht die Gewerkschaften, sondern die Zentralbanken und die schuldenintensive Fiskalpolitiken der Regierungen.

Nun wird man in Deutschland kaum Gewerkschaften finden, die sich gegen die Geldüberhang erzeugende Politik der Zentralbanken und die Schuldenorgien der Regierungen wenden, geschweige denn zu Streiks gegen diese kaufkraftmindernden Politiken aufrufen. Zum einen verorten sich die meisten deutschen Gewerkschaften selbst allein schon aus Gründen der hiesigen politischen Kultur nicht auf der Seite von Austerität und Geldwertstabilität. Zum anderen sind in der Bundesrepublik Deutschland Streiks, die der Durchsetzung politischer Ziele dienen, verboten.

Ein Streik ist die Niederlegung der Arbeit durch eine Gruppe von Arbeitnehmern, um ein gemeinsames Ziel im Rahmen des Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisses zu erreichen. Diese kollektive Niederlegung der Arbeit verletzt in Deutschland dann nicht die arbeitsvertraglich geschuldete Arbeitspflicht, wenn sie im gesetzlichen Rahmen des kollektiven Arbeitsrechts erfolgt. Die im Artikel 9 Absatz 3 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland garantierte Koalitionsfreiheit und die in diesem Zusammenhang genannten Arbeitskämpfe bedeuten zudem nicht, dass für jeden beliebigen Zweck gestreikt werden kann, sondern versteht sich immer in Bezug auf die gesetzlich geregelte Tarifautonomie und damit auf das Arbeitsverhältnis. Eine Niederlegung der Arbeit, um beispielsweise allgemeine Forderungen zum Klimaschutz zu erheben, ist rechtswidrig.

Allgemein stellt sich die Frage, wie weit das Handeln von kollektiven Akteuren wie Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden gehen darf. Denn durch einen Streik wird oftmals nicht nur der Arbeitgeber geschädigt, sondern auch Dritte, die mit den Tarifauseinandersetzungen nichts zu tun haben. Bei Pilotenstreiks oder Lokführerstreiks ist diese Wirkung auf Dritte der eigentliche Machthebel im Arbeitskampf: „Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will …“ Aber ist das auch legitim? Oder genauer gefragt: Welches Handeln im Rahmen von kollektiven Arbeitskämpfen ist mit dem Schutz der individuellen Freiheit aller Bürger vereinbar und welches nicht? Wer darf wen zu was zwingen? Und welche Schädigungen Dritter sind zumutbar und verhältnismäßig?

Diese Fragen sind alles andere als eindeutig beantwortbar. Würden beispielsweise Streiks generell verboten, dann könnte das die Arbeitnehmer in eine Situation führen, in welcher sie bei Tarifverhandlungen nur mit Kündigung und Abwanderung auf einen anderen Arbeitsplatz drohen können. Und genau diese Marktlösung sollte durch den von den Arbeitgebern im Kaiserreich erfundenen Flächentarif verhindert werden, als sich Arbeiter erdreisteten, bei einem Arbeitsplatzwechsel vom neuen Arbeitgeber mehr Lohn zu fordern. Heute sind bei anderen Marktbedingungen die Gewerkschaften die Verteidiger von Flächentarifverträgen. Zudem grenzen in den letzten Jahren die Streiks von Spartengewerkschaften wie den Piloten und den Lokführern an Nötigung, bei der die ganze Gesellschaft in Geiselhaft genommen wird. Als ordnungspolitisches Entscheidungskriterium könnte die Machtfrage herangezogen werden: Welche Arbeitnehmer- und welche Arbeitgeber-Kartelle verhindern bei welchem Regelsetting wohlfahrtssteigende Marktlösungen? Wer missbraucht seine Macht? Und wie müssen die Regeln gesetzt werden, so dass Machtmissbrauch verhindert wird?

Vermutlich muss in die Details des kollektiven Arbeitsrechts eingestiegen und kritisch geprüft werden, wer warum welche Verhandlungsmacht hat und ob diese in einer hochkomplexen, mobilen und arbeitsteiligen Gesellschaft noch zu rechtfertigen sind. Auch müsste das Verhältnis von kollektivem und individuellem Arbeitsrecht betrachtet werden. Mögliche Einschränkungen des Streikrechts – zum Beispiel für spezifische Berufs- und Spartengewerkschaften – könnten durch eine Verbesserung der rechtlichen Stellung des Arbeitsnehmers im individuellen Arbeitsrecht kompensiert werden.

Aber wie auch immer diese Fragen zukünftig beantwortet werden sollten, die Hauptursache für die heutigen Streiks und die drohende Lohn-Preis-Spirale wird durch Änderungen des Streikrechts nicht berührt: Inflation, die durch die Geldpolitik der Zentralbanken und die ausufernden Staatsschulden erzeugt und dann nicht rechtzeitig bekämpft wurde. Durch eine sich verstetigende Inflation wird die Streikneigung und Streikhäufigkeit weiter zunehmen. Dass das zu englischen Verhältnissen wie in den 1970er Jahren in Großbritannien führen kann, liegt auf der Hand. Angesichts des Ukraine-Kriegs, angesichts der sich zuspitzenden Systemrivalität mit China und angesichts des Strukturwandels der Globalisierung kann sich Europa eine englische Krankheit wie die der 1970er Jahre nicht leisten. Der Schlüssel für die Verhinderung einer neuen englischen Krankheit liegt jedoch nicht im Streikrecht, das durchaus reformiert gehört, sondern in der konsequenten Inflationsbekämpfung.

Erstmals erschienen bei Austrian Institute.

Photo: Deutsche Fotothek from Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0 DE)

Es ist Sonntag, der 26. März 2023, im schönen Halle an der Saale. Gemeinsam mit Hunderten anderer Junger Liberaler bin ich für unseren Bundeskongress angereist. Jetzt sitzen wir in einem Saal und diskutieren mehr als 30 Jahre nach der Wiedervereinigung mitten in der ehemaligen DDR einen Antrag, der fordert, DDR-Symbole zu verbieten. Viele Argumente werden ausgetauscht, am Ende wird der Antrag abgelehnt. Die Begründung: Ja, die DDR sei eine grauenvolle Diktatur gewesen, aber der Staat könne nicht alle Diktatur-Symbole verbieten. Dass die DDR ausschließlich schlecht war, wird in der Debatte nicht in Frage gestellt.

Ich verlasse diesen Kongress mit einem seltsamen Gefühl und mache mich auf den Weg in meine Heimat Sachsen-Anhalt, die Familie besuchen. Wie die anderen Kongressteilnehmer auch, kenne ich die Darstellung der DDR aus dem Geschichts-Lehrbuch. Sie war eine Diktatur, Menschen wurden bespitzelt, eingesperrt und getötet. Dann wiederum kenne ich die Erzählungen meiner Eltern und Großeltern, Erzählungen von DDR-Zeitzeugen, die viele andere vermutlich nicht kennen. Definitiv sind diese nostalgischen und vollkommen subjektiven Berichte mit Vorsicht einzuordnen. Doch bin ich überzeugt, dass es mehr denn je notwendig ist, sie anzuhören, wenn wir dafür sorgen wollen, dass die Mauer, die immer noch im Kopf vieler Menschen besteht, Stück für Stück abgebaut wird.

Meine Mutter frage ich noch an diesem Sonntag Abend beim Essen: „Was wolltet ihr damals eigentlich am liebsten haben?“ Die Antwort sei einfach. „Bananen“ sagt sie. Wenn es Bananen gab, standen die Leute vor dem Laden Schlange. Und auch nach dem Mauerfall seien Menschen mit ihren leeren Trabis nach Westberlin gefahren und mit vollen Trabis zurückgekommen – voll bis unters Dach mit Bananen. Ich muss schmunzeln. Bei all den Dingen, die den Menschen hier gefehlt haben, ist die Banane zum Symbol der Marktwirtschaft geworden. Und nicht nur zum Symbol der Marktwirtschaft, sondern zum Symbol für die Vorzüge internationalen Handels, offener Grenzen, Wachstums, kurzum zum Symbol des „Kapitalismus“. Zurecht: Denn wie viele Produktionsschritte, wie viele Handelsabkommen und wie viele Freiheiten braucht es, damit es die Banane von der Plantage bis auf den deutschen Küchentisch schafft? Dagegen ist es doch verhältnismäßig einfach, mit nur einer Freiheitseinschränkung diesen langen Weg zu unterbrechen. Eine ganze Nation hat Hunger – auf Freiheit.

Es bestätigt sich also, dass die damaligen DDR-Bürger im Kern das marktwirtschaftliche System herbeiwünschten, einige womöglich heute noch, ohne es zu wissen. Wenn man sie fragt, bestreiten viele das auch nicht. Mein Großvater erzählt von seiner Mutter, die einen Laden führte, in dem es an seltenen, glücklichen Tagen auch mal Bananen gab. An deutlich mehr Tagen gab es Erdbeeren. Voll Stolz erklärt er, der Laden seiner Mutter sei immer so gut gelaufen, weil sie gewusst habe, was die Menschen gerade essen wollten. Sie habe in der Erdbeer-Saison einfach einen Deal mit dem Bauern aus dem Nachbardorf gemacht und mehr Erdbeeren bestellt als planmäßig vorgeschrieben. Wieder standen die Leute Schlange.

Und während privatwirtschaftliche Unternehmen in einem sozialistischen System gar nicht hätten existieren sollen, gab es sie doch. Und mehr noch, sie haben besser funktioniert als propagiert. Mein Großvater stimmt mir vorbehaltlos zu: Unternehmertum, dafür brauche man ein gewisses Gespür. Der Staat könne das nie imitieren, meint er. Von Enteignungen hält er übrigens auch nichts, das sei Diebstahl, er habe es erlebt.

Wem nun noch nicht klar ist, dass DDR-Bürger den Markt geliebt haben, der sollte sich einmal mit der schieren Größe des damaligen Schwarzmarktes beschäftigen. Fast alles wurde unter der Hand gehandelt, von Lebensmitteln bis hin zu Fliesen. Und ein großer Teil der Arbeit wurde unnotiert verrichtet. Denn was hat der Staat sich einzumischen, wenn der Nachbar einem das Zimmer renoviert oder die Tante einer Freundin einem die Haare schön macht?

An diesem Verhalten lassen sich zwei essentielle Charaktereigenschaften der ehemaligen DDR-Bürger beobachten: Gemeinschaftssinn und Staatskritik. Gemeinschaftssinn, das ist interessanterweise das, was viele von ihnen heutzutage vermissen. „Wenn du alles kaufen kannst, musst du deinen Nachbarn nach nichts mehr fragen“ erklärt mir meine Mutter. Umgedreht bedeutet das, wenn du fast nichts kaufen kannst, musst du ständig im Austausch mit deinen Mitmenschen stehen. Solch eine anhaltende Krisensituation schweißt natürlich zusammen. Eine Gesellschaft, in der man sich tolerant und auf Augenhöhe begegnen und im Zweifelsfall zumindest noch vernünftig miteinander handeln kann, hat für viele also einen hohen Stellenwert.

Der Aspekt der Staatskritik ist noch einleuchtender, bedenkt man, in welchem Ausmaß der sogenannte Staatssicherheitsdienst, kurz StaSi, die Menschen in der DDR überwachen und kontrollieren ließ. Wer so etwas einmal in einem Staat erlebt hat, der bleibt immer skeptisch – Systemwechsel hin oder her. Und während einige Menschen damals gezwungenermaßen (oder sogar freiwillig) die StaSi unterstützten, muss man der breiten Masse zugutehalten, dass sie sich nicht einfach aus Angst ihren Mund verbieten ließ. Schon ein offenes Gespräch im Kreis der Familie war ein Akt des Mutes, vielmehr noch ein aneckender Kommentar in der Schule oder bei den Kollegen im Betrieb. Meinungsfreiheit ist ein Gut, dass sich die Menschen in der DDR bestmöglich zu bewahren versuchten und schließlich in Gänze hart erkämpften.

Umso schlimmer ist besonders rückblickend der Umgang mit Impfgegnern, Querdenkern oder auch Demonstranten in Ostdeutschland. Das öffentliche Anzweifeln der Berechtigung eines bedeutsamen Grundrechts wie Körperautonomie während der Pandemie und die darauffolgende Diffamierung von Menschen, die an diesem Grundrecht festhalten wollten, hat bei einigen ehemaligen DDR-Bürgern tiefe Wunden wieder aufgerissen. Doch aus ostdeutscher Perspektive ist das wirklich Traurige an der Situation, dass ein großer Teil der Bevölkerung die Politik nicht hinterfragte, Anflüge einer Zwei-Klassen-Gesellschaft auftraten und der Gemeinschaftssinn über die Differenzen hinweg in Vergessenheit geriet. Ist es nach all diesen Geschehnissen noch eine Dreistigkeit zu behaupten, Liberale könnten in Bezug auf Staatskritik etwas von Ostdeutschen lernen?

Doch da sollte unser Lernprozess nicht Halt machen. Es liegt ganz besonders an uns Liberalen, den Menschen in Ostdeutschland ein Gegenangebot zur AfD zu bieten. Zwischen wachsendem Extremismus auf der einen und niedriger Wahlbeteiligung auf der anderen Seite, ist das Einzige, was die neuen Bundesländer radikal nach vorn kapitulieren kann, ein starker politischer Liberalismus. Das freiheitliche Mindset der Menschen ist vorhanden, das Wählerpotential also auch. Doch wir müssen ihnen das Gefühl geben, gehört zu werden. Und nach den schwierigen Jahren der Pandemie müssen wir authentisch zu unseren Werten stehen und auf Augenhöhe kommunizieren.

Heute haben alle ihre Erdbeeren und ihre Bananen, aber trotzdem ist klar: Der Osten war Verlierer. Wahrscheinlich kommt auch daher eine gewisse Bodenständigkeit im Charakter der Menschen, die nicht in den Westen gezogen sind. Nachdem im Trubel der Massen die Mauer gefallen war, legte sich der Staub langsam und was zum Vorschein kam, war Nichts, mit dem man prahlen konnte. Nichts, was an den Tisch der Verhandlungen gebracht werden konnte. Das Land war heruntergewirtschaftet und sollte sich auch 30 Jahre später noch nicht vollständig erholt haben.

Was den ehemaligen DDR-Bürgern bleibt, sind Erfahrungen und was sie uns als neuer Generation mitgeben können, sind ihre Erkenntnisse. Und sie können manchmal ein Vorbild sein, denn nicht selten verkörpern sie Eigenschaften, die den Liberalismus ausmachen.

Wenn wir Deutschland vereinen wollen, brauchen wir Verständnis füreinander, auf beiden Seiten. Ich plädiere für weniger Glorifizierung der „guten, alten Zeit“ und weniger Verharmlosung der Diktatur, die die DDR war. Aber ich plädiere auch für mehr Differenzierung in der Betrachtung jener Menschen, die in dieser Diktatur gelebt und sie schlussendlich zu Fall gebracht haben: Sie haben das Maximum an Freiheit aus dem Sozialismus rausgeholt – sie sind für ihre Freiheit sogar auf die Straße gegangen als mit Waffen auf sie gezielt wurde. Ihnen ihre Assoziationen mit der DDR klein zu reden und ihnen ihre ostdeutsch geprägten Wesenszüge in ein schlechtes Licht zu rücken, wirkt arrogant. Und Arroganz mögen die Ostdeutschen nicht. Genauso wie sie es nicht mögen, wenn der Staat ihnen vorschreibt, welche Symbole sie benutzen dürfen und welche nicht.

Photo: Wikimedia Commons (CC 0)

Von Nikolai Ott, Co-Founder keepitliberal.de und Student der Internationalen Beziehungen in Dresden.

Friedrichstraße hier, Friedrichstraße dort – man kann den Abschluss des Berliner Wahlkampfes allein schon deswegen begrüßen, weil man in deutschen Medien nicht mehr von dieser sonst ziemlich unbekannten Lokalstraße belästigt wird. Vier Wochen hatten Berliner Politiker und Politikerinnen scheinbar nichts Besseres zu tun, als ihren Wahlkampf auf die Zukunft einer Straße zu fokussieren. Zwischen der symbolischen Umfunktionierung in eine dysfunktionale Flaniermeile und der demonstrativen Verteidigung des Automobils wurde in dieser Peinlichkeit von Wahlkampf eines deutlich:

Wir haben ein Stadtproblem. Deutschland hat ein parteiübergreifendes Großstadtproblem, weil jede Partei auf die Frage “wie wollen wir leben?” nur die Antwort “Kleinstadt” zu kennen scheint. Geht es nach deutschen Parteien, hat niemand das Konzept Großstadt nur im Ansatz verstanden. Mit Auto-Provinzialismus auf der einen und dem vor die Haustür verlagerten Schweden-Urlaub auf der anderen Seite, manifestiert sich im deutschen Stadt-Verständnis eine in die Größe projizierte Kleinstadt ohne Ambitionen.

“Die große Stadt hat nicht Zeit zum Denken, und was noch schlimmer ist, sie hat auch nicht Zeit zum Glück.” Nicht erst seit Theodor Fontane ist das deutsche Stadtproblem strukturell. In der deutsch-romantischen Verehrung des Natürlichen findet die Großstadt als Verkörperung der Moderne schon seit Jahrhunderten nur einen Platz als Drohkulisse. So kontrastiert Goethe in seinem Die Leiden des jungen Werthers die “unaussprechliche Schönheit der Natur” mit der “unangenehmen Stadt”. Und während Fontane seine Effi Briest in der hinterpommerschen Kleinstadt verdorren lässt, darf im französischsprachigen Pendant Gustave Flauberts Emma von dem Ausblick auf die Großstadt träumen.

“Sie wollte sterben, aber sie wollte auch in Paris leben”, heißt es in Madame Bovary. Und nicht nur bei Flaubert; im französischen Realismus strebt alles vom Kleinen ins Große, aus dem begrenzten Dorfleben in das wilde Durcheinander der Metropole. Kaum eine Liebesaffäre endet nicht in Paris. Während in Deutschland die Natur besungen wird, spielt das französische Leben des 19. Jahrhunderts im verworrenen Alltag der Pariser Großstadt. Es ist die Stunde der Expansion. Die Stunde der auf der Suche nach Liebe, Arbeit und Vergnügen in die Städte strömenden Massen der Industrialisierung. Viele deutsche Intellektuellen folgten dem Ruf der französischen Weltmetropole, um den Alltag der deutschen Kleinstadt-Tristesse zu entfliehen.

Und so sollte es nicht überraschen, dass Walter Benjamins Passagen-Werk in Paris entstand. Deutschland hätte eine solche magische Stadt mit ihren Warenhäusern, Passagen und Panoramen im Keim erstickt. In der Gegenwart der Städte, so Benjamin, reflektiert sich immer auch die Zukunft eines Landes. Nicht ohne Grund schreibt er, in Anlehnung an den französischen Historiker Jules Michelet, dass jede Epoche die nächste erträume. In den Straßen, Fassaden und Gassen einer Stadt kommt es zur seltenen Vereinigung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Was also sagt es über Deutschland aus, wenn unsere Parteien ausnahmslos ein kleingeistig-provinzielles Stadtbild vertreten? Dabei enttäuschen insbesondere genau die Parteien, die sich eigentlich dem Fortschritt verschrieben haben.

Nehmen wir die Liberalen, die schon wöchentlich durch zweieinhalb halb-lustige Tweets über Berlin ihre Provinzialität zur Schau stellen. Liberale, die Verkehrsrevisionen aus der tiefsten schwäbischen Provinz vertreten, und damit nicht einmal die zugewanderten Schwaben überzeugen. Es ist die urbane Widersprüchlichkeit der Liberalen, bei Wohnungsbaupolitik genau die richtigen marktbasierten Ansätze zu vertreten, um gleichzeitig einen befremdlichen Parkplatz-Sozialismus zu verteidigen. Im Fuhrpark-Mindset wird günstiges Parken zum Menschenrecht und jeder Wunsch nach weniger innerstädtischen Verkehr zum Angriff auf den “einfachen” Menschen.

Während Liberale und Konservative von ihren Provinz-Sesseln aus über die Hauptstadt spotten, träumt man in grünen Großstadt-Blasen davon, die Heimatmetropole zur Kleinstadt umzubauen; zur Provinzschönheit, um den Schweden-Urlaub gleich vor die Haustür zu verlagern. Bullerbü im Prenzl’berg. In der Stadt der akuten Wohnungsnot, erlaubt sich eine privilegierte Mittelschicht, den Bau neuer Wohnungen konsequent zu blockieren. Es sind die gleichen Grünen, die zwar fleißig jede Enteignungsinitiative unterschreiben, aber beim Ausblick auf mehr, höhere und bessere Wohnungen plötzlich den Status Quo zelebrieren. Da wird laut *Gentrifizierung* geschrien, weil die überwiegend zugewanderten Berliner keine Lust auf weitere Zuwanderung haben.

In der grünen Verkehrspolitik wird die liberal-konservative Hubraum-Provinzialität richtigerweise angeprangert, nur um darauf mit kleinstädtischer Entschleunigung zu antworten. Weniger Parkplätze und ein paar weniger Straßen klingt gut, aber was kommt dann? Meist nichts Besseres. Lieber baut man die Friedrichstraße in eine Flaniermeile um, auf der freilich niemand freiwillig flanieren möchte, als die freigewordenen Flächen für Wohnungen, Geschäfte und Cafés zu öffnen. Man schafft handtuchgroße Grünflächen, die mit der knappen Fläche noch schlechter umgehen als die Parkplätze; und Straßenbemalungen, die an das Chaos nach Kindergeburtstagen erinnern; und Öko-Klos, die nach einer Woche nicht mehr funktionieren, dafür aber mehr als 50.000 Euro gekostet haben. Einer Großstadt ist das alles nicht würdig.

Und hier sind wir wieder am Ausgangspunkt: Keine Partei hat die Großstadt verstanden. Die deutsche Provinz-Verehrung zieht sich von der Romantik in die Gegenwart. Dass sich die angesagteste deutsche Indie-Band dieser Tage “Provinz” nennt und in ihrem bekanntesten Song verkündet “Ich will nicht in die Großstadt (…) ich habe Angst mich zu verlieren” ist symptomatisch für den neoromantischen Ruf des Provinziellen. Und selbst der Rap, dessen Ursprünge in den urbanen Zentren Amerikas liegen, knüpft in Deutschland nahtlos bei Goethe oder Fontane an, wenn er den Rentneralltag im schwäbischen Bietigheim-Bissingen bejubelt – der Heimat des Rappers Rin, wo wohl Songzeilen wie “Komm und treff mich in der Kleinstadt” entstanden sind. Während Rin sein neuestes Album “Kleinstadt” nennt, darin aber durchaus unprovinzielle Songs veröffentlicht, reden deutsche Politiker pathetisch über Großstädte, zielen aber eigentlich auf deren Provinzialisierung ab.

Zurück zu Walter Benjamin: In der Architektur einer Stadt spiegeln sich auch immer die Träume und Hoffnungen einer Gesellschaft. Wo in anderen Teilen der Welt die Moderne als Chance begriffen wird und die Stadt zum Ausdruck der Zukunft wird, überwiegt in Deutschland der Abwehrreflex gegen die ausufernde Moderne. Wo hierzulande Entschleunigung im Sinne Goethes grassiert, ist in Städten wie Tokio oder Seoul Expansion der schwungvolle Takt der modernen Stadt. Hochhäuser, ambitionierte Architektur und ein stets pünktlicher ÖPNV – in Deutschland gilt es mehr als ein Jahrzehnt aufzuholen.

Photo: Marcus Hansson from Flickr (CC BY 2.0)

Man kann die Uhr danach stellen: alle paar Monate fordert ein Verband, eine Unternehmerin oder ein Journalist mehr oder besseren Wirtschaftsunterricht. Womöglich liegt der Schlüssel zu ökonomischer Alphabetisierung aber gar nicht im Unterricht.

Vorsicht Falle: wenn Wirtschaftsunterricht gekapert wird

Der Wunsch ist verständlich. Bei Wahlen oder anderen Meinungserhebungen offenbaren viele Bürger, die in der Rundum-Sorglos-Stabilität der Bundesrepublik ihrer Wege ziehen, eine bemerkenswerte Unbelecktheit im Blick auf ökonomische Zusammenhänge. Höhere Renten, niedrigere Mieten, bessere Lohnabschlüsse, günstigere Waren und Dienstleistungen – die Schlaraffenwünsche lassen sich von stimmhungrigen Politikern beliebig hervorzaubern. Und viel zu selten schreit mal jemand auf: „Wer soll denn das bezahlen?“ Da wünscht man sich doch, den Leuten wäre „Wirtschaft“ schon vor Jahrzehnten eingebimst worden wie binomische Formeln und Rechtschreibregeln. Oben drauf kommt noch das Problem mit dem Wirtschaften im eigenen Haushalt: die einen verschulden sich schon im jüngsten Alter über alle verfügbaren Ohren und die anderen legen ihr Geld lieber unter die Matratze des Bausparvertrags, anstatt auf den Märkten echte Renditen zu erwirtschaften.

Ist nicht die Schule gefragt, hier zu einem Werkzeug der Aufklärung zu werden? Wenn schon die ganzen Öko-, Bio- und Veggie-Verbände die Bildungsinfrastruktur nutzen, um ihre Vorstellungen von gesunder und verantwortlicher Ernährung zu verbreiten: Warum sollten das nicht auch diejenigen tun, die an gesundem und verantwortlichem Wirtschaften interessiert sind? Ein entscheidender Faktor wird an dieser Stelle jedoch gerne ausgeblendet: Es ist alles andere als ausgemacht, dass in Lehrbüchern und Unterrichtsstunden die Anlagestrategien und politökonomischen Kausalketten gelehrt werden, die man selber für die besten und schlüssigsten hält. Die Wahrscheinlichkeit ist vielmehr recht hoch, dass es zumindest eine gewisse Schlagseite in Lehre und Unterricht geben wird. Und die schlägt nicht aus in Richtung Marktwirtschaft. Im Zweifel bedeutet dann mehr Wirtschaftsunterricht auch, dass die Schülerinnen noch intensiver marktkritischen Narrativen ausgesetzt werden. „Herr, die Not ist groß! Die ich rief, die Geister
werd ich nun nicht los.“

Persönlichkeit statt Curriculum

Vielleicht ist erst einmal eine Problembeschreibung an der Reihe: Haben wir wirklich ein Wissensproblem, dem man mit den üblichen didaktischen Mitteln begegnen muss und kann? Oder ist womöglich vieles von dem, was ein Fach Wirtschaft vermitteln würde, schneller, kompetenter und aktueller abzufragen über Google, ChatGPT oder Youtube? Um mit Steuererklärung, Kaufverträgen und Aktiendepots klarzukommen, muss man vielleicht nicht viele Schulstunden mit antiquierten Lehrmaterialien zubringen. Aber das Faktum, dass so etwas überhaupt von Schülern, Eltern und Öffentlichkeit gefordert wird, gibt schon einen Hinweis auf den Bereich, in dem wirklich etwas geändert werden muss. Der Sinn von Schule sollte es ja nun wahrlich nicht sein, den jungen Menschen fein vorbereitete Häppchen zu servieren, sie mit fertigen Schubladen auszustatten und ihnen das Gefühl zu vermitteln, dass schon immer jemand da sein wird, der ihnen erklärt, wie es geht und wohin es geht. Der Sinn von Schule ist es, Leute bei ihren ersten Schritten ins Leben zu helfen, mündige, selbständige und verantwortliche Persönlichkeiten zu werden. In diesem Sinne möchte man gerade denjenigen, die sich mehr Verständnis für Marktwirtschaft wünschen, zurufen: setzt auf Persönlichkeitsbildung statt auf Schulfächer!

Eine fundamentale Voraussetzung sowohl für die erfolgreiche Marktteilnehmerin als auch für den Bürger in einer freiheitlich-demokratischen Republik ist das Verantwortungsgefühl. Also das Bewusstsein, dass es auf einen selber ankommt; dass man sich ernsthaft mit etwas beschäftigen sollte, weil man auch selber die Konsequenzen einer Einschätzung und Entscheidung tragen muss. Schule soll kein Spielverderber sein und auch nicht den jugendlichen Idealismus austreiben, den wir dringend brauchen können. Aber Schule sollte schon dazu beitragen, dass man die Ernsthaftigkeit des Lebens besser versteht. Zugleich können begabte Lehrer einem auch Augen und Herz dafür öffnen, wie beglückend es sein kann, eine Aufgabe in Eigenverantwortung zu erfüllen; wie es dem eigenen Leben Wert, Sinn und Perspektive gibt.

Der Markt als Chance zur Selbstentfaltung statt als Bedrohung

Eine weitere entscheidende Eigenschaft, die beim Heranwachsen entwickelt werden sollte, um das Leben gut zu meistern, und genauso, um sich im Marktgeschehen gut bewegen zu können, ist kritische Wachsamkeit. Also ein Verständnis dafür, dass man selbst und andere immer wieder Fehler machen kann. Bei allem grundsätzlichen Wohlwollen, das man der Welt entgegenbringen darf, sollte einem nicht entgehen, dass auch beste Absichten keine Garantie für ein gutes Ergebnis sind. Schließlich ist ein Schlüsselelement auf dem Weg der Charakterbildung die Einsicht, dass Wünsche nicht immer sofort erfüllt werden können; dass man warten, auf etwas hinarbeiten, sparen, beharren und auch immer mal wieder Enttäuschungen hinnehmen muss. Viele der eklatanten ökonomischen und politischen Fehlentscheidungen, die Menschen treffen, hängen damit zusammen, dass ihnen Geduld fehlt. Unsere Freude an der Aussicht auf den schnellen Vorteil machen sich sowohl Politiker als auch Geschäftsleute hemmungslos zunutze. Menschen mit ausgeprägter Frustrationstoleranz werden sehr viel wahrscheinlicher eine überdachte und abgewogene Entscheidung treffen.

Wenn wir unsere marktwirtschaftliche Ordnung erhalten und womöglich sogar noch ausweiten wollen, sollten wir uns weniger darauf konzentrieren, welche Informationen in Schülerinnen hineingepumpt werden. Viel wichtiger sollte uns sein, welche Persönlichkeitsmerkmale ihnen mit auf den Weg gegeben werden in ihrer Ausbildung. Denn der sanfte Autoritarismus unseres Fürsorgestaates dringt weit in die Schulen (und Elternhäuser) vor. Junge Menschen, die unkritisch alles aufnehmen, was ihnen „im Leben helfen wird“; die erleichtert sind, wenn ihnen Entscheidungen abgenommen werden vom Essensplan bis zur Berufswahl; die in der unerschütterlichen Erwartung leben, dass jemand ihre Wäsche wäscht und sie die neue X-Box kurz nach dem Erscheinen in ihren Händen halten … Solche jungen Menschen werden sich dem samtpfotigen Überstaat mit Freude an den Hals werfen. Die „eiskalte Logik des Marktes“ und die „zerstörerische Kraft des Wettbewerbs“ müssen auf sie wahrlich erschreckend wirken. Und darum müssen wir vor allem darauf achten, ihnen beizubringen, wie wunderschön und beglückend es ist, wenn man nach Mühen und Anstrengungen selbst etwas erreicht. Diese Erfahrung wird sie zu verantwortlicheren und zufriedeneren Menschen machen.

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Nach 15 Jahren erleben wir womöglich die nächste große Finanzkrise. SVB, Credit Suisse und Zentralbanken versprühen starke 2008er Vibes. Was hat es damit auf sich?

Zwei der drei größten US-Bankenpleiten an einem Wochenende

Innerhalb der letzten zwei Wochen sind drei amerikanische Banken kollabiert. Und was für welche! Die Pleite der „Silicon Valley Bank“ (SVB) war die zweitgrößte in der Geschichte der USA, diejenige der „Signature Bank“ die drittgrößte. Beide wurden ausgelöst durch einen „Bank Run“. Also einen kurzfristigen Ansturm vieler Kunden, die gleichzeitig ihre Einlagen abheben wollen. Ausgelöst wurde der Bank Run durch Gerüchte über mangelnde Liquidität und hohe Verluste der Banken. Das besondere an der SVB war dabei, dass sie der Hauptfinanzier für die amerikanische Venture-Capital Szene war. Tausende Start-Ups wie „Roku“ oder „Circle“, der Herausgeber des daraufhin auch in Turbulenzen geratenen Stablecoins „USDCS“, waren betroffen. In der Folge taumelten die Finanz- und Kryptomärkte und ein größerer Bankenkollaps war zu befürchten. Die FDIC (das amerikanische Äquivalent zum Einlagensicherungsfond), die Zentralbank (FED) und das Finanzministerium reagierten deshalb mit weitreichenden Maßnahmen. Sie garantierten die umgehende Auszahlung aller Einlagen bei jeglichen zahlungsunfähigen Banken, also auch jene über der Einlagensicherungsgrenze von 250.000 US-Dollar, und stellten allen weiteren in den USA tätigen Banken umfassende Kreditvereinfachungen zu Verfügung. All das erinnert stark an die letzte große Finanzkrise. Zurecht?

Das Mindestreserve-System: bis alle an ihr Geld wollen

In den USA gibt es mehr als 4000 Geschäftsbanken. Gleichzeitig kontrollieren nach Jahrzehnten der Konsolidierung die 5 größten unter ihnen knapp 50% aller Einlagen. Das bedeutet der Markt ist extrem ungleich verteilt. Einer kleinen Gruppe Giganten (wie die Citibank oder JP Morgen Chase) stehen unzählige kleine Regional- und Spezialbanken gegenüber. Viele von diesen standen nach der SVB-Pleite selbst am Abgrund, da ihnen am wenigsten zugetraut wurde, über genügend Liquidität zu verfügen, um einem Bank Run standzuhalten. Wie konnte es dazu kommen?

Das globale Bankensystem operiert auf Basis eines Mindestreserve-Systems. Das bedeutet, dass Banken immer einen gewissen Teil der Einlagen ihrer Kunden für Auszahlungen vorhalten müssen. Den Rest können sie, unter strengen Auflagen, nutzen, um durch Kredite oder Anlagen Geld zu verdienen. Dadurch können Geschäftsbanken selbst neues Giralgeld schöpfen, da das „gleiche“ Geld nun als Einlage des einen Kunden und Kredit des anderen Kunden doppelt existiert. Das Mindestreserve-System kann allerdings nur so lange funktionieren, wie die Kunden nicht gleichzeitig versuchen, ihre Einlagen abzuheben. Dann kommt es wie bei der SVB zu einem Bank Run. Technisch gesehen, verfügte die SVB über ausreichend Vermögenswerte, um alle ihre Kunden auszuzahlen. Tatsächlich jedoch waren die Reserven der Bank weit weniger wert als in den Bilanzen aufgeführt.

Zinserhöhungen führen zu einem Wertverfall langfristiger Staatsanleihen

Nach der Finanzkrise 2008 waren sich die Staaten einig, dass Banken umfangreichere und vor allem qualitativ hochwertigere Reserven bereithalten müssten. Die strikteren Regeln, besser bekannt als „Basel III“, führten dazu, dass amerikanische Banken massenhaft US-Staatsanleihen kauften (ein schöner Nebeneffekt für die chronisch überschuldeten USA). Da diese aber in der langen Nullzinsperiode kaum Erträge abwarfen, gingen viele Banken Laufzeiten von bis 10 Jahren ein, die ob ihrer Länge zumindest mit mehr als 1% verzinst wurden. Das ging so lange gut, wie die Zinsen niedrig blieben. Warum? Zwar haben Staatsanleihen ein festgelegtes Auszahldatum, an dem der ausgebende Staat den ursprünglichen Betrag plus Zins zurückzahlt. Währenddessen werden die Anleihen allerdings auch auf dem Kapitalmarkt gehandelt. Und in dem Moment, in dem die FED innerhalb eines Jahres den Leitzinssatz von 0 auf 4,75 Prozent erhöhte, verloren die Niedrigzinsanleihen von SVB und Co. massiv an Wert. Denn wer kauft schon einer Bank eine Anleihe ab, die noch 8 Jahre läuft und mit nur 1,25 Prozent verzinst ist, wenn gleichzeitig neue 2-jährige Staatsanleihen mit 5%-Verzinsung ausgegeben werden. Als die SVB also verzweifelt versuchte, ihre Reserven zu Geld zu machen, musste sie massive Verluste einstecken.

Doch warum fiel das erst jetzt auf? Schließlich saß der Chef der Fed, Jerome „Jay“ Powell, noch vor 10 Tagen vor dem Kongress und verkündete, die amerikanischen Banken seien robust und gesund. Hierbei handelt es sich um klares Regulierungsversagen. Denn die Aufsichtsbehörden gestatteten den Banken, Staatsanleihen mit ihrem Nennwert zu bilanzieren. Also dem Wert, den die Banken am Ende der Laufzeit vom Staat zurückerhalten würde. Eine groteske Regel in einem ansonsten überregulierten Sektor, sollten doch gerade die Staatsanleihen für mehr Sicherheit sorgen. Stattdessen konnten Banken die mit jeder Zinserhöhung größer werdenden Lücken in ihrer Bilanz verstecken – immer in der Hoffnung, dass vor Auslaufen der Anleihen Ende der 2020er Jahr niemals viele Kunden gleichzeitig an ihr Geld wollen. In der Folge entstanden viele kleine Zombie-Banken, die nur auf dem Papier über die Einlagen ihrer Kunden verfügten.

Weder Staat noch Banken sind allein verantwortlich

Wer aber trägt die Schuld an der Misere? Die Zombie-Banken sind das Produkt einer katastrophalen Zinspolitik, gepaart mit verantwortungslosem und kurzsichtigem Geschäftsgebaren und Regulierungsversagen. Geschäftsbanken und Zentralbanken haben gemeinsam erheblich zu der Misere beigetragen. Die betroffenen Banken sind mit dem Kauf von langfristigen Staatsanleihen kurz vor einer für viele absehbaren Zinswende ein viel zu großes Risiko eingegangen. Insbesondere weil sie sich nicht adäquat gegen höhere Zinsen versicherten – schließlich verkaufte die SVB noch vor Kurzem in großem Umfang Papiere, die sie gegen die nun eingetreten Verluste abgesichert hätten.

Die Zentralbanken wiederum haben in den letzten Jahren ein aberwitziges Marktumfeld geschaffen. Erst wurden im Zuge des Covid-Crashs die Märkte mit einer nie dagewesenen Menge an Geld überflutet. Nur um kurze Zeit später im Kampf gegen die aus der Geldflut resultierenden Inflation die Leitzinsen in einem nie dagewesenen Tempo zu erhöhen. Pures Gift für das langfristig angelegte Bankenwesen. Und nun stehen die Zentralbanken vor einer diabolischen Zwickmühle: Entweder sie entziehen den Märkten weiter Liquidität und stürzen damit etliche Zombie-Banken in den Ruin oder sie öffnen abermals die Geldschleusen und hoffen, dass sich das Problem Inflation irgendwie von allein erledigt.

Wasser marsch!

Die Reaktionen von FED und Staat deuten auf zweiteres hin. Aus Angst vor einer Kettenreaktion kommt es wie 2008 abermals zu einem „bail out“ – zur Rettung der Zombie-Banken. Dabei muss man dem Staat eines zugutehalten: Die Anleger der bereits insolventen Banken gehen leer aus. Lediglich die Einleger erhalten ihre Gelder vollumfänglich zurück. Für alle anderen, die das Glück hatten, nicht als erste Pleite zu gehen gilt hingegen: Wasser marsch! So gestattet die FED allen Banken, sich für ein Jahr bei ihr gebührenfrei, zinslos und zum Nennwert (!) von als Sicherheit zu hinterlegenden Staatsanleihen frisches Geld zu leihen. Das Institut J.P. Morgan schätzt, dass das einer Kapitalspritze von bis zu 2 Billionen Dollar entsprechen könnte. Damit werden genau jene Banken und deren Anleger aus der Klemme befreit, die kein Geld in die Hand genommen haben, um sich gegen Zinsrisiken abzusichern. Ein klassischer Bail Out, und wieder mal kein großer Anreiz, in Zukunft risikobewusster zu agieren. Gleichzeitig, und das ist die eigentliche Revolution, garantiert das Triumvirat aus FED, Finanzministerium und Einlagensicherungsfonds alle (!) Einlagen bei allen Banken, also auch jene über dem eigentlichen Grenzwert von 250.000 Dollar.

Was das für Folgen hat, ist kaum abzusehen. Klar ist: die Marktpreise für Staatsanleihen werden sich stabilisieren und die Zombie-Banken haben erstmal ein Jahr Ruhe. US-Bankkonten werden im Grunde zu liquiden US-Staatsanleihen. Solange der Staat und die Zentralbank irgendwie solvent bleiben, können Kunden von US-Banken keine Einlagen mehr verlieren. Marktgetriebene Innovation oder gar der Versuch alternativer Banken-Modelle bleiben derweil dem als Kasino verpönten Krypto-Sektor überlassen. Welch Ironie angesichts von Zombie-Banken wie der SVB oder der ebenso schwer taumelnden Credit Suisse, und der Billionen, die für ihre Rettung aufgebracht werden müssen.

Irgendwie bleibt das ungute Gefühl, dass dieser Zombie-Film kein gutes Ende nehmen wird.